Berliner Debatte Initial 5 16. Jg. 2005 Partei braucht Gewerkschaft braucht Partei ? Sozialdemokratie und Schroeder Gewerkschaften Arlt Dissens als Desaster Gewerkschaften und della Porta Globalisierungskritik Philipps „Weg mit Hartz IV“ elektronische Sonderausgabe Druckversion: ISBN 3-936382-42-5 Dritte dürfen die Datei weitergeben, aber nicht verkaufen. zertifiziert: www.berlinerdebatte.de Kritischer Journalismus Prantl Berliner Debatte Initial 16 (2005) 5 1 Partei braucht Gewerkschaft braucht Partei? – Zusammengestellt von Scott Gissendanner und Stephan Klecha – Editorial 2 SCHWERPUNKT Partei braucht Gewerkschaft braucht Partei? Heribert Prantl Kritischer Journalismus. Laudatio zur Verleihung des Otto Brenner Preises „Gründliche Recherchen statt bestellter Wahrheiten“ OSTDEUTSCHLAND Ulrich Busch Preise und Einkommen in Ostdeutschland 73 Axel Philipps „Weg mit Hartz IV!“ Die Montagsdemonstrationen in Leipzig zwischen 30. August und 4. Oktober 2004 93 REZENSIONEN UND BESPRECHUNGEN Herfried Münkler: Imperien. Die Logik der Weltherrschaft – vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten Rezensiert von Guido O. Kirner 105 Julia Inthorn u.a. (Hg.): Zivilgesellschaft auf dem Prüfstand. Argumente – Modelle – Anwendungsfelder Rezensiert von Grischa Schwiegk 109 Wolfgang Schroeder Sozialdemokratie und Gewerkschaften 12 Hans-Jürgen Arlt Dissens als Desaster. Zur Kommunikation zwischen SPD und Gewerkschaften 5 22 Martin Behrens Mitgliederrekrutierung und institutionelle Grundlagen der Gewerkschaften 30 Klaus Boehnke, Dirk Baier, Daniel Fuß, Mandy Boehnke „Wir sind die junge Garde ...“ 38 Interview mit Sieghard Bender „Kein Wiedervereinigungsgeschwafel“ 46 Donatella della Porta Gewerkschaften als Teil der globalisierungskritischen Bewegung und die Europäisierung politischen Handelns 53 2 Berliner Debatte Initial 16 (2005) 5 Editorial Parteien und Gewerkschaften bilden die vermutlich bedeutendsten Großorganisationen im politischen System der Bundesrepublik Deutschland. Ihre jeweilige Unabhängigkeit voneinander und gleichzeitige Kooperationsbereitschaft miteinander schuf eine flexible neokorporatistische Ordnung. Gewerkschaften haben zwar direkt personelle Einflüsse gesichert, wie beispielsweise auf die Arbeitsund Sozialgerichtsbarkeit oder einen Teil der Sozialversicherungen. Diese Privilegien waren allerdings dem Primat staatlichen Handelns und damit des Handelns der Parteien und den von ihnen gestellten Regierungen untergeordnet. Auf dieser Grundlage entwickelte sich ein sehr enges Kooperationsnetzwerk zwischen den Gewerkschaften und den Parteien, speziell den großen Volksparteien. Obwohl eine makropolitische Steuerung des Kapitalismus darüber hinaus faktisch nicht stattfand, schuf dieses Arrangement Steuerungsmöglichkeiten in Teilbereichen der politischen Ökonomie. Der Schulterschluß der Parteien und Gewerkschaften hatte weit zurückreichende historische Wurzeln. Seit dem Mannheimer Abkommen zwischen Sozialdemokraten und Freien Gewerkschaften 1906 galt die Annahme, daß man prinzipiell die gleichen Interessen verfolge. Dabei sei man aber darauf angewiesen, daß die tariflichen und staatlichen Akteure unabhängig voneinander ihre spezifischen Stärken zum Wohle der Arbeitnehmerschaft einsetzen. Gewerkschaften konnten somit im Rahmen ihrer Tarifpolitik pragmatisch Arbeitsund Sozialstandards entwickeln. Sozialdemokraten und christliche Arbeitnehmerschaft versuchten durch Rahmengesetzgebung diese Politik gesetzlich abzusichern und abzustützen. Die Gewerkschaften konnten es sich leisten, die allgemeine Politik der Sozial- wie der Christdemokraten immer wieder fundamental anzugreifen, während diese umgekehrt Kritik an der Tarifpolitik üben konnten. Jede Seite akzeptierte dabei die jeweilige funktionale Rolle im bundesdeutschen Regierungssystem. Seit einigen Jahren lösen sich die gemeinsamen Interessen, Identitäten und Ressourcen von Gewerkschaften und Parteien auf. Die Gewerkschaften nehmen ihre Rolle als neokorporatistischer Bündnispartner zunehmend weniger wahr. Statt dessen treten die Gewerkschaften einerseits als „normale“ Interessengruppe auf und versuchen andererseits zugleich ihre Rolle als soziale Bewegung zu revitalisieren. Die gegenseitige Rücksichtnahme von Gewerkschaften und Parteien wird von nahezu allen Beteiligten für nicht mehr selbstverständlich gehalten, von einigen Akteuren beider Gruppen sogar als verzichtbar eingestuft. Obwohl die Gewerkschaften selbst klare Positionen gegen die Politik von bisheriger Regierung und Opposition bezogen haben, resultierte hieraus keine neue Stärke. Vielmehr wenden sich die Einschnitte in zentrale Bestandteile der bundesdeutschen Sozialordnung in letzter Konsequenz auch gegen die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften selbst. Anders sind die exemplarisch zu nennenden Veränderungen beim Ladenschluß, die Androhung der Aushöhlung der Tarifautonomie und die Infragestellung der Parität bei den Sozialversicherungen nicht zu beurteilen. Während der institutionelle Rahmen des gewerkschaftlichen Handelns unter Beschuß gerät, droht der SPD das Risiko der politischen Zweitrangigkeit, wie die Landtagswahlen in Bayern, im Saarland, in Thüringen, Sachsen und Nordrhein-Westfalen zeigen. Dabei tritt Editorial das seit den 1980er Jahren viel diskutierte strategische Dilemma von Parteien und Gewerkschaften wieder zutage: Wenn die Großorganisationen in alten Handlungsmustern verharren, verpassen sie die Chance, neue Mitglieder zu gewinnen. Wenn sie beginnen, die „neuen Zeiten“ zu gestalten, geraten sie in Gefahr, ihre Kernanhängerschaft zu verlieren. In der Zwischenzeit sinkt die Mitgliederzahl langsam, aber kontinuierlich. In diesem Heft wird der Versuch unternommen, den heutigen Stand des Verhältnisses zwischen Parteien und Gewerkschaften in seiner Vielseitigkeit zu ergründen und historisch sowie international zu vergleichen. Als Einführung in die Thematik dient Wolfgang Schroeders Rückblick auf fünf Phasen der Beziehung zwischen SPD und Gewerkschaften. Die Periodisierung ergibt sich aus der Regierungsbeteiligung der SPD und aus den jeweils unterschiedlichen Kontexten des sozialstaatlichen Auf- bzw. Abbaus. Die These vom bevorstehenden Bruch zwischen beiden Organisationen läßt sich nach Schroeders Ansicht nicht bestätigen. Für beide gibt es keine strategische Alternative zur Zusammenarbeit. Allerdings werden die alten Kooperationsformen gefährdet und die Realisierung neuer Kooperationsformen durch das Auseinanderscheren der jeweiligen sozialen Basisorganisationen erschwert. Ob Zusammenarbeit künftig gelingt, hängt mehr als je zuvor davon ab, ob die Spitzenmanager der Organisationen „miteinander können“. Der latente und mittlerweile akute Konflikt zwischen SPD und Gewerkschaften hängt wesentlich von deren gemeinsamen Kommunikationsmustern und -räumen ab. Diese Kommunikation, schreibt Hans-Jürgen Arlt, fand traditionell als „Selbstgespräch“ statt. Durch überlappende Mitgliedschaften und ähnliche, gar identische politische Erfahrungen und Weltbilder bei der großen Masse der Mitglieder beider Organisationen gab es eine entsprechend breite Basis an gemeinsamen Symbolen und Deutungsmustern. Die Sinnbilder des antikapitalistischen Protests verbanden die Organisationen und motivierten zum kollektiven Handeln. Mit der Agenda 2010 wird ein ganz neues Sinnbild hervorgerufen: das Bild der alternativlosen Anpassung an einen 3 neuen globalisierten Wirtschaftskontext, wo Arbeitsplätze, nicht Arbeitnehmer geschützt werden sollen. Damit wurde eine Tendenz gestärkt, die mindestens seit Helmut Schmidts angekündigter Sparpolitik der frühen 1980er Jahre begann – daß für die Gewerkschaften die SPD zu einer Partei wie alle anderen wird. Die SPD ist ein Dienstleister und nichts mehr. Jetzt gilt es, Nutzen zu maximieren, nicht Partnerschaft zu honorieren. Ein zentrales Problem von Parteien und Gewerkschaften ist der Mitgliederschwund. Die Zahl der Mitglieder in den DGB-Gewerkschaften ging von 9,8 Mio. im Jahr 1994 auf 7,0 Mio. im Jahr 2004 zurück, ein Rückgang von ca. 30%. Im selben Zeitraum haben CDU und SPD mit 335.500 Mitgliedern ebenfalls ca. 20% ihrer Mitgliedschaft verloren. Trotz dieses Schwunds warnt Martin Behrens in einer vergleichenden Perspektive vor schnellen Rückschlüssen auf die Handlungsfähigkeit der Gewerkschaften. So gibt es innerhalb Europas starke Unterschiede in der politischen Verflechtung, der Strategiefähigkeit und im institutionell abgesicherten Einfluß auf allgemeingültige Arbeitsbedingungen. Behrens’ internationaler Blick ist eine wichtige Korrektur zum deutschen Pessimismus hinsichtlich der Bedeutung von Gewerkschaften in post-industriellen Demokratien. Zugleich zeigt Behrens, daß auch die Rekrutierungspraxis der Gewerkschaften in Deutschland sich ändern könnte, und verweist in diesem Zusammenhang auf die US-amerikanischen Gewerkschaften. Beim Problem der Rekrutierung setzt das Forschungsteam um Klaus Boehnke an. Ihr Aufsatz beschäftigt sich mit den Faktoren politische Bildung, gesellschaftlicher Strukturwandel und Entwicklungspsychologie und zeigt, wie sich diese auf die Bereitschaft von Jugendlichen auswirken, sich in einer Großorganisation zu engagieren. Obwohl es keinen Jugendtrend der aktiven Abneigung gegen linke Parteien oder Gewerkschaften gibt, wirken sich die Dynamiken der „Postmoderne“ insgesamt sehr unvorteilhaft für gesellschaftliche Großorganisationen aus und machen sie für junge Leute zunehmend irrelevant. Die symbolisch wertvolle Rolle der antikapitalistischen Avantgarde haben Gewerkschaften 4 nicht mehr inne: Diese Rolle wurde ihnen von der Anti-Globalisierungsbewegung genommen. Allerdings ist ein Großteil der europäischen Globalisierungsgegner sogar gewerkschaftlich organisiert. Donatella della Porta dokumentiert die Tätigkeit und die Einstellungen von gewerkschaftlich organisierten Aktivisten beim Europäischen Sozialforum in Florenz. Es geht ihr auch um die Frage, ob Gewerkschafter in den Anti-Globalisierungsbewegungen mehrheitlich gegen die europäische Integration sind, die ja immer unter der Fahne des Marktliberalismus vorangetrieben worden ist. In der Tat und trotz des Verlangens nach effektiven GovernanceStrukturen auf europäischer Ebene herrscht bei Gewerkschaftern ein Vertrauensdefizit gegenüber der EU. Während die EU für Anhänger von ökologischen Bewegungen ein willkommener Regulator ökologischer Sünden ist, stellt sie für viele Gewerkschafter vielmehr einen unwillkommenen Agenten der Globalisierung dar. Die internationale Diskussion um das Auseinanderdriften von Sozialdemokratie und Gewerkschaften ignoriert weitestgehend regionale Ökonomien und die darin praktizierte Verflechtung von Betrieben, Betriebsräten, Gewerkschaftsführern und Parteipolitikern. In Industrieregionen wie etwa Baden-Württemberg, wo die wirtschaftliche Prosperität anhält, wird eine starke Kontinuität der alten westdeutschen tripartistischen Gepflogenheiten erwartet, in den Gebieten der ostdeutschen Transformationswirtschaft eine weitgehende Abweichung von diesen Normen. Dies fordert unterschiedliche Handlungslogiken für Gewerkschaften. Um einen Einblick in die verschiedenen regionalen Ökonomien in Deutschland nach der Wende zu gewinnen, haben wir mit Sieghard Bender gesprochen. Bender war von 1990 bis 2005 erster Bevollmächtigter der IG Metall in Chemnitz und ist in derselben Funktion jetzt wieder in seine alte Heimat im schwäbischen Esslingen zurückgekehrt. Partei braucht Gewerkschaft braucht Partei? Quintessenz der Beiträge ist die Feststellung, daß eine gegenseitige Abhängigkeit wohl noch lange Zeit bestehen wird. Aber das Verhältnis der Organisationen zueinander befindet sich mitten in einem Transformationsprozeß mit Berliner Debatte Initial 16 (2005) 5 noch offenem Ende. Parteien wie Gewerkschaften brauchen einander nach wie vor, um ihre jeweiligen Ziele zu erreichen. Die Bindung der beiden Akteure hat aber an Selbstverständlichkeit und kulturellem Halt verloren. Kooperationen werden hergestellt, aber sie haben weniger etwas Urwüchsiges oder Organisches als vielmehr etwas Formalisiertes, Bürokratisches, Technokratisches. Man kooperiert, weil man es irgendwie noch muß, nicht mehr, weil man mit Leidenschaft die Gemeinsamkeit der Sache vertritt. Die Anführer beider Organisationen sind gleichsam Gegenspieler in einem Spiel geworden, das sich durch eine vorher unbekannte Vielfalt an Handlungsoptionen auszeichnet. Es ist nicht ausgeschlossen, daß Gemeinsamkeitsgefühl und common purpose durch Querdenker und Charismatiker wieder geschaffen werden können. Bleibt aber die Entwicklung einer neuen gemeinsamen Kultur aus, werden die Formen des Konflikts und der Kooperation sich auf vielen unterschiedlichen Ebenen weiter ausdifferenzieren – von der Gemeinschaftsebene in Brüssel bis hin zu jedem kleinen Handwerksbetrieb in der deutschen Provinz. Scott Gissendanner Stephan Klecha Mitteilung von Redaktion und Herausgeber Liebe Abonnentinnen und Abonnenten, ab Heft 1 des kommenden Jahrgangs 2006 müssen wir unseren Abopreis aus wirtschaftlichen Gründen geringfügig erhöhen. Das normale Abonnement steigt von 35 auf 37 Euro, das ermäßigte Abonnement von 18 auf 20 Euro. Dies betrifft alle Rechnungen ab 1.1.2006. Der Preis der Einzelhefte beträgt unverändert 10 Euro. Mit freundlichen Grüßen Berliner Debatte Initial Berliner Debatte Initial 16 (2005) 5 93 Axel Philipps „Weg mit Hartz IV!“ Die Montagsdemonstrationen in Leipzig zwischen 30. August und 4. Oktober 2004 Bei meiner ersten Begegnung mit der Montagsdemonstration am 23. August 2004 in Leipzig notierte ich verschiedene Sprüche, Kommentare und Forderungen. Dabei fiel mir die Vielzahl nicht nur der Texte, sondern auch der gestalterischen Mittel auf, die sich hinsichtlich ihrer Form und ihrer Materialität (Stoff, Pappe, Papier etc.) unterschieden. Dieser Sachverhalt ist für einen Vertrauten mit Demonstrationen keine Neuigkeit, aber dadurch entstand nach einiger Zeit auch der Eindruck, daß es möglicherweise eine Verbindung zwischen dem Inhalt der Texte und der Gestalt der Banner und Plakate gibt. Ausgehend von dieser Vermutung und der begrenzten und sich schnell erschöpfenden Aufnahmekapazität einer schriftlichen Beschreibung des Materials kehrte ich an den folgenden Montagen mit einem Fotoapparat zurück. Anhand der Dokumentation des Protestmaterials erfolgte dann eine Untersuchung der Themen und Anliegen der sechs Montagsdemonstrationen zwischen dem 30. August und dem 4. Oktober 2004 in Leipzig. Normalerweise beruhen solche Demonstrationsanalysen auf teilnehmenden Beobachtungen, repräsentativen Umfragen, Experteninterviews oder Medienberichtanalysen. Abbildungen von Bannern und Plakaten illustrieren dabei oft nur anderweitig gewonnene Ergebnisse. Die Beschäftigung mit den visuellen Protestmaterialien versucht diese Vernachlässigung zu vermeiden, da sie einen verdichteten Diskurs der Protestierenden wiedergeben. Das Besondere an diesen Montagsdemonstrationen ist zudem, daß sich daran verschiedene Bevölkerungsgruppen beteiligten. Einerseits fanden sich die organisierten Protestteilnehmer aus Parteien, Organisationen und Initiativen ein, andererseits kamen viele Menschen, die nicht derartig eingebunden waren. Die Vielfalt und Breite der Auffassungen und Ansichten wird schließlich in den visuellen Protestmaterialien anschaulich. Daher werden zuerst zwei typische Protestmaterialien gegenüber gestellt, um anhand der gestalterischen Mittel erste Vermutungen über die Protestteilnehmer zu formulieren. Der zweite Schritt konzentriert sich dann auf ein bestimmtes Thema: aus einer Vielzahl von Themen (Alternativen, antikapitalistische Tendenzen, Drohungen, Ruf nach Arbeit, pro Reform etc.) wird die moralische Regierungskritik herausgegriffen. Anhand der Moralisierung erfährt insbesondere jene Gruppe von unorganisierten und spontanen Teilnehmern Beachtung, die bei der Untersuchung von politisch aktiven und organisierten Demonstranten sonst kaum berücksichtigt wird. Am Verlauf der Demonstrationen ist noch wichtig, daß die meisten Teilnehmer (ca. 30.000 laut „Leipziger Volkszeitung“) am 30. August kamen. Danach nahm die Zahl der Demonstranten stetig ab, so daß sich ab dem 4. Oktober nie mehr als 600 bis 800 Personen (eigene Zählungen) versammelten. Der Schwund läßt sich mit Rink (2004) aus dem Fehlen von über „Hartz IV“ hinausführenden Perspektiven erklären. Unter den Montagsdemonstrationen erfuhren die vom 13. September in Dortmund, Berlin, Magdeburg und Leipzig besondere Aufmerksamkeit. Das Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) und andere hatten die Protestteilnehmer in den vier Städten befragt und 94 gezeigt, daß diese vorwiegend aus dem Osten kommen, männlich sind, im Schnitt zwischen 50 und 55 Jahren alt, im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung ein hohes Bildungsniveau haben und politisch deutlich links orientiert sind. Hinzu kommt, daß ein gutes Drittel aller Befragten angab, in einer politisch oder sozial engagierten Gruppe bzw. Organisation aktiv zu sein (vgl. Rucht/Yang 2004). Das Ergebnis unterliegt möglicherweise einer Verzerrung, da die Teilnahme an der Befragung auf freiwilliger Basis erfolgte. So bleiben beispielsweise die Ansichten der Befragungsverweigerer ungeklärt. Eine Untersuchung der visuellen Protestmaterialien kann die Ergebnisse nicht korrigieren, aber sie kann vielleicht einen Beitrag zum Verständnis der Proteste erbringen. Methode Gegenstand der Analyse sind also nicht die Reden oder Sprechchöre1, sondern die visuellmateriellen Protestformen als Plakate, Banner oder Fahnen, anhand deren sich bereits Haltungen und Sichtweisen der Protestteilnehmer beschreiben lassen. Der Untersuchung liegen dabei insgesamt 166 dokumentierte Materialien vor. Diese unterteilen sich anhand ihrer äußeren Form in 24 Banner, 112 Plakate mit Stange, 17 Plakate ohne Stange, acht Fahnen, drei T-Shirts, zwei Figuren und ein Schirm. Insgesamt entsprechen dem 163 Aufnahmen2. Damit ist der Großteil der verwendeten Materialien erfaßt, die fehlenden wurden einfach übersehen. Außerdem sind nicht jedes Mal alle Plakate und Banner fotografiert worden, sondern nur Neuzugänge. Das Ziel war, ein umfassendes Bild von den Protestmaterialien zu bekommen. Eine reine Auszählung der verwendeten Materialien erfolgte nicht. Letztlich sei angemerkt, daß mit Abnahme der Teilnehmerzahlen auch der Umfang und die Kreativität in der Ausgestaltung der Materialien nachließen. Eine erste Annäherung an die visuellen Protestformen erfolgte über die gestalterischen Merkmale des Protestmaterials. Vor der Analyse typischer Grundmuster wurde eine Auswahl anhand der „Ersteindrucksanalyse“ von Stefan Axel Philipps Müller-Doohm (1997) vorgenommen. Die struktural-hermeneutische Symbolanalyse sieht vor, daß man mit einem Leitfaden eine Gruppierung der Materialien nach „Familienähnlichkeit“ vornimmt. Aufgrund bestimmter Merkmalsunterschiede der Protestmaterialien gegenüber Kunstwerken und Fotografien (z.B. Textdominanz, unterschiedliche Schriftarten statt Pinselführungen) wurde der Leitfaden für die Ersteindrucksanalyse verändert. Im zweiten Schritt folgt die Bildanalyse den Vorgaben von Ralf Bohnsack (2003; 2001a; 2001b). Zuerst wurde eine Deskription (vorikonographische Interpretation) des ausgewählten Protestmaterials erstellt, um die reflektierende bzw. ikonologische Interpretation anzuschließen. Das Vorgehen von Bohnsack (2003; 2001a) grenzt sich in diesem Punkt von der Methode Müller-Doohms (1997) ab. Die dokumentarische Methode der Bildinterpretation von Bohnsack baut hauptsächlich auf der „Ikonik“ von Max Imdahl (1994) auf, die Bohnsack bei Müller-Doohm unberücksichtigt findet. An der „Ikonik“ ist hervorzuheben, daß sie sich von einer an der Textförmigkeit orientierten Sequentialität und Narrativität ablöst und auf die formale Komposition achtet. Damit richtet sich die letzte Phase der Bildinterpretation bei Bohnsack auf die Rekonstruktion der Formalstruktur des Bildes, wohingegen Müller-Doohm aus der Synthese der einzelnen Bedeutungsgehalte eine kulturspezifische gesamtbildliche Interpretation anstrebt: „Die rekonstruierten symbolischen Bedeutungsgehalte werden nun in ihrer symbolischen Kongruenz, d.h. nicht mehr nur Bedeutungshomologie, so synthetisiert, daß sie als Ausdrucksform von kulturellen Sinnmustern erscheinen.“ (MüllerDoohm 1997: 104) Der Rekonstruktion der Formalstruktur des Bildes ist bei der Analyse der Protestmaterialien der Vorzug zu geben, da deren Gestaltung berücksichtigt wird. Das führt letztlich über die Analyse der Textbotschaften hinaus. Nach der Ersteindrucksanalyse wurden für jedes ausgewählte Bild die beiden Analyseschritte (deskriptive und reflektierte Interpretation) zusammen durchgeführt, d.h. für jedes Bild erfolgte eine Beschreibung und eine Rekonstruktion der Bedeutung der Objekte und Gestaltungen. Abschließend wurden die „Weg mit Hartz IV!“ Formalstrukturen der Protestmaterialien verglichen und ihre Besonderheiten besprochen. Auf diesem Weg lassen sich formal zwei Typen von Protestteilnehmern unterscheiden. Um den inhaltlichen Besonderheiten und Eigenarten der Protestmaterialien näherzukommen, wurden die Aussagen auf allen Bannern und Postern einer Frame-Analyse unterzogen (vgl. Benford/Snow 2000; Snow et al. 1986). Die Ausklammerung der Gestalt und die Fokussierung auf den Text ermöglicht es, die Vielfalt und Breite der Themenfelder umfassend zu beschreiben und zu strukturieren. Die Umsetzung erfolgt dabei computerunterstützt (mit MaxQDA). Die Vielfalt der Banner und Plakate Die Merkmalsunterschiede der Protestmaterialien umfassen die Schriftart, die Farbigkeit, unterschiedliche Gestaltungselemente, die Sichtbarkeit und die äußere Form des Materials. Andere Merkmale wie Materialart (Stoff, Papier, Plastik, Styropor, etc.) blieben zumeist unberücksichtigt, da sie anhand der vorliegenden Datenquelle (Fotos) nur unzureichend zu untersuchen sind. Aus den festgestellten Merkmalen der ersten Sichtung wurde ein Übersichtsplan erstellt, um in einer neuen Durchsicht die Merkmalsverteilung einzelner Protestmaterialien festhalten zu können. Dazu wurde eine Synopsis für jedes Bild erstellt, um vergleichend den Ersteindruck zu vertiefen. Anhand der Synopsis konnte ein Überblick des Protestmaterials sowie erste Ergebnisse bereitgestellt werden. Zu den Ergebnissen aus dem Vergleich der Synopsen gehört, daß eine erste Unterteilung zwischen organisierten und unorganisierten, spontanen Teilnehmern auf Hinweise im Protestmaterial beruht (z.B. Namen, Logos und Symbole von Parteien, Organisationen oder Initiativen). Zweitens wählen Organisationen, Parteien und Initiativen mindestens das Format A3. Kleinere Formate finden sich nur bei „spontanen“ Materialien. Drittens ist der aufwendigere maschinelle Druck von Protestmaterialien eher bei organisierten Protestanten zu beobachten als bei unorganisierten. Unge- 95 achtet dessen tragen aber auch organisierte Teilnehmer der Montagsdemonstrationen handgemalte Materialien, wobei diese zumeist gestalterisch gleichmäßig und gleichförmig ausgeführt sind. Gestalterisch weniger durchdachte Protestmaterialien kommen dagegen zumeist bei unorganisierten Protestteilnehmern vor. Es lassen sich in der Machart aber auch akkurate Protestmaterialien zeigen, für deren Vorlagen meist ein PC-Drucker verwendet wurde. Letztlich sind die Themen der Materialien von Organisationen, Parteien und Initiativen übergeordneten Zielstellungen zuzuordnen, d.h. der thematische Bezug zu „Hartz IV“ ist nicht zwingend, er kann auch zu anderen Themen hergestellt werden (z.B. Gott, soziale Gerechtigkeit, Antikapitalismus). Es gibt aber auch Materialien von Parteien wie der PDS und der MLPD, die explizit gegen „Hartz IV“ gerichtet sind und keine weiteren Bezüge herstellen. Bei den unorganisierten Protestteilnehmern sind allgemeine, über „Hartz IV“ hinausweisende Themen äußerst selten. Die genannten Unterscheide sollen an zwei typischen Protestmaterialien veranschaulicht werden. Sie stellen Pole der gestalterischen Mittel dar. Bei dem „handgemalten Plakat“ (Abb. 1) handelt es sich um eine große glatte Fläche in rechteckigem Querformat (größer als A3). Die Grundfarbe ist leuchtend grün. Auf der Oberfläche sind in schwarzer Schrift zehn Wörter und zwei Ausrufezeichen handgeschrieben. Die Wörter verteilen sich auf drei Zeilen. Das erste Wort „POLITIKER“3 ist fetter hervorgehoben und das Wort „NICHT“ in der zweiten Zeile ist in Großbuchstaben. Der Rest der Wörter entspricht der üblichen Schreibweise: Groß am Satzanfang sowie bei Substantiven bzw. Eigennamen. Die erste Zeile verläuft horizontal, wobei die zweite Zeile leicht von unten links nach oben rechts ansteigt und dieser Anstieg in der dritten Zeile verstärkt ist. Auch lassen sich Unförmigkeiten und ungenutzter Raum feststellen. Am rechten Rand kommt es sogar zu einer Stauchung der Wörter und Zeichen (hochgestelltes „T“ in „NICHT“ bzw. eingezwängtes Ausrufzeichen in der zweiten Zeile). In einer Gesamtschau vermitteln die ungleichmäßige Zeilenführung und die handge- 96 Axel Philipps Abb. 1: Handgemaltes Plakat malten Buchstaben einen spontanen, unvorbereiteten Eindruck. Das Plakat ist auch nicht gleichmäßig ausgefüllt, vielmehr drängen sich die Enden der Zeilen am rechten Rand. Die handgefertigte Herstellung spricht auch für ein Einzelstück. Die fette Schreibweise des Wortes „POLITIKER“ stellt heraus, daß jene durch das Plakat angesprochen werden sollen. Im Text ist weiterhin das Wort „NICHT“ durch Großschreibung hervorgehoben, was die Gesamtaussage – die Ablehnung einer Politisierung zu Eigenzwecken der Politiker – unterstreicht. Die Großschreibung des Wortes „NICHT“ verstärkt letztlich den Unwillen der Plakatträgerin. Der „FAU-Banner“ (Abb. 2) wird von drei Stangen gehalten. Auf einer orangefarbenen Stoffbahn sind in schwarzer Druckschrift maschinell 15 Wörter gut lesbar auf vier Zeilen gebracht. Die dritte Zeile ist hervorgehoben durch eine fette Schreibweise und größere Buchstaben als in den anderen Zeilen. Ebenso ist die dritte Zeile auch durch ein Ausrufezeichen abgeschlossen. Die Schrift ist linksbündig, und rechts oben findet sich die Darstellung einer sich aufbäumenden Katze in einem Kreis. Die Darstellung der Katze überschreitet die Grenzen des Kreises. Bei der sich aufbäumenden Katze handelt es sich um das Symbol der FAU (Freie ArbeiterInnen Union), einer anarcho-syndikalistischen Gewerkschaftsförderation. Deren Ansichten werden u.a. in der dritten Zeile hervorgehoben: „Niemand braucht Chefs!“ Die Aussage unterstreicht die sozialutopische Vorstellung von einer Welt ohne „Bosse“ und Staat. Im Kontext der „Hartz IV“-Proteste greift die Forderung über die Ablehnung der Reform hinaus. Die Gestaltung und Verarbeitung des Banners zeigt einen hohen Professionalisie- „Weg mit Hartz IV!“ rungsgrad. Das Transparent wurde maschinell hergestellt, Proportionen und Gestaltung weisen eine überlegte Strukturierung auf. Die Ersteindrucksanalyse, die Beschreibung und die reflektierte Interpretation der Materialien konnten zeigen, daß es erhebliche Unterschiede in Form und Gestaltung gibt. Auffallend sind nicht nur verschiedene Formen (Fahnen, Plakate, Banner u.a.) und unterschiedliche Gestaltungsmittel (Drucktechnik, Handzeichnung, verschiedene Farben), sondern bei näherem Hinsehen auch unterschiedliche Grade der Professionalisierung in der Gestaltung.4 Gemeinsam ist den Protestmaterialien, daß sie Farben oder verstärkende Mittel (Fett- und Großschreibung) verwenden, um die Kernaussagen herauszustellen. Auch die Form des Materials (Banner, Plakat, bedrucktes T-Shirt u.a.) wird allgemein geteilt und genutzt. Selbst bei den verwendeten Materialien (Holz, Stoff, Pappe, etc.) wird von allen Demonstrationsteilnehmern auf Ähnliches zurückgegriffen. Somit scheinen gewisse Formen des Protestmaterials auf einem gemeinsamen, tradierten Wissensbestand zu beruhen. Deutliche Unterschiede bestehen aber in der Gestaltung des Materials. Am anschaulichsten wird der gestalterische Unterschied bei ZeilenAbb. 2: FAU-Banner 97 führung und Schrift. Es gibt Teilnehmer, die gut lesbare und überlegte Materialien herstellen. Das zugrundeliegende Material wird großräumig genutzt; die Zeilen und Buchstaben sind gleichmäßig und gleichförmig. Die Gestaltung ist zum Teil sehr professionell und auf ein größeres Publikum hin angelegt. Oft sind sie aufwendig maschinell produziert und gestalterisch durchdacht (siehe Abb. 2: „FAU-Banner“). Allgemein sind solche Protestmaterialien unter organisierten Demonstrationsteilnehmern aus Parteien, Organisationen oder Initiativen zu finden. Andere nicht-maschinell gefertigte Banner (z.B. der Ortsgruppe von „attac“ oder einer christlichen Gruppierung) können vielleicht darauf zurückgeführt werden, daß der Professionalisierungsgrad und die finanziellen Ressourcen hier geringer sind. Im Gegensatz dazu weisen „spontane“ Protestmaterialien Ungleichmäßigkeiten und Unförmigkeiten bei der Gestaltung aus. Zeilen geraten oft aus der Horizontalen und Buchstaben variieren in Größe, Form und Neigung (siehe „Handgemaltes Plakat“). Darin drückt sich nicht nur die Spontaneität der Aktion, sondern auch der private Charakter des Protestmaterials aus. Materialien mit vergleichbaren gestalterischen Mitteln treten zum Teil auch 98 in kleineren als A3-Formaten auf. Zwar wird so der Protest über das Plakat oder Poster öffentlich geführt, aber wer die privaten Nöte und Forderungen lesen will, muß fast schon in eine „face-to-face“ Interaktion mit der Person treten. Dem öffentlichen Raum werden somit letztlich die Bedingungen des privaten Raumes aufgezwungen. Protestthemen von „Arroganz“ bis „Zwangsarbeit“ Die meisten Sprüche, Reime, Drohungen und Forderungen der Demonstrationsteilnehmer bewegen sich im Rahmen der Anti-„Hartz IV“-Proteste. Der wohl bekannteste negierende Ausspruch dürfte „Weg mit Hartz IV!“ sein. Unter diesem Motto wurden nicht nur viele Veranstaltungen organisiert, es ist wahrscheinlich auch das verbindende Glied vieler visueller Protestmaterialien. Die Plakate, Poster und Banner lassen sich grob in zwei Untergruppen aufteilen. Auf der einen Seite scheint man die Rücknahme der Reform bzw. des Reformpakets (Agenda 2010) zu fordern, auf der anderen Seite wollen die Protestteilnehmer den Rücktritt der Macher (z.B. Gerhard Schröders) erreichen. Immer wieder heißt es: „NIEDER MIT HARTZ IV!“ (Spruch 57, Auszug), „STOPT HARTZ 4!“ (Spruch 79, Auszug), „Weg mit Hartz IV und Agenda 2010“ (Spruch 81) oder „Weg mit Hartz IV/Schröder/Müntefering/Clement“ (Spruch 108, Auszug). Der Aufruf „Weg mit Hartz IV!“ entzündet sich an der Arbeitsmarktreform. Dieses Protestthema steht außerhalb anderer Protesttraditionen der letzten Jahrzehnte (z.B. Frieden, Umwelt, Anti-Atomkraft). Proteste gegen eine Rücknahme staatlicher Sozialleistungen hat es so zuvor kaum und nur vereinzelt gegeben (z.B. von der DGB organisierte Demonstrationen am 3. April 2004 gegen Sozialabbau). Die Protestbereitschaft gegen die Arbeitsmarktreform kam auch erst so richtig auf, als sich ein direktes Betroffensein der Protestteilnehmer abzeichnete. Reicht es, daß Protestteilnehmer zu Antikriegsoder Antiatomkraftdemonstrationen kommen, ohne selbst durch Krieg oder Atomkraftanlagen betroffen zu sein, da sie die Alternative Frieden Axel Philipps oder regenerierbare Energien verbindet, kamen die Menschen gegen „Hartz IV“ erst massenhaft auf die Straße, als eine direkte Auswirkung unausweichlich erschien. Anlaß zum Protest war für einen Großteil der Anti-„Hartz IV“-Teilnehmer nicht eine sozial gerechtere Welt oder eine Sozialutopie, sondern die Wiederherstellung des Status quo. Dieser Eindruck entsteht bei der Betrachtung des Kontextes der Forderung „Weg mit Hartz IV!“ In vielen Fällen wird nur Ablehnung zum Ausdruck gebracht, ohne zugleich Alternativen aufzuzeigen: „»Hartz IV« das ist Armut per Gesetz/ Weg damit!“ (Spruch 37), „Hartz IV nicht mit uns!!!“ (Spruch 45), oder „Weg mit Hartz 4!/ Ich will kein ‚armes Schwein‘ werden!“ (Spruch 100). Unterstützt wird die Notwendigkeit einer Rücknahme der Hartz IV-Gesetze noch durch die Formulierung besonders dramatischer Aussichten wie „DER SCHLEICHENDE TOT HARTZ 4“ (Spruch 82) oder „HARTZ 4, 5, 6 [...] STERBEHILFE??“ (Spruch 93, Auszug). Die düsteren Szenerien machen aus der Arbeitsmarktreform eine existenzielle Bedrohung. Die Dramatisierung der Situation schärft aber auch die Motivation der Betroffenen, an den Protesten teilzunehmen. Das zentrale Thema der Proteste war die Kritik an der Regierung in Zusammenhang mit der Arbeitsmarktreform „Hartz IV“. Es unterteilt sich in drei Hauptkritikpunkte. Der Regierung wird vorgeworfen, daß sie, erstens, sich zu stark an den Interessen der Wirtschaft und der Reichen orientiert, zweitens moralische Verfehlungen begangen hat und drittens den Abbau staatlicher Sozialleistungen vorangetrieben hat. Der Vorwurf einer Begünstigung der Wirtschaft und der Wohlhabenden durch die Regierung drückt sich in verschiedenen Sprüchen aus. So heißt es auf einigen Plakaten und Transparenten: „An die Großen traut man sich NICHT ran. Drum schröpft man flugs den kleinen Mann!“ (Spruch 66), „Die neuen Rahmenbedingungen/ Billiglöhner als Geschenk für die Großen“ (Spruch 84, Auszug), oder „SPD = Shareholder Partei Deutschland“ (Spruch 148), „Schröder = LAKAI der Wirtschaftsbosse“ (Spruch 149, Auszug). Die Sprüche legen nahe, daß es aus Sicht der Protestierenden zwei Lager gibt: die „Großen“ und „Wirtschaftsbosse“ sowie den „Weg mit Hartz IV!“ „kleinen Mann“ bzw. die Bevölkerung. Die Protestierenden werfen der Regierung vor, daß die Politiker (z.B. Gerhard Schröder) nur die Interessen der Wirtschaft verfolgen. Dies hat aus ihrer Sicht zur Folge, daß den Betrieben „immer niedrigere Löhne und Steuern geschenkt werden“ (Spruch 152, Auszug). Andersherum bedeutet es aber auch, daß die Regierung die Interessen der einen Gruppe (Wirtschaft) unterstützt und die der andere („kleiner Mann“) vernachlässigt. Dem letztgenannten Aspekt begegnet man in weiteren Sprüchen, beispielsweise in der Paarung „Reich vs. Arm“. Die Ungleichheit von Armen und Reichen in Deutschland greifen folgende Sprüche auf: „Täglich wandern in Deutschland 980 Mio. € Zinsen von Arm zu Reich!“ (Spruch 64), oder „Die REICHEN werden nächstes Jahr durch die Einkommenssteuer – ‚SENKUNG‘ von 45% auf 42% wieder REICHER und DIE ARMEN durch Hartz IV wieder ÄRMER!!!“ (Spruch 125, Auszug). Die beiden Sprüche verdeutlichen, daß die „Reichen“ von einer anderen Gruppe („den Armen“) profitieren. Die moralischen Verfehlungen der Regierenden und Politiker bilden den zweiten Punkt der Regierungskritik. Den Parteien wird mehrfach Betrug, Heuchelei, Verlogenheit, Täuschung usw. vorgeworfen: „Höchste Zeit für ehrliche Politik“ (Spruch 2, Auszug), „HARTZ 4 ist eine KREATUR des PARTEIKARTELLS von SPD und GRÜNEN, CDU/CSU und FDP, die über das VOLK mit BETRÜGEREI und HEUCHELEI JAHRZEHNTE HERRSCHEN“ (Spruch 31), „Wir fordern:/ 1. Den Rücktritt der Regierung Schröder wegen Wahlbetruges und Verletzung der Verfassung u.a. durch Hartz 4“ (Spruch 70, Auszug), „Schröder Lügen Baron!“ (Spruch 106, Auszug), „Eine Anmerkung Herr Schröder: [...] Wir pfeifen auf Sie und Ihre ‚Lügendemokraten‘!“ (Spruch 133, Auszug), oder „Politik = Lüge, Betrug“ (Spruch 135, Auszug). Zuerst fällt auf, daß der Vorwurf des Betrugs und der Verlogenheit nicht nur der Regierungskoalition aus SPD und Bündnis 90/Die Grünen gemacht wird. Im Spruch 135 wird die Politik sogar generell unter den Verdacht einer Täuschung der Bürger genommen. Konkret wird die moralische Anklage im Spruch 70, welcher der 99 Schröder-Regierung Wahlbetrug vorwirft. Aus dem Spruch wird aber selbst nicht deutlich, worauf an dieser Stelle angespielt wird. Es könnte sich um das Scheitern der Wahlversprechen von 1998 handeln, daß z.B. keine niedrigeren Lohnnebenkosten eingeführt wurden, oder daß im Wahljahr 2002 die Arbeitslosenzahl nicht, wie versprochen, unter 3,5 Mio. gesunken ist. Auch die Verletzung der Verfassung wird nicht weiter ausgeführt, man verweist nur auf die Arbeitsmarktreform „Hartz IV“ an sich. Eine Deutung bietet aber die Hinzuziehung anderer Sprüche an, die auch einen Verfassungsbruch unterstellen (s.u.: „Zwangsarbeit“). Neben der Rechtsbeugung des Staates werfen die Demonstranten speziell den Politikern „Arroganz“ und „Überheblichkeit“ vor: „Stell Dir vor, Du DARFST DEMONSTRIEREN aber keinen Politiker interessierts.“ (Spruch 51, Auszug), „Politiker u. Beamte Blutsauger der Nation! Harz 4 Erfinder“ (Spruch 69), „IGNORANZ und WILLKÜR der BEHÖRDEN + ARROGANZ der POLITIKER = ENDE des RECHTSSTAATES“ (Spruch 96), „Eine Anmerkung Herr Schröder: [...] Ihre Überheblichkeit ist grenzenlos. Haben Sie bisher zugehört?“ (Spruch 133, Auszug), „GRÖSSENWAHN AG/ 16 Fürstentümer/ 16x Hof-/Beamtenstäbe/ >100 Ministerien/ steuerfinanzierte PALÄSTE aller Orten“ (Spruch 147), oder „In Deutschland gibt es kein Recht auf Unfähigkeit, Arroganz und Volksverhetzung!“ (Spruch 150) Die Sprüche lassen vermuten, daß die Protestierenden den Regierenden den Verlust von Berührung mit der Bevölkerung vorwerfen; sie schließen an die Kritik an, daß die Regierung nicht die Interessen der Bürger verfolgt, sondern die der „Großen“ und „Wirtschaftsbosse“. Aus Sicht der Protestierenden erfolgt daher die Regierungspolitik zu ihren Lasten („Blutsauger“, „GRÖSSENWAHN AG“). Das Bild wird auf anderen Plakaten noch verstärkt: „NUR Feiglinge gehen auf die Schwachen“ (Spruch 77), oder „Nehmt doch noch mein letztes Hemd“ (Spruch 78). Auch hier zeigt sich die Trennung zwischen den Regierenden „DA OBEN“ (Spruch 155, Auszug) und dem „kleinen Mann“ (z.B. Spruch 66, Auszug) „da unten“. Neben der Trennung ist besonders interessant, was die wütenden und verzweifelten Sprüche explizit 100 sagen: Abgesehen von der vorgeworfenen Rechtsbeugung erscheinen die Politiker bei den Protestierenden als arrogant, abgehoben, überheblich und uninteressiert. Diese Eigenschaften werden in einen Zusammenhang mit ihrer Haltung gegenüber den Protestierenden oder den Betroffenen der Arbeitsmarktreform „Hartz IV“ gebracht. Die moralische Beschuldigung ist nur dann sinnvoll, wenn davon ausgegangen wird, daß Politiker sich eigentlich für die sozialen Belange und Bedürfnisse der Bevölkerung einsetzen müßten. Eine moralische Verfehlung liegt nur vor, wenn sie es an sozialer Fürsorge, insbesondere für die „Schwachen“ und den „kleinen Mann“, fehlen lassen. Die Kritik moralischer Verfehlungen bezieht sich aber nicht nur auf die Verletzung des „Fürsorgeprinzips“, sondern auch auf die Verletzung der „Menschenwürde“. So scheinen die Protestierenden die neue Vermittlungspraxis von Arbeitsplätzen für Langzeitarbeitslose als Unrecht zu empfinden. In diesem Zusammenhang sprechen einige Protestmaterialien von „Zwangsarbeit“, da die Unabhängigkeit der Arbeitswahl eingeschränkt wird. Zugleich scheint auch die Würde der Arbeit verlorenzugehen. Anschauliche Sprüche lauten: „ZWANGSARBEIT BRINGT AUFSCHWUNG heute wie vor 65 Jahren“ (Spruch 53), „ZWANGSARBEIT! KEIN LOHN!“ (Spruch 62, Auszug), „ZWANGSARBEIT verstößt gegen Art. 1, 12 GG / Altes Ägypten, altes Griechenland, altes Rom und altes Amerika grüßen die neuen SKLAVEN!“ (Spruch 80), oder „SOZIALABBAU/ = Verlust von Würde und Freiheit/ = Entmündigung durch Zwangsarbeit“ (Spruch 124, Auszug). Der Begriff der „Zwangsarbeit“ mag hier auf den ersten Blick irritieren, insbesondere wenn dabei, wie im Spruch 53, 2004 minus 65 gerechnet wird. Was hat die Arbeitsmarktreform von 2004 mit der Zwangsarbeit von Juden und KZ-Häftlingen im Nazi-Deutschland des Jahres 1939 zu tun? „Zwangsarbeit“ in Verbindung mit „Billiglohn“ spielt letztlich im Zusammenhang mit der Arbeitsmarktreform „Hartz IV“ auf die Abwertung der Arbeit an. So ist mit „Hartz IV“ vorgesehen, daß jeder Arbeitslose „zumutbare Maßnahmen“ und „1 €-Jobs“ akzeptieren muß, d.h. ein Arbeitsloser kann sich den Entscheidungen einer Arbeitsagentur nicht entziehen. Axel Philipps Arbeitslosengeld (Alg) II-Empfängern drohen sogar bei nachlässiger Arbeitssuche oder bei Verweigerung „zumutbarer Tätikeiten“ Sanktionen in Form von Kürzung der Sozialleistungen. In diesem Zusammenhang, in der Einschränkung der Arbeitsplatzwahl und in der Bezeichnung von Tätigkeiten als „1 €-Jobs“, lassen sich die Begriffe „Zwangsarbeit“ und „Billiglohn“ verstehen. Anstatt einer unabhängigen Arbeitstätigkeit bekommt der AlgIIEmpfänger nur subventionierte Arbeit, mit der das Existenzminimum abgedeckt werden soll. Dies greift natürlich das Selbstwertgefühl der so Beschäftigten an. Sehr anschaulich findet sich dies bei Karl Polanyi (1995), der eine Demoralisierung der Lohnabhängigen im England des frühen 19. Jahrhunderts beschreibt, nachdem das „Speenhamland-Gesetz“ einen Zuschuß zum Arbeitslohn garantierte, wenn von den Arbeitgebern keine Löhne zur Minimaldekkung des Lebensunterhalts gezahlt wurden. Das Gesetz drückte nicht nur die gezahlten Löhne, sondern auch die Arbeitsmotivation. „1 €-Jobs“ müssen also gerade jene verletzen, die eine hohe Arbeitsmoral an den Tag legen. Eine Eigenschaft, die sich bei ostdeutschen Arbeitssuchenden finden läßt (vgl. Haupt/ Liebscher 2005: 7). Anstatt von „Zwangsarbeit“ sprechen manche Demonstranten auf ihren Plakaten sogar von den „neuen Sklaven“ (Spruch 80) oder dem „SKLAVENHALTERSTAAT“ (Spruch 140). Die Metapher vom „Sklaven“ soll wahrscheinlich die empfundene Entrechtung des Alg II-Empfängers hervorheben. Im Spruch 80 wird letztlich von der Verletzung der Verfassung in Art. 1 und 12 gesprochen. Art.l 1 Abs. 1 besagt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Dieser Grundsatz wird in enger Verbindung zu Art. 12 gesehen: „(1) Alle Deutschen haben das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen. Die Berufsausübung kann durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes geregelt werden. (2) Niemand darf zu einer bestimmten Arbeit gezwungen werden, außer im Rahmen einer herkömmlichen allgemeinen, für alle gleichen öffentlichen Dienstleistungspflicht. „Weg mit Hartz IV!“ (3) Zwangsarbeit ist nur bei einer gerichtlich angeordneten Freiheitsentziehung zulässig.“ Durch den Passus der „zumutbaren Maßnahmen“ zur Wiedereingliederung in Arbeit und den angedrohten Sanktionen bei Verweigerung gehen die Protestierenden vermutlich von einer Verletzung der Art. 1 und 12 aus, da die Sanktionen bei Ablehnung „zumutbarer Tätigkeit“ einen gewissen Zwang erzeugen und die Möglichkeit, „frei zu wählen“ – GG Art. 12 (1) – zu übergehen scheinen. Ob hier ein tatsächlicher Rechtsbruch vorliegt, kann an dieser Stelle nicht geklärt werden, jedoch wird deutlich, daß die Protestierenden die freie Wahl der Arbeit als ein Grundrecht empfinden. So heißt es auf einem Plakat: „ARBEIT FREI GEWÄHLT IST MENSCHENRECHT“ (Spruch 86). Auch hier besteht eine Verbindung zur Frage nach der „Würde“, die eine Person durch ihre Arbeit erfährt. Aus Sicht der Protestierenden wird die „Würde“ einem gerade dort genommen, wo der Staat den Einzelnen „entrechtet“ und „entmündigt“ (vgl. Spruch 57, 93, 124), d.h. wo einem die unabhängige Arbeitstätigkeit entzogen wird. Ein Sprechen von „Entmündigung“ hat wahrscheinlich in Ostdeutschland auch etwas mit den Erfahrungen einer repressiven Regierung in der DDR zu tun. Im letzten Punkt wird der Regierung der Abbau des Sozialstaates vorgeworfen. Aus Sicht der Protestierenden reduzieren die Reformen die Sozialsicherungen: „Arbeit bis 70?/ Arbeitslos ab 50!“ (Spruch 54), „Länger arbeiten = noch mehr Arb.lose = noch mehr Abgaben = sinkende Nettolöhne“ (Spruch 72, Auszug), „STOPT HARTZ 4! Schluss mit dem Sozialabbau!!“ (Spruch 79), „S oziale/ P leite/ D eutschlands“ (Spruch 89), „SOZIALE MARKTWIRTSCHAFT 2004? Ludwig Erhard dreht sich im Grab“ (Spruch 94), „STOPP dem Stellenabbau im Öffentlichen Dienst!“ (Spruch 95, Auszug), „Sozial is’ muss!“ (Spruch 102), oder „SOZIALGESETZGEBUNG/ Vom Kanzler Bismarck gerichtet/ Wird nun durch Agenda vernichtet“ (Spruch 123). Auch hier liegt die Vermutung nahe, daß die Regierung dem Anspruch einer sozialen Fürsorge gegenüber den Bürgern nicht gerecht wird. Aus Sicht der Protestierenden verletzen Stellenabbau, Arbeitslosigkeit und Reformen soziale 101 Standards, die historisch aus verschiedenen Quellen (Bismarck oder Erhard) abgeleitet werden. Die Verweise lassen annehmen, daß die Sozialsicherungen nicht allein aus der Fürsorgestrukturen der DDR stammen, sondern vielmehr aus der Geschichte Deutschlands bzw. Westdeutschlands. Daß es überhaupt zur gemeinsam geteilten Einforderung sozialer Gerechtigkeit unter den Protestteilnehmern kommt, mag wiederum ein ostdeutsches Phänomen sein (vgl. Engler 2002). Auf der Spur des Fürsorgeprinzips Der Umstand, daß die Montagsdemonstrationen 2004 in Umfang und Verbreitung zumeist in Ostdeutschland auftraten, führt zu der Frage, ob die Proteste sich auch aus besonderen sozialhistorischen Bedingungen speisen. Zwar liegt der Zusammenbruch der DDR bereits 15 Jahre zurück, und die ostdeutsche Region hat seitdem einen gewaltigen Transformationsprozeß durchlaufen, aber politische Veränderungen haben eine andere Geschwindigkeit als die alltägliche Kontinuität. 15 Jahre genügen nicht, um Sichtweisen, Erwartungen und Gewohnheiten der Menschen völlig zu verändern. Vielmehr ist zu vermuten, daß internalisierte Wahrnehmungs- und Beurteilungsmuster auch heute noch in den Vorstellungen und Überlegungen der Ostdeutschen fortleben. Bezogen auf die Rahmenanalyse der Leipziger Protestmaterialien ist also zu fragen, ob die Kritik am Staat bzw. an der Regierung und die damit verbundenen moralischen Vorwürfe und Erwartungen gegenüber der Regierung sich zum Teil aus der ostdeutschen Geschichte erklären lassen. Nimmt man die These, daß die spontanen, unorganisierten Demonstrationsteilnehmer nur die Rücknahme der Arbeitsmarktreform „Hartz IV“ wollen und daß sie von der Regierung Schutz und Fürsorge gegenüber den Schwachen und Machtlosen erwarten, dann muß sich diese Erwartung auf etwas Gemeinsames gründen. In der neuesten Geschichte Ostdeutschlands müßten also die Grundlagen für ein „Fürsorgeprinzip“ gelegt worden sein. Anhand der Rahmenanalyse sozialer Be- 102 wegungen kann ein solcher Prozeß auch mit „frame amplification“ beschrieben werden. Sie stellt für soziale Bewegungen eine unter mehreren Möglichkeiten dar, durch Modifikationen des Interpretationsrahmens neue Aktivisten zu gewinnen bzw. zu halten. Diese Stärkung eines Wertes tritt insbesondere bei reaktiven Gruppen auf, die den Status quo verteidigen. Bei bestimmten Ereignissen kommt es in diesen Gruppen zu einer Idealisierung und Aufwertung eines oder mehrerer relevanter Werte bzw. Vorstellungen, die in Vergessenheit oder aus anderen Gründen außer Gebrauch geraten sind (vgl. Snow et al. 1986: 469). Im Fall der Montagsdemonstrationen 2004 sind diese Idealisierungen vor allem bei den unorganisierten Protestteilnehmern aufgetreten, deren Sichtweisen und Werte die beteiligten Initiativen und Organisationen nicht unbedingt teilten. Diese strebten vielmehr über die reine Forderung einer Rücknahme von „Hartz IV“ und der Wiederherstellung des Status quo globalere Ziele und Forderungen (z.B. antikapitalistische, sozialutopische) an. Letztlich führten diese unterschiedlichen Interpretationsrahmen der Protestteilnehmer neben mangelnder Medienpräsenz, fehlenden Ressourcen, geringer politischer Unterstützung u.a. zu einem Auseinanderfallen und einer Abschwächung des gemeinsamen Protests. Das erklärt aber nicht, woher die Werte und Vorstellungen kommen, die eine Aufwertung erfuhren. Die DDR hat dazu vermutlich keinen unwesentlichen Beitrag geleistet. Abgesehen von sozialen Einrichtungen wie Kinderkrippen, Kindergärten, Betriebskollektive, FDGB-Ferienheime usw., die einen großen Teil des Fürsorgesystems der DDR ausmachten und sicherlich heute noch positive Erinnerungen bei Ostdeutschen wachrufen, ist wahrscheinlich die soziale Gleichheit in der „arbeiterlichen Gesellschaft“ ein Grund für die Artikulierung eines „Fürsorgeprinzips“ auf den Montagsdemonstrationen 2004. Gleichheit war nach Wolfgang Engler (2002) in der DDR zu einem generellen Grundsatz geworden, der nicht nur Lippenbekenntnis war, sondern gegenüber Kollegen und Nachbarn auch praktiziert wurde. Dabei traf die „Gleichheit“ im „Plan der Axel Philipps sozialistischen Vorsehung“ auf ein allgemeines Wohlgefallen, „weil die Menschen, die sich für sie entschieden, schon durch sie geprägt waren und Normen wieder und wieder bekräftigten, an denen sie sich seit je orientierten.“ Weiterhin heißt es: „Soziale Gleichheit, gepaart mit ökonomischer Unabhängigkeit und existenzieller Sicherheit – das war die Brücke über alle Gräben hinweg, die die Gesellschaft durchzogen; die Rückversicherung des Gemeinwesens für den äußersten Notfall, der keinen inneren Zwist, keine Schuldvorwürfe und kein Beiseitestehen mehr dulden würde; die letzte und wirksamste aller sozialen Garantien; das eigentliche Erfolgsgeheimnis von 1989 und zugleich Hauptgrund für die Verzögerung der Endabrechnung“ (Engler 2002: 212). Auch wenn von keiner weitreichenden sozialen Gleichheit in der DDR gesprochen werden kann; die Verbindung mit ökonomischer Unabhängigkeit und existenzieller Sicherheit hat eine Erwartungshaltung geprägt, die sicherlich noch heute im Ostdeutschen fortlebt und somit zum Maßstab für Kritik an der Regierung wird. Bei Engler heißt es zur „sozialen Erfindung“ der Gleichheit aber auch kritisch: „Sie kann sich mit der Tyrannis, die alle vor Armut schützt, unter Umständen leichter abfinden als mit einer Demokratie, die die Menschen sozial spaltet“ (Engler 2002: 213). Übertragen auf die Gegebenheiten im geeinten Deutschland bedeutet dies, daß ein Großteil der ostdeutschen Bevölkerung sich in einer „arbeiterlichen Gesellschaft“ mit „sozialer Gleichheit“ bestätigt und gesichert fühlte, was ihnen der Zusammenbruch des Ostblocks nahm. Damit bleibt aber auch ein Wahrnehmungs- und Beurteilungsmuster zurück, das im Widerspruch zur Marktwirtschaft steht. Es tauchen also moralische Ansprüche auf, die sich auf Bedingungen vor der Transformation berufen und auch für heutige Bedingungen Legitimität beanspruchen. Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang die These von Edward P. Thompson zur „moralischen Ökonomie der Armen“ im 18. Jahrhundert in Großbritannien. Thompson beschreibt die sozialen Unruhen (Kornaufstände) als direkte Reaktionen auf die Verletzung moralischer Grundannahmen: „[D]iese Proteste „Weg mit Hartz IV!“ bewegten sich im Rahmen eines volkstümlichen Konsens darüber, was auf dem Markt, in der Mühle, in der Backstube usf. legitim und was illegitim sei. Dieser Konsens wiederum beruhte auf einer in sich geschlossenen, traditionsbestimmten Auffassung von sozialen Normen und Verpflichtungen und von den angemessenen wirtschaftlichen Funktionen mehrerer Glieder innerhalb des Gemeinwesens“ (Thompson 1980: 69f.). Dabei fielen jene Unruhen in eine Transformation des Marktes von einer „paternalistischen“ zu einer „kapitalistischen“ Ökonomie. Die neue politische Ökonomie des freien Marktes verdrängte die Marktpraktiken des paternalistischen Modells, welche auf dem Common Law und dem Gewohnheitsrecht beruhten. Diese besagten, daß es einerseits keine Zwischenhändler auf den Märkten geben dürfe und andererseits Korn- und Mehlpreise festzusetzen sind (auf der Grundlage des Assize of Bread). Durch die Einführung kapitalistischer Strukturen kam es nicht nur zur Auflösung der paternalistisch-moralischen Auflagen, sondern auch zu Teuerungen, die Anlaß für Drohungen, spontanen Preisfestsetzungen, Blockaden und Plünderungen durch die Konsumenten waren. Thompson schreibt über die spontanen Preisfestsetzungen: „Es gibt eine tiefempfundene Überzeugung, daß die Preise in Zeiten der Teuerung reguliert werden sollten, und daß sich der Profitjäger außerhalb der Gesellschaft stellt. [...] Gängig waren allgemeine Drohungen mit Gleichmacherei, Flüche gegen die Reichen“ (Ebd.: 102, 119). Die moralischen Vorwürfe der Unterschichten beriefen sich auf das paternalistische Modell, wobei sie es nicht wie die Paternalisten abstrakt und allgemein auffaßten, ihre Aktionen waren vielmehr konkreter und individueller auf bestimmte Müller, Bäcker oder Händler gerichtet. Letztendlich, so Thompson, hat sich die neue politische Ökonomie des freien Marktes durchgesetzt und den „Zusammenbruch der alten »moralischen Ökonomie« der Fürsorge“ herbeigeführt (vgl. ebd.: 129; siehe auch Polanyi 1995). Heute ist der Konsument mit der Marktwirtschaft vertraut, sie verursacht höchstens noch Unbequemlichkeiten, aber keine schreiende Not mehr. Greift man aber den Gedanken einer „moralischen Ökonomie“ der Fürsorge auf, 103 um die Montagsdemonstrationen von 2004 zu verstehen, können die Regierungskritiken mit dem Vorwurf einer moralischen Verfehlung, die in einem Zusammenhang mit der Vernachlässigung der Schwachen und Machtlosen steht, aus vergleichbaren historischen Bedingungen rekonstruiert werden. Zwar haben wir es 2004 weder mit „direkten Aktionen“ zu tun, noch mit Teuerungen oder Zwischenhändlern; aber in den Protesten artikuliert sich eine „moralische Ökonomie“, mit der ein Teil der Protestierenden von den Regierenden eine Unterstützung für die Schwachen und Machtlosen in Deutschland einfordert. Gerade das Versäumnis der Regierung, sich für die Bürger einzusetzen und statt dessen im Interesse der Reichen und der Wirtschaft zu agieren, wird als moralische Verfehlung kritisiert. Vermutlich gibt es in der Bevölkerung den Konsens, daß die Regierung sich regulierend für die Belange und Bedürfnisse der Schwachen und Machtlosen einzusetzen hat. Der Vorwurf der „Arroganz“ und fehlenden Interesses für die Belange der Protestierenden hätte somit seine Wurzeln in Fürsorgeerwartungen. Historisch ist das schlüssig, da der Marktwirtschaft eine gesellschaftliche Situation vorausging, welche soziale Gleichheit, ökonomische Unabhängigkeit und existenzielle Sicherheit zumindest auf einem minimalen Niveau für alle bereitstellte und so vermittelte. Bei den Montagsdemonstrationen 2004 in Leipzig artikulierten sich moralische Wahrnehmungs- und Beurteilungsmuster, die sich auf das zurückliegende Gesellschaftssystem stützen. Ausblick Die Beschreibung und Analyse der Protestmaterialien der Montagsdemonstrationen 2004 in Leipzig veranschaulicht die Breite und Vielfalt der Protestbotschaften und -materialien. Es gibt aber auch Anlaß, zwischen zwei verschiedenen Protestteilnehmergruppen zu unterscheiden. Die erste Gruppe zeichnet sich durch ihre Organisiertheit und zum Teil durch ihre hohe Professionalität im Umgang mit Protesten aus. Bei dieser Gruppe ist auch 104 davon auszugehen, daß sie die Proteste gegen die Arbeitsmarktreform „Hartz IV“ in globalere Themen einbettet und globalere Interessen verfolgt. Der Gruppe unorganisierter Teilnehmer geht es letztlich nur und vor allem um die Arbeitsmarktreform „Hartz IV“. Letztere sind durch ihre mögliche Betroffenheit motiviert und fordern statt der Veränderung sozialer Zustände die Wiederherstellung des Status quo. „Weg mit Hartz IV“ ohne Alternative lautet ihre Parole, wobei sie sich an die Regierung oder an die „da oben“ wenden. Sie wollen also keine anderen gesellschaftlichen Tatsachen, sondern halten es für moralisch richtig, daß der Staat sich fürsorglich und schützend für seine Bürger einsetzt. Den Erwartungen liegen möglicherweise Vorstellungen von Gleichheit und Fürsorge zugrunde, die ihren Ursprung in der Vergangenheit Ostdeutschlands haben. Letztlich wissen wir aber nur wenig über die unorganisierten Protestteilnehmer, insbesondere in Ostdeutschland, da Protestanalysen zumeist Organisationen und Initiativen zum Gegenstand haben. Auch wenn es ein schwieriges Unterfangen ist – gerade aus diesem Grund sollten die spontanen und unorganisierten Teilnehmer an Protestveranstaltungen größere Aufmerksamkeit erfahren. Anmerkungen 1 2 3 4 Das wäre sicherlich eine interessante Analyseebene. Ebenso könnten thematische Interviews mit Teilnehmern und Organisatoren weitere Aufschlüsse über die Motivationen und Sichtweisen der Protestteilnehmer liefern. Die Anzahl der Aufnahmen deckt sich aber nicht mit der Anzahl der Sprüche und Texte, da manche Aufnahmen mehrere Protestmaterialien zeigen oder einige Plakate textfrei sind. Die Großschreibung ganzer Wörter soll zeigen, daß diese Wörter im Text hervorgehoben wurden (z.B. durch Farben oder fette Schreibweise). Das Zeichen „/“ markiert einen Zeilenumbruch auf dem Protestmaterial. Die Texte werden in orginaler Schreibweise wiedergegeben. Die bildliche Gestaltung der Protestmaterialien wird allgemein wenig genutzt und soll deshalb an dieser Stelle unberücksichtigt bleiben. Axel Philipps Literatur Benford, R./Snow, D. (2000): Framing processes and social movements: An overview and assessment. In: Annual Review of Sociology 26, 611–639. Bohnsack, R. (2001a): Die dokumentarische Methode in der Bild- und Fotointerpretation. In: Ders. et al. (Hg.), Die dokumentarische Methode und ihre Forschungspraxis. Opladen: Leske+Budrich, 67-89. Bohnsack, R. (2001b): „Heidi“: Eine exemplarische Bildinterpretation auf der Basis der dokumentarischen Methode. In: Ders. et al. (Hg.), Die dokumentarische Methode und ihre Forschungspraxis. Opladen: Leske+Budrich, 323-337. 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Das Abonnement gilt für ein Jahr und verlängert sich um jeweils ein Jahr, wenn nicht sechs Wochen vor Ablauf gekündigt wird. Redaktion: Henri Band, Harald Bluhm, Ulrich Busch, Erhard Crome, Scott Gissendanner, Birgit Glock, Wladislaw Hedeler, Wolf-Dietrich Junghanns, Cathleen Kantner, Lutz Kirschner, Rainer Land, Ingrid Oswald, Udo Tietz, Jan Wielgohs, Andreas Willisch, Rudolf Woderich Redaktionelle Mitarbeit: Karsten Malowitz, Thomas Müller; Lektorat: Gudrun Richter Verantwortlich für dieses Heft: Scott Gissendanner (V.i.S.P.) Preise: Einzelheft 10 €, Doppelheft 20 € Abonnement: Jahresabo 35 €, ab 2006: 37 €; Ausland zuzüglich Porto. Studenten, Rentner und Arbeitslose 18 €, ab 2006: 20 €. Nachweis beilegen. Ermäßigte Abos bitte nur direkt bei Berliner Debatte Initial per Post oder per Fax bestellen. Copyright für einzelne Beiträge ist bei der Redaktion zu erfragen. 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Autorenverzeichnis Hans-Jürgen Arlt, Dr., freier Publizist und Kommunikationsforscher Dirk Baier, Dipl.-Soziologe, Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen, Hannover Stephan Klecha, Dipl.-Sozialwirt, wissenschaftlicher Mitarbeiter, Hochschul-Informations-System GmbH Axel Philipps, M.A., Soziologe, Institut für Soziologie, Universität Leipzig Martin Behrens, Referatsleiter Europäische Arbeitsbeziehungen am WSI in der Hans-Böckler-Stiftung, Düsseldorf Donatella della Porta, Prof. Dr., Department of Political and Social Sciences, European University Institute, Florence Klaus Boehnke, Prof. Dr., School of Humanities and Social Sciences, International University Bremen Heribert Prantl, Dr., Leiter der innenpolitischen Redaktion der Süddeutschen Zeitung Mandy Boehnke, Dipl.-Soziologin, Universität Bremen Wolfgang Schroeder, Leiter der Abteilung Sozialpolitik beim Vorstand der IG Metall, Frankfurt am Main Ulrich Busch, Dr. oec. habil, Wirtschaftswissenschaftler, TU Berlin Daniel Fuß, Dipl.-Soziologe, International University Bremen Guido O. Kirner, Dr., Historiker und Sozialwissenschaftler, Redakteur der GAZETTE, München/Starnberg Grischa Schwiegk, Student der Sozialwissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin Ausdrucken oder kopieren, ausfüllen, falten und als Postkarte abschicken! Berliner Debatte Initial Bestellung: Ich bestelle ein Abonnement der Berliner Debatte INITIAL ab Heft O O O O Das Abonnement soll für ein Jahr befristet werden. Das Abonnement soll gelten, bis ich es abbestelle. Abbestellung jederzeit. Abonnement 37 Euro (Ausland zuzüglich 6 Euro Porto). Ermäßigt 20 Euro (Studenten, Rentner, Arbeitslose, Wehr- und Zivildienstleistende) Nachweis bitte beilegen. Vorname, Name: Straße, Nr.: Postleitzahl: Ort: Telefon: Ich wünsche folgende Zahlungsweise: O Jahresrechnung O Bargeldlos: halbjährliche Abbuchung. Konto-Nr.: Bankinstitut: Bankleitzahl: Ich weiß, daß ich diese Bestellung innerhalb von 10 Tagen (Poststempel) bei der Bestelladresse schriftlich widerrufen kann. Datum: Name: Straße und Nr. 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