Kontinuität und Wandel des Habitus. Handlungsspielräume und Handlungsstrategien in der Geschichte einer Familie Von der Gemeinsamen Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaften der Universität Hannover zur Erlangung des Grades einer Doktorin der Philosophie (Dr. phil.) genehmigte Dissertation von Andrea Lange-Vester, geboren am 10.01.1961 in Hannover 2000 Referent: Prof. Dr. Heiko Geiling, Universität Hannover Ko-Referent: PD Dr. Karl-Heinz Schneider, Universität Hannover Tag der mündlichen Prüfung: 23. November 1999 Kontinuität und Wandel des Habitus. Handlungsspielräume und Handlungsstrategien in der Geschichte einer Familie Andrea Lange-Vester Kurzdarstellung Die Arbeit geht der Frage nach Kontinuität und Wandel von Grundmustern des Habitus in langfristiger Perspektive nach. Untersucht wird die Geschichte einer Familie, deren Angehörige im 18. und 19. Jahrhundert in einer ländlichen Region teils als Handwerker mit kleinbäuerlichen Existenzgrundlagen und teils als Besitzarme, die überwiegend im Tagelohn oder im protoindustriellen Gewerbe ihren Lebensunterhalt verdienten, gelebt haben. Für die entsprechenden Linien der Familien werden unterschiedliche Grundmuster des Habitus und der sozialen Kohäsion herausgearbeitet und auf intergenerationellen Wandel hin untersucht. Die Habitus können dem gelegenheitsorientierten und dem respektabilitätsorientierten Typus zugeordnet werden. In dem untersuchten Fall war jeder der beiden Habitustypen auf die Bewältigung der Reproduktionsprobleme in einem bestimmten Teilfeld des sozialen Raums abgestimmt. Die Arbeit bestätigt die These, daß sich die Grundmuster des Habitus einer Familie über lange historische Perioden durchhalten und maßgeblich für die bevorzugten Handlungsstrategien im gesellschaftlichen und ökonomischen Feld sind. Da die beiden Habitus und ihre Teilfelder eng benachbart waren, konnten die Familienlinien die Grenzen zwischen ihnen unter spezifischen Bedingungen der Mobilität überschreiten. Der Wechsel in ein neues Feld war jedoch für eine der Familienlinien mit erheblichen Umstellungsproblemen verbunden. Die Arbeit stützt sich auf Bourdieus Theorie und Methodologie des Habitus und des Feldes und deren Weiterentwicklung in der typenbildenden Mentalitätsanalyse. Sie ist die erste Anwendung dieser Ansätze auf eine historische Genealogie. Hierzu wurde eine besondere Methodologie der Analyse von Lebensdaten vernetzter Personen im Kontext des sozio-ökonomischen Feldes, das sozial- und regionalgeschichtlich zu explorieren war, verwendet. Die Studie kann damit die Muster von Kontinuität und Wandel des Habitus über einen längeren historischen Zeitraum herausarbeiten. Schlagwörter: Habitus, Familie, Regionalgeschichte Continuity and Change of Habitus. Chances and Strategies of Action in an Family History Andrea Lange-Vester Abstract The dissertation is dedicated to the question of continuity and change of basic habitus patterns in long-term perspective. It studies the history of a family the members of which were living in a rural region during the 18th and 19th century, in part as craftsmen on a small farm basis, and in part as landless poor, primarily earning their living as land labourers or in proto-industrial activities. For the respective family lines, different basic patterns of habitus and of social cohesion are elaborated and analyzed with respect to intergenerational change. The habitus may be attributed to the ´opportunity oriented´ and to the ´respectability oriented´ type. In the case studied, each of the two habitus types was adapted to coping the problems of reproduction in a specific sub-field of social space. The dissertation confirmed the hypothesis that the basic habitus patterns of a family are persisting over long historical periods being decisive for the preferred strategies of action in the social and economic fields. As the two habitus and their sub-fields were close neighbours, the family lines could pass the border lines between them under specific conditions of mobility. For one of the family lines, however, changing into a new field was connected with serious problems of reconversion. The dissertation is based on Bourdieus´s theory and methodology of habitus and field and their further development in type constructing mentality analysis. It is the first application of these approaches to a historical genealogy. For this purpose, there was used a special methodology of analyzing the life data of interrelated persons in the context of the socio-economic field which had to be explored in it´s social an regional history. Thus, the dissertation could elaborate the patterns of continuity and change of habitus over a long historic period. Keywords: habitus/mentality, family, regional history Inhalt I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 1. 2. 3. 4. 5. 6. Fragen, Hypothesen und Entstehungszusammenhang der Familienstudie . . . . . . . . . . . . 7 Habitus und Feld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 Mentalitäten und Mentalitätsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 Umstellungen und Habitusmetamorphosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Soziale Kohäsion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 Operationalisierung und Aufbau der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 II. Wartburgführer Richard Schmidt: Respektabilitätsansprüche Erinnerungen und Fragen an den konkreten Fall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 III. Einführung in die Familiengeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 IV. Ältere Vorfahren von Richard Schmidt mütterlicherseits die kaltensundheimer Familien seit dem 17. und 18. Jahrhundert . . . . . . 52 1. 1.1. 1.2. 1.3. 1.3.1. 1.3.2. 1.3.3. 1.3.4. 1.3.4.1. 1.4. Das Dorf Kaltensundheim und die Region . . . . . . . . . . . . . . . Bevölkerung: Von der ´Expansion´ zur Abwanderung am Ende des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Landwirtschaft: Kleinbäuerliche Strukturen . . . . . . . . . . . . . . . Gewerbe als unverzichtbare Haupt- und Nebenerwerbsquelle: Entwicklungsphasen und Umstellungen bis Ende des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . Die Leineweberei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Barchentweberei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die umliegenden Gemeinden um die Mitte des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gewerbe und Spezialisierungen im Eisenacher Oberland während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . Die Plüschweberei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 53 59 72 77 79 85 87 92 Handlungsspielräume, Handlungsziele, Handlungsstrategien: Umstellungen und ´angespannte´ Beziehungen von Habitus und Feld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 1 2. Die Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 2.1. 2.1.1. 2.1.1.1. Die Schmiedefamilie Rauch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der soziale Abstieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wirtschaftliche Entwicklungen: Landbesitz als schwindende, aber bleibende Ressource . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1.2 Berufliche Qualifikationen: Die ´Unentbehrlichkeit´ im Dorf, ´Geheimwissen´ und Entwertungen kulturellen Kapitals . . . . 2.1.1.3. Wirtschaftliche und politische Teilhabe: Von der höheren Gemeindefunktion zum ´niederen´ Amt . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1.4. Soziale Beziehungen: Respektabilität, Verluste und ´Feldwechsel´ im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . 2.1.1.5. Die kaltensundheimer Schmiedefamilien seit den 1630er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1.5.1. Entwicklungsphasen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1.5.2. Die Stellung der ´Großfamilie´ Rauch: Gewinner bis ins 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1.5.3. Die Stellung der Familienlinie von Johann Adam Rauch: Verlierer im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 122 123 139 147 162 172 173 174 182 2.1.2. Handlungsspielräume, Handlungsziele, Handlungsstrategien: Die Verteidigung der Erfahrungen von Selbständigkeit und Respektabilität . . . . . . . . . . . . . . . . 191 2.2. 2.2.1. 2.2.1.1. Die Weberfamilie Porz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der soziale Abstieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wirtschaftliche Entwicklungen: Besitzarmut und unterschiedliche Ausmaße von Prekarität . . . . . . . . . . . Berufliche Qualifikationen: Entwertungsprozesse, Umstellungsstrategien und Abhängigkeiten im Erwerbsleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wirtschaftliche und politische Teilhabe: Nachbarn ohne Gemeindefunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Soziale Beziehungen: wenig ´ehrbare´ Verbindungen und Abstieg mit dem eigenen Sozialmilieu . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1.2. 2.2.1.3. 2.2.1.4. 2.2.2. 201 206 208 226 229 230 Handlungsspielräume, Handlungsziele, Handlungsstrategien: Erfahrungen von Mobilität und Gelegenheitsorientierung . . . 238 2 V. 2.3. Respektabilität der Schmiede und Gelegenheitsorientierung der Weber: Habitusdifferenzen und Grundmuster sozialer Kohäsion in den kaltensundheimer Herkunftsfamilien von Richard Schmidt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 2.4. Die Familie von Tobias Rauch und Anna Maria Porz II: Zusammenkommen zweier sozialer Milieus in der Generation der Großeltern von Richard Schmidt . . . . 279 Ältere Vorfahren von Richard Schmidt väterlicherseits die unterkatzer Familie seit dem 18. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 1. 2. VI. Das Dorf Unterkatz: Kleinbäuerliche Strukturen ohne gewerbliche Verdichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 Hirten - Maurer - Tagelöhner: Das Muster der Gelegenheitsorientierung in der Familie Schmidt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 Familie Schmidt in Eisenach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 1. 2. 3. Eisenach: Industrie und Fremdenverkehr der Aufstieg und die Krisen in den 1920er Jahren . . . . . . . . . . . . . 304 Mathilde Rauch und Christian Ferdinand Schmidt die Eltern von Richard Schmidt: materielle Stabilisierung . . . . . . . 308 Richard Schmidt und Emma Auguste Illert: Zugewinne an kulturellem und sozialem Kapital - ein begrenzter Aufstieg . . . . . . 314 VII. Richard Schmidt - Respektabilität und Gelegenheit: Habitusmetamorphosen und Antworten auf die Fragen an den konkreten Fall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 VIII. Kontinuität und Wandel - Zusammenfassung der Ergebnisse . . . . . . . . 330 Ungedruckte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 3 Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 Anhang 1: Anhang 2: Anhang 3: Anhang 4: Anhang 5: Anhang 6: Anhang 7: Anhang 8: Anhang 9: Anhang 10: Anhang 11: Anhang 12: Anhang 13: Anhang 14: Anhang 15: Anhang 16: Von Webern in Kaltensundheim zwischen 1666 und 1747 geschlossene Ehen . . . . . . . . . . . Von Webern in Kaltensundheim zwischen 1748 und 1834 geschlossene Ehen . . . . . . . . . . . In den Herkunftsfamilien der Barchentweber ausgeübte Berufe, auf der Grundlage der 1748-1834 in Kaltensundheim geschlossenen Ehen . . . . . . . . . . . . . . . Von den Schwiegervätern der Barchentweber ausgeübte Berufe, auf der Grundlage der 1748-1834 in Kaltensundheim geschlossenen Ehen . . . . . . . . . . . . . . . Lokale Herkunft und Berufe der Väter der von außerhalb Kaltensundheims stammenden Weber, auf der Grundlage der 1748-1834 in Kaltensundheim geschlossenen Ehen . . . Von kaltensundheimer Webertöchtern zwischen 1801 und 1850 geschlossene Ehen . . . . . . . . . . . Von den Ehemännern der Webertöchter ausgeübte Berufe, auf der Grundlage der 1801-1850 in Kaltensundheim geschlossenen Ehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . In Kaltensundheim während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts insgesamt und von Webertöchtern geschlossene Ehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heiratsalter der kaltensundheimer Webertöchter, die zwischen 1801 und 1850 eine Ehe schlossen . . . . . . . . . Uneheliche Geburten in Kaltensundheim im Zeitraum von 1780 bis 1860 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kaltensundheimer Sterbefälle zwischen 1780 und 1920: Ledige Frauen, 30 Jahre und älter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von den Vätern der in Kaltensundheim lediggebliebenen Frauen und Mütter ausgeübte Berufe . . . . Kaltensundheimer Sterbefälle zwischen 1780 und 1920: Ledige Männer, 30 Jahre und älter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Berufe der in Kaltensundheim lediggebliebenen Männer und ihrer Väter . . . . . . . . . . . . . . . “Wahrscheinlichstes Heiratsalter” der in Kaltensundheim lediggebliebenen Frauen und Männer . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wahlverwandte der Familie Porz: Eva Rosina Schmidt, Patin zu Eva Margaretha Porz, * 1760 . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 357 366 367 368 370 375 376 376 377 382 390 391 397 398 399 4 Anhang 17: Anhang 18: Anhang 19: Wahlverwandte der Familie Porz: Johann Martin Günter, Pate zu Johann Martin Porz, * 1768 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 Wahlverwandte der Familie Porz: Johann Christoph Hauck, Pate zu Johann Christoph Porz, * 1772 . . . . . . . . . . . . . . . . 403 Wahlverwandte der Familie Porz: Anna Margaretha Braungart, Patin zu Anna Margaretha Porz, * 1772 . . . . . . . . . . . . . . . . 405 5 Verzeichnis der Überblicke über Familienkonstellationen und Generationenfolgen Überblick I: Überblick II: Überblick III: Überblick IV: Überblick V: Überblick VI: Direkte Vorfahren von Richard Schmidt: Ahnentafel mütterlicherseits, aus Kaltensundheim stammende Linie der Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Männliche Nachkommen der ´Großfamilie´ Rauch: Nachkommen von Mathäus Rauch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Männliche Nachkommen der ´Großfamilie´ Rauch: Nachkommen von Johannes Rauch sen. . . . . . . . . . . . . . . . Männliche Nachkommen von Angehörigen der Familie Porz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weibliche Nachkommen von Angehörigen der Familie Porz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nachkommen von Tobias Rauch und Anna Maria Porz II . . . 113 175 180 217 220 281 Überblick VII: Direkte Vorfahren von Richard Schmidt: Ahnentafel väterlicherseits, aus Unterkatz stammende Linie der Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 Überblick VIII: Direkte Vorfahren von Emma Auguste Illert: Ahnentafel mütterlicherseits, aus Ostheim stammende Linie der Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 Überblick IX: Direkte Vorfahren von Emma Auguste Illert: Ahnentafel väterlicherseits, aus Milha stammende Linie der Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 6 I. Einleitung 1. Fragen, Hypothesen und Entstehungszusammenhang der Familienstudie Die sozialwissenschaftliche Forschung vereint unterschiedlichste Auffassungen darüber, wie sich der Zusammenhang von Lebenschancen und Deutungsmustern langfristig entwickelt. Die Frage ist vieldiskutiert, aber kaum systematisch untersucht. Die vorliegende Arbeit versucht, zu ihr einen Beitrag zu leisten. Dabei gilt das Interesse nicht einzelnen Einstellungen, sondern Grundhaltungen, kurz gesagt: dem Habitus im Sinne der Theorie Bourdieus.1 Am Beispiel einer verzweigten Familiengeschichte wird diskutiert, wie sich Habitusdispositionen herausbilden und über Generationen gestalten, inwieweit sie im Verlauf der Geschichte verändert oder auch beibehalten werden. Zugespitzt lautet die zentrale Frage: Gibt es eine Kontinuität der Grundmuster des Habitus, sind es diskontinuierliche Entwicklungen und Brüche, oder wie sonst lassen sich, jenseits dieser Polarisierung, Habitusmuster in der Generationenfolge verstehen und begrifflich fassen? Nach der Auffassung, die hier vertreten wird, liegt die Antwort nicht darin, daß sich entweder alles oder aber nichts ändert, sondern sie liegt dazwischen. Die Untersuchung geht von der These aus, daß es zum einen kein Bruch oder gravierender Wandel ist, der die langfristige Entwicklung von Habitusdispositionen markiert. Deutungs- und Einstellungsmuster stehen mit denen vorangegangener Generationen in einer Beziehung, die Kontinuitäten aufweist. Zum anderen ist der Habitus nicht vorherbestimmt und sind Kinder nicht unveränderte Abbilder ihrer Eltern und Vorfahren. Deutungsmuster werden nicht passiv übernommen, sondern auf der Grundlage von eigenen Erfahrungen in einem dynamischen Prozeß angeeignet und dabei auch abgewandelt. Dazu tragen Veränderungen in den Lebensumständen bei, die zu Umstellungen unterschiedlichster Art im Alltag herausfordern können. Diese Umstellungen, so die Annahme, bedeuten nicht, daß bestehende Gewohnheiten vollständig aufgegeben werden. Neue Anforderungen werden auf der Grundlage von Deutungsmustern und Praktiken interpretiert, die vorhanden und bewährt sind und die gleichwohl in der Auseinandersetzung mit veränderten Bedingungen eine andere Gestalt annehmen. In diesem Prozeß, so die These, werden die Grundmuster eines Habitus variiert. Es sind diese Varianten oder Habitusmetamorphosen2, die die Entwicklungen in langfristiger Perspektive und in der Generationen- 1 Vgl. insbes. Bourdieu 1979, ders. 1982 2 Vgl. Müller 1990, Vester/von Oertzen/Geiling/Hermann/Müller 1993 7 folge bezeichnen. Diese These impliziert die Auffassung, daß soziale Praxis weder einseitig aus vorgegebenen Strukturen abgeleitet und mit deren Analyse allein erklärt werden kann, noch daß sie dem völlig freien Willen des Subjekts unterliegt. Die Arbeit grenzt sich damit vom Dualismus von Objektivismus und Subjektivismus ab, der der Entgegensetzung von entweder Kontinuität oder Wandel entspricht.3 Sie geht nicht von verfestigten Strukturen aus, auf die Akteure nur reagieren, sondern von gesellschaftlichen Handlungsfeldern, die strukturiert sind und die dennoch Gestaltungsspielräume enthalten. Ebenso umfaßt der Habitus ein bestimmtes Repertoire an Verhaltensmöglichkeiten, das zugleich nicht unbegrenzt ist. Soziale Praxis ist demnach weder vorherbestimmt noch beliebig. Sie erklärt sich aus einer jeweils spezifischen Beziehung von Habitus und Feld, der die vorliegende Untersuchung am Beispiel der Familiengeschichte nachgeht. Mit dieser Auffassung folgt die Arbeit einer “´kulturmaterialistischen´ Perspektive”4, nach der sich Deutungsmuster und Gewohnheiten gegenüber Wandlungsprozessen zudem als durchaus ´resistent´ oder ´eigensinnig´ erweisen. Hervorgegangen ist die Untersuchung aus einem Forschungszusammenhang, der der Frage nach Kontinuität und Diskontinuität von Habitusmustern seit den 1980er Jahren systematisch nachgeht. In der kritischen Auseinandersetzung mit der ´Individualisierungsthese´, die soziales Handeln eher aus dem Feld als aus der spezifischen Logik von Habitus und Feld erklärt,5 haben Vester u.a. ein Mehr-EbenenKonzept entwickelt.6 Es ermöglicht, die Struktur und Veränderung der Beziehung zu untersuchen, die zwischen Sozialstruktur, Habitus und den sozialen Milieus als den “lebenswirklichen Zusammenhängen”7 besteht. Die vorliegende Untersuchung knüpft unmittelbar an diesen Ansatz an und führt ihn in einer Perspektive fort, die über die bisherige Forschung zur längerfristigen Entwicklung von Habitusmustern hinausgeht. Mit ihrem spezifischen Gegenstand, einer Familiengeschichte, betritt die Arbeit Neuland. Dies in zweifacher Hinsicht: Erstens gibt es bislang keine habitustheoretische Forschung, die komplexe Fa- 3 Vgl. Abschnitt 4. in diesem Kapitel 4 Vester/von Oertzen/Geiling/Hermann/Müller 1993, S.129 5 Vgl. Abschnitt 4. in diesem Kapitel 6 Vgl. zuerst Vester/von Oertzen/Geiling/Hermann/Müller 1993. Vgl. auch die Abschnitte 4. und 6. in diesem Kapitel 7 Vester/von Oertzen/Geiling/Hermann/Müller 1993, S.124ff 8 milienkonstellationen berücksichtigt; vorhandene Untersuchungen treffen, wenngleich Informationen über weitere Angehörige in ihre Analysen eingehen, im wesentlichen Aussagen über die Beziehungen im Habitus von zwei Familienangehörigen unterschiedlicher Generationen. 8 Neu ist zweitens vor allem der Zeitraum, für den die Frage nach Kontinuität und Diskontinuität in einer soziolgischen Analyse von Habitus und Feld systematisch angegangen wird. Während sich bisherige Forschungen dazu stärker auf gegenwartsbezogene Entwicklungen konzentrieren und insgesamt auf das 20. Jahrhundert begrenzt bleiben, wird in diesem Fall historisches Material interpretiert: Die Informationen zur Geschichte der Familie, die hier untersucht wird, gehen teilweise bis ins frühe 17. Jahrhundert zurück. Die älteste Angehörige wurde im Jahr 1607 und der jüngste 1890 geboren. Bei diesem in der Studie jüngsten Familienmitglied handelt es sich um Richard Schmidt, der im Jahr 1933 starb. Er ist Ausgangs- und Endpunkt einer Untersuchung, die keine außergewöhnliche Familie, sondern eher eine Geschichte der ´kleinen Leute´ zum Thema hat. Daß Richard Schmidt unter anderem Wartburgführer war, verweist auf Eisenach als einen der Handlungsorte. Die Geschichte spielt insgesamt überwiegend im heutigen Thüringen, dort aber kaum in der Stadt, sondern vor allem auf dem Dorf. Dort lebten die Vorfahren von Richard Schmidt in den verschiedenen Familienlinien teils als Handwerker mit kleinbäuerlichen Existenzgrundlagen, teils als Besitzarme, die überwiegend im Tagelohn oder im protoindustriellen Gewerbe ihren Lebensunterhalt verdienten. Vorgesehen war ursprünglich nicht die ausführliche Untersuchung der Vorfahren von Richard Schmidt, sondern die seiner Nachkommen. Anlaß dieses zunächst geplanten Vorhabens waren die Kontroversen innerhalb der Sozialstrukturforschung zum neueren gesellschaftlichen Wandel. In der Frage nach intergenerationellen Gemeinsamkeiten und Differenzen im Habitus standen deshalb die Angehörigen aus den drei heute lebenden Generationen der Familie im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.9 Während zahlreicher Gespräche und Interviews, in denen sie ihr eigenes Leben erzählten, kamen dann auch verschiedene Erinnerungen an Richard Schmidt zur Sprache, die für die Identität und den Habitus der ganzen Familie bedeutsam waren.10 Diese Erinnerungen warfen schließlich Fragen nach der Geschichte der Familie auf, die auf Bereitschaft und Einverständnis der Angehörigen trafen, ihnen 8 Vgl. Abschnitt 4. in diesem Kapitel 9 In einem längeren Prozeß konnten die beiden Kinder von Richard Schmidt und, jeweils in mütterlicher Linie, zwei seiner Enkel und zwei Urenkel nach ihrem Leben befragt werden. 10 Auf den konkreten Entstehungszuammenhang der Untersuchung wird in Kapitel II. näher eingegangen. 9 nachzugehen. Am Ende der neuerlichen und nun anders gestalteten Feldphase lagen Kirchenbücher und andere Dokumente neben verschriftlichten Interviews. Beide Stapel symbolisierten unterschiedliche Anforderungen und ermöglichten zudem nicht gleichermaßen, bestimmte Fragen zu stellen. Beispielsweise sollte zur Untersuchung der heutigen Generationen der Familie auch gehören, den Modalitäten der Weitergabe und der Aneignung von Habitusmustern nachzugehen, die sich in direkter Interaktion konkretisieren. Aufschluß darüber versprach der Einblick in, gegenüber der bisherigen Forschung zum Thema, vergleichsweise komplexere Familienkonstellationen und -beziehungen. Hier deutete sich an, daß in der Komplementarität sozialer Beziehungen ein zentraler Modus des Habituserwerbs liegen kann.11 Für die Vorfahren lassen sich entsprechende Fragen empirisch detailliert nicht beantworten, wenngleich sich das Muster der Komplementarität auch hier, auf der Ebene von Sozialmilieus, zeigt.12 Deutlich wurde schließlich auch, daß die ältere Geschichte der Familie erst bei gründlicher Untersuchung und nicht als oberflächlich berücksichtigtes Hintergrundmaterial einen Beitrag zur Erklärung von Praktiken und Deutungsmustern von Richard Schmidt und seinen Nachkommen versprechen konnte. Aus diesen Gründen und auch im Sinne des erwartbaren Umfangs der Arbeit schien es schließlich sinnvoll, das Vorhaben zu ´teilen´, d.h. entweder nur die heute lebenden Generationen oder nur ihre Vorfahren zu untersuchen. Sinnvoll schien dann, bei Richard Schmidt und der älteren Familiengeschichte einen Anfang zu machen, um Ergebnisse in einer späteren Studie zu den Nachkommen eventuell berücksichtigen zu können. Entsprechende Möglichkeiten, die sich am Ende der Untersuchung tatsächlich, aber eben erst dann, abzeichneten, standen zunächst allerdings nicht wirklich zur Diskussion. Zur Diskussion standen nun neue Herausforderungen und die grundlegende Frage nach den Möglichkeiten, mit den verfügbaren Quellen und Informationen zu Aussagen über Habitusdispositionen von Richard Schmidt und seinen Vorfahren zu gelangen. Sie haben ihr Leben weder erzählt noch aufgeschrieben. Auskunft über Richard Schmidt geben immerhin noch einige Erinnerungen und Photos, die es für die älteren Vorfahren der Familie dann schon gar nicht gibt. Die Hinweise auf sie, die zugänglich waren, stammen aus Kirchenbüchern und vereinzelt aus Orts- oder Kirchenchroniken. Für eine systematische Analyse von Habitusmustern, die auf ´Selbstauskünfte´ vollkommen verzichten muß, gibt es innerhalb der sozialwissen- 11 Vgl. Lange 1996 12 Vgl. zunächst Abschnitt 5. in diesem Kapitel 10 schaftlichen Forschung bislang kein Beispiel. Vorhandene Untersuchungen stützen sich auf Material, zu dem Befragungen und andere Dokumente und Formen gehören, in denen sich soziale Gruppen und Akteure selbst darstellen. Daß Forschung mit kargen Quellen und wenigen Hinweise auf Personen auskommen muß, ist für Historiker und Historikerinnen nichts Ungewöhnliches. Allerdings kann für die Geschichtswissenschaft in Bezug auf Untersuchungen zum Habitus ebenfalls ein Forschungsbedarf festgestellt werden. Dabei ist “die kultursoziologische Forschung” im Blick auf “(...) ihre Anwendung innerhalb der Geschichtswissenschaft”13 aktueller Gegenstand der Diskussion zur “Kulturgeschichte”.14 Die bourdieusche Theorie findet darin besondere Aufmerksamkeit.15 So legt beispielsweise Lipp dar, daß Bourdieu im “(...) Verhältnis zu anderen Kulturtheorien (...) am deutlichsten das Strukturelle und Politische in der Kultur und die Kultur in der sozialen Struktur sichtbar macht und diese Beziehung nicht nur als simples Wechselverhältnis begreift. (...) Bourdieu beschreibt ein kulturelles Erzeugungsprinzip, das in allen Bereichen von Gesellschaft, Ökonomie und Politik wirksam ist.”16 Zu einer ähnlichen Einschätzung kommt Gilcher-Holtey in ihrer ausführlichen Auseinandersetzung mit Bourdieu: “Seine Habitus- und Feldtheorie implizieren mehr als die Ausweitung des Untersuchungsgegenstandes durch die Einbeziehung von ´mehr´ Kultur. Sie differenzieren eine neue Fragestellung aus: die Frage nach der Erklärung von Verhaltensregelmäßigkeiten sozialer Gruppen und ihrer dauerhaften Prägung durch Wahrnehmungs- und Verhaltensdispositionen sowie Lebensstildifferenzierungen.”17 Konkret operationalisiert und systematisch erfolgt ist die Analyse von Habitus und Feld in der Geschichtswissenschaft bislang nicht. Gilcher-Holtey sieht aber “(...) die empirische und historische Operationalisierbarkeit (...)” der “Perspektive und Begrifflichkeit”18 Bourdieus auf der Ebene der Beziehung von Habitus und Feld angesiedelt. Die vorliegende Untersuchung, die eben diesem Ansatz folgt, trifft offenbar auf ähnliche Interessen in der Geschichtswissenschaft. Mit dem konkreten Fall stehen zudem soziale Gruppen im Mittelpunkt, über die die bisherige Mentalitätsforschung 13 Gilcher-Holtey 1996 14 Vgl. Hardtwig/Wehler 1996 15 Vgl. auch Hardtwig/Wehler 1996a, S.12f 16 Lipp 1996, S.102 17 Gilcher-Holtey 1996, S.129. Vgl. entsprechend auch Groh 1992, S.15ff 18 Gilcher-Holtey 1996, S.122 11 bzw. Mentalitätsgeschichte noch nicht hinreichend Aufschluß gibt. Die direkten Vorfahren von Richard Schmidt gehörten überwiegend bereits im 18. Jahrundert, teilweise erst im 19. Jahrhundert zu den Unterschichten. Gerhard Schildt hat den Stand der Forschung dahingehend zusammengefaßt, daß die Lebensumstände der sozialen Gruppen, aus denen sich die “Industriearbeiterschaft”19 in der Hauptsache rekrutierte, inzwischen zwar zahlreich erforscht seien. Dabei sei aber “(...) das Augenmerk vor allem auf die strukturellen Entwicklungen und die soziale Lage gerichtet worden”. Dem steht, so Schildt, die “ungenügende Erforschung der Mentalitäten vorindustrieller Unterschichten” gegenüber.20 2. Habitus und Feld Die Frage, wie soziale Praxis zustande kommt, beantwortet Bourdieu mit dem Habituskonzept, einer “Theorie des Erzeugungsmodus der Praxisformen”.21 Der Habitus entsteht auf der Grundlage von bestimmten, unter gesellschaftlich ungleichen Bedingungen strukturierten Erfahrungen von Besitz oder Armut, von Herrschaft oder Unterordnung, von Chancen oder Grenzen, die in Form einer mehr oder minder “stillen Pädagogik” in Beziehungen vorgelebt und miterlebt werden und die vermitteln, was richtig und was falsch ist, was sich gehört und was sich nicht schickt, was erreichbar und was unerreichbar ist. 22 Diese Schemata, nach denen wahrgenommen, gedacht und gedeutet wird23, resultieren aus einem “Umwandlungsprozeß”, in dem Erfahrungen, Vorlieben und Abgelehntes “vereinheitlicht”24, zum 19 “Es besteht Einigkeit darüber, daß die Industriearbeiterschaft im wesentlichen aus Gesinde, Landarbeitern, Heimarbeitern, ungelernten städtischen Arbeitern und Handwerksgesellen zusammengewachsen ist (...).” (G. Schildt 1996, S.72) 20 Ebd. 21 Bourdieu 1979, S.164 22 “(...) man fände kein Ende beim Aufzählen der Werte, die durch jene Substanzverwandlung verleiblicht worden sind, wie sie die heimliche Überredung durch eine stille Pädagogik bewirkt, die es vermag, eine komplette Kosmologie, Ethik, Metaphysik und Politik über so unscheinbare Ermahnungen wie ´Halt dich gerade!´ oder ´Nimm das Messer nicht in die linke Hand!´ beizubringen und über die scheinbar unbedeutendsten Einzelheiten von Haltung, Betragen oder körperliche und verbale Manieren den Grundprinzipien des kulturell Willkürlichen Geltung zu verschaffen, die damit Bewußtsein und Erklärung entzogen sind. Die Logik der Übertragung von Schemata (...) verleiht den scheinbar beschränktesten und zufälligsten Regelbefolgungen allgemeine Bedeutung.” (Bourdieu 1987, S. 128) 23 Vgl. u.a. Bourdieu 1982, S.278f 24 “(...) wir vereinheitlichen, machen kohärent, und in diesem Sinne ist unser Geschmack kein bloßes Produkt mechanischer Bestimmungsfaktoren des Milieus, sondern Resultat einer Art Alchimie, eines Umwandlungsprozesses”. (Bourdieu 1992, S.32f) 12 Habitus als einem “System dauerhafter Dispositionen”25 werden. Die Dispositionen sind handlungsleitend, generieren soziale Praxis und Praxisformen. Im “(...) Ergebnis einer umfassenden, von einem bestimmten Typ von Regelmäßigkeiten beherrschten Lehrzeit (...)”26 geschieht dies auf im wesentlichen unbewußte Weise, vollzieht sich Praxis ´automatisch´ und mit einem sicheren Instinkt für ´vernünftiges´ und ´unvernünftiges´ Verhalten. Der Habitus erzeugt gewissermaßen “Strategien” ohne Kalkül, er wirkt “(...) als Erzeugungs- und Strukturierungsprinzip von Praxisformen und Repräsentationen, die objektiv ´geregelt´ und ´regelmäßig´ sein können, ohne im geringsten das Resultat einer gehorsamen Erfüllung von Regeln zu sein (...)”.27 Neben der ´Unbewußtheit´ von Strategien, die einer “praktischen Logik”28 folgen, zeichnet den Habitus aus, daß er sich in Form von “systematischen Stellungnahmen” äußert: “Es gibt mit anderen Worten (...) einen Zusammenhang zwischen höchst disparaten Dingen: wie einer spricht, tanzt, lacht, liest, was er liest, was er mag, welche Bekannte und Freunde er hat usw. - all das ist eng miteinander verknüpft.”29 Die Möglichkeiten, in die Praxis der Vorfahren von Richard Schmidt Einblick zu nehmen, sind natürlich sehr viel begrenzter. Daß der Habitus aber einem universalen Prinzip gleichkommt, bedeutet, daß er grundsätzlich auch auf der Grundlage von vergleichsweise wenigen konkreten ´Indizien´ und Manifestationen der Praxis zu erschließen sein muß. Das allerdings bedeutet keinesfalls, daß sich ein Habitus ohne Kenntnis seiner komplexen Voraussetzungen und seiner in der Praxis wirksamen ´Begleitumstände´ einfach angeben liesse. Der Zusammenhang zwischen verschiedenen “Stellungnahmen” ist erst herauszuarbeiten.30 Im konkreten Fall wird sich dabei zeigen lassen, daß beispielsweise Formen des Erwerbs mit bestimmten Formen von sozialen Beziehungen bei den Vorfahren von Richard Schmidt einhergingen, die auf einheitliche Prinzipien ihrer Praxis deuten. Die Deutungsmuster, denen soziale Praxis folgt, sind nicht beliebig. Sie lassen sich bestimmten sozialen Gruppen, insbesondere Gesellschaftsklassen zuordnen, aber ebenfalls nach Geschlechts-, Altersklassen usw. differenzieren. Habitustypen korrespondieren jeweils mit spezifischen Positionen innerhalb einer Sozialstruktur, 25 Bourdieu 1979, S.165 26 Ebd., S.167 27 Ebd., S.165 28 Bourdieu 1987, S.147ff 29 Bourdieu 1992, S.31f 30 Zur Operationalisierung der Untersuchung vgl. Abschnitt 6. in diesem Kapitel 13 für die Art und Umfang bestimmter Ressourcen ausschlaggebend sind. Vermögen setzt sich aus ökonomischem, kulturellem, sozialem und symbolischem Kapital zusammen.31 Bourdieu unterscheidet drei Arten des kulturellen Kapitals: 1. das inkorporierte Kulturkapital, angeeignete und damit personengebundene Fertigkeiten, die “(...) in Form von dauerhaften Dispositionen des Organismus”32 zum Tragen kommen, 2. das objektivierte Kulturkapital, das sich im Besitz von Kulturgütern, Büchern, Gemälden usw. äußert, also in ökonomisches Kapital konvertierbar und nicht körpergebunden ist, und 3. das institutionalisierte Kulturkapital, das in Form von Bildungstiteln legitimes kulturelles Kapitals symbolisiert, das seine Inhaber vom Autodidakten unterscheidet. Soziales Kapital meint “(...) die Gesamtheit der aktuellen und potentiellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaftes Netzes von mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens oder Anerkennens verbunden sind; oder, anders ausgedrückt, es handelt sich dabei um Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen. (...) Das Gesamtkapital, das die einzelnen Gruppenmitglieder besitzen, dient ihnen allen gemeinsam als Sicherheit und verleiht ihnen - im weitesten Sinne des Wortes Kreditwürdigkeit.”33 Symbolischem Kapital schließlich, das mit sozialem Kapital verwandt ist und von Bourdieu nicht durchgängig als eigenständige Vermögensart behandelt wird, entspricht ein Prestige oder Renommee, das auf Kapital in einer als legitim anerkannten Form beruht.34 Die Verfügbarkeit von Kapital entscheidet über die Wahrscheinlichkeit bestimmter Erfahrungen, ohne die konkrete Praxis zu determinieren. Die soziale Position korrespondiert mit dem Habitus, indem sie seine Spielräume, Möglichkeiten und Grenzen, also Denkbares und Unvorstellbares bestimmt. Darauf, daß Menschen innerhalb von Grenzen “erfinderisch”35 sind und daß ihre Praxis nicht vorauszusagen ist, hat Bourdieu häufig und ausdrücklich hingewiesen.36 Daran, daß seine Theorie dennoch von einigen als deterministisch interpretiert wird, mag Bourdieu 31 Vgl. Bourdieu 1983 32 Ebd., S.185 33 Ebd., S.190f. “Der Umfang des Sozialkapitals, das der einzelne besitzt, hängt demnach sowohl von der Ausdehnung des Netzes von Beziehungen ab, die er tatsächlich mobilisieren kann, als auch von dem Umfang des (ökonomischen, kulturellen oder symbolischen) Kapitals, das diejenigen besitzen, mit denen er in Beziehung steht. (...)” (Ebd. S.191) 34 Zum symbolischen Kapital vgl. insbes. Bourdieu 1979, S.335ff 35 Bourdieu 1992, S.33 36 “Da der Habitus eine unbegrenzte Fähigkeit ist, in völliger (kontrollierter) Freiheit Hervorbringungen - Gedanken, Wahrnehmungen, Äußerungen, Handlungen - zu erzeugen, die stets in den historischen und sozialen Grenzen seiner eigenen Erzeugung liegen, steht die konditionierte und bedingte Freiheit, die er bietet, der unvorhergesehenen Neuschöpfung ebenso fern wie der simplen mechanischen Reproduktion ursprünglicher Konditionierungen.” (Bourdieu 1987, S.103) 14 insofern mitgewirkt haben, daß er häufiger die Grenzen als die Spielräume thematisiert hat: “Der Raum der Möglichkeiten ist geschlossen”.37 Bertaux und BertauxWiame hingegen haben in einer Fallstudie über die “Transmissionen produktiven Besitzes” in der Generationenfolge einer Familie das “Feld des Möglichen”, das zwischen “Determination” und “Freiheit” der Lebengestaltung liegt, zur Diskussion gestellt.38 Die Differenz der unterschiedlichen Herangehensweisen39 schlägt sich im Ergebnis kaum nieder; vielmehr stützt die Studie von Bertaux und Bertaux-Wiame die Theorie Bourdieus, nach der die Möglichkeiten der Lebensgestaltung eben begrenzt und nicht allein einem freien Willen unterliegen.40 Das ´Feld des Möglichen´ hat aber methodisch den Vorteil, daß es ein Denken in Alternativen fordert,41 während Gegebenheiten und Praktiken, wenn sie mit dem Begriff der Grenze angegangen werden, eher als selbstverständlich oder fraglos erscheinen können. Das ´Feld des Möglichen´ erscheint besonders geeignet, den Habitus zu erschliessen, indem die Beziehung zu den nicht praktizierten Möglichkeiten hergestellt und damit die Differenz mitgedacht wird, die für den Habitus gerade entscheidend ist: “soziale Identität gewinnt Kontur und bestätigt sich in der Differenz”.42 Bourdieu faßt die Gesellschaft als Raum oder Feld, in dem sich die Akteure spezifisch verteilen. Dabei bilden “die verschiedenen Sorten von Macht oder Kapital” die 37 Bourdieu 1982, S.597. Diese Äußerung steht im Zusammenhang der Untersuchung des ´Notwendigkeitsgeschmacks´ der Unterklasse. 38 Bertaux/Bertaux-Wiame 1991. Freiheit, auch wenn sie “erzwungen” ist, weil “(...) die Handelnden in gewisser Weise aufgefordert sind, zu wählen und eine Entscheidung zu treffen (...),” eröffnet “jedem jederzeit ein Feld des Möglichen. (...) Eine der Aufgaben ethnosoziologischer Forschung zur sozialen Mobilität müßte gerade der Versuch sein, dieses Konzept vom Feld des Möglichen zu denken. Je nach dem konkreten Kontext, dem sozialen Milieu, dem Alter, dem Geschlecht usw. gibt es ´Möglichkeiten´, die wahrscheinlicher sind als andere, die wiederum sehr viel wahrscheinlicher sind als wieder andere; aber das, was sie hinsichtlich ihrer Wahrscheinlichkeit unterscheidet, ist genau das, was es aufzuklären gilt.” (Ebd., S.28) 39 Bertaux/Bertaux-Wiame setzen ihren Ansatz nicht in Verbindung mit dem Bourdieus, sondern verstehen ihre Fallstudie “als eine exemplarische Illustration” der Theorie von Giddens über die “Dualität der Struktur”. (Ebd., S.39) Bertaux und Bertaux-Wiame grenzen sich im weiteren ab unter anderem von Durkheim, an den Bourdieu anschließt. “Zu lange wurde das Soziale als nur aus Zwängen bestehend aufgefaßt, die auf den Handelnden lasten, die sich unter Androhung von Sanktionen den Normen ihrer sozialen Gruppe anpassen müssen.” (Ebd., S.32) Bertaux/BertauxWiame fassen Determination nicht als Zwang, sondern als Aneignung von Ressourcen, “(...) die, weil sie begehrenswert” sind, “ein vorhersehbares Verhalten erzeugen” können. (Ebd., S.33) 40 Bertaux/Bertaux-Wiame arbeiten beispielsweise heraus, daß die Berufe und die Investitionen und Akkumulationen von Kapital, die jedes Familienmitglied tätigt, jeweils in einer Kontinuitätsbeziehung zu den Vorfahren steht, ohne daß die Strategien deshalb identisch wären. Sie sind zugleich abgestimmt auf die Veränderungen des Feldes und nehmen dadurch eine andere Gestalt an. 41 “Jedenfalls wäre eine Haltung, die im Namen einer zu engen ´positivistischen´ Konzeption der Wirklichkeit nur die tatsächlich verwirklichten Schicksale untersucht, nicht realistisch; denn die nicht verwirklichten Möglichkeiten sind tatsächlich Teil der Wirklichkeit. Wenn dem nicht so wäre, dann wäre es ein Kinderspiel, die Zukunft vorherzusagen...” (Bertaux/Bertaux-Wiame 1991, S.28f) 42 Bourdieu 1982, S.279 15 “Konstruktionsprinzipien des sozialen Raums”.43 Die Verfügbarkeit von Geld, Gütern, Bildung und sozialen Beziehungen definiert den jeweiligen “Einsatz” und die “Gewinnchancen” im gesellschaftlichen Feld und in seinen Teilfeldern: “Gleich Trümpfen in einem Kartenspiel, determiniert eine bestimmte Kapitalsorte die Profitchancen im entsprechenden Feld (faktisch korrespondiert jedem Feld oder Teilfeld die Kapitalsorte, die in ihm als Machtmittel und Einsatz im Spiel ist). So bestimmt der Umfang an kulturellem Kapital (Analoges gilt - mutatis mutandis - für ökonomisches Kapital) die Gewinnchancen in den Spielen, in denen kulturelles Kapital wirksam ist, und damit die Stellung innerhalb des sozialen Raums (zumindest insoweit sie vom Erfolg im kulturellen Feld abhängt).”44 Über die Aussichten, eine Position im gesellschaftlichen Feld zu erreichen und zu verteidigen, entscheiden nicht absolut verfügbare Kapitalien, sondern deren Verhältnis zu den eingebrachten Mitteln der anderen Akteure, ´Mitspieler´ und Gegner im sozialen Raum, die ihre Kräfte aneinander messen.45 “Was existiert, das ist ein Raum von Beziehungen, ebenso wirklich wie der geographische, worin Stellenwechsel und Ortsveränderungen nur um den Preis von Arbeit, Anstrengungen und vor allem Zeit zu haben sind (dem Aufsteiger sieht man die Kletterei an). Entfernung bemißt sich hier auch in Zeit (des Aufstiegs oder der Umstellung zum Beispiel).”46 Der soziale Raum ist also nicht statisch, sondern dynamisch. Er lebt von Beziehungen zwischen Menschen, von strukturierender Praxis. “Kurzum: keine leiblichen Akteure, keine Praxis; keine Praxis, keine objektive Struktur.”47 Gleichwohl haben gesellschaftliche Felder eine Struktur, die gegenüber dem Willen der Akteure doch relativ autonom ist. Praxis findet also auch in einem bereits strukturierten Raum 43 Bourdieu 1985, S.10. Auf der Grundlage von Umfang und Struktur der verschiedenen Kapitalien “(...) läßt sich ein vereinfachtes Modell des sozialen Raums in seiner Gänze erstellen (...). Läßt sich das soziale Feld als mehrdimensionaler Raum von Positionen beschreiben, dann ist jede aktuell eingenommene Position unter Zugrundelegung eines mehrdimensionalen Systems von Koordinaten bestimmbar, deren Werte denen der relevanten Variablen entsprechen. Demgemäß verteilen sich die Akteure auf der ersten Raumdimension je nach Gesamtumfang an Kapital, über das sie verfügen; auf der zweiten Dimension je nach Zusammensetzung dieses Kapitals, das heißt je nach dem spezifischen Gewicht der einzelnen Kapitalsorten, bezogen auf das Gesamtvolumen.” (Ebd., S.11) Zum sozialen Raum vgl. insbes. auch Bourdieu 1982, S.195ff 44 Bourdieu 1985, S.10. Dabei “besteht” zwischen verschiedenen Feldern oder Räumen eine “Homologie”: “Der politische Raum etwa hat seine ´Rechte´ und seine ´Linke´, seine Herrschenden und seine Beherrschten; auch der soziale Raum hat Herrschende und Beherrschte, die Reichen und die Armen. Und beide Räume korrespondieren.” (Bourdieu 1992a, S.187) 45 “Die sozialen Felder bilden Kraftfelder, aber auch Kampffelder, auf denen um Wahrung oder Veränderung der Kräfteverhältnisse gerungen wird.” (Bourdieu 1985, S.74) 46 Ebd., S.13 47 Schwingel 1995, S.71 16 statt.48 Der Erfolg von Strategien und die Position in einem Feld hängen davon ab, inwieweit die in ihm vorgegebenen Regeln praktisch anerkannt und befolgt werden. Felder üben so auch gewisse Zwänge aus. Das ökonomische Feld zwingt beispielsweise die Vorfahren von Richard Schmidt zur Mobilität und zur Umstellung. Ob und wie sie dieser Maßgabe allerdings folgen, hängt nicht von der Struktur des Feldes ab, sondern davon, inwieweit dessen Grenzen und Möglichkeiten mit denen des Habitus vereinbar sind. Nicht eine Struktur, sondern die “Dialektik von objektiven und einverleibten Strukturen”49 bestimmt die Praxis. Vereinfacht gesagt, ist Praxis das Resultat einer Beziehung von Habitus und Feld, die einer spezifischen Logik folgt: Die Vorfahren von Richard Schmidt verhielten sich gegenüber Veränderungen und der Aufforderung, sich umzustellen, verschieden. Während ein Teil der Familie seine Strategien auf die feldspezifischen Gegebenheiten abstimmen konnte, gelang dies in einer Linie, deren Angehörige Schmiede waren, nur schwer. Grund dafür ist, daß die Strategien, die der Habitus hervorbringt, “(...) stets die objektiven Strukturen zu reproduzieren trachten, aus denen sie hervorgegangen sind (...)”. 50 Der Habitus neigt weniger zur Veränderung als zur Beharrung, weil er an Erfahrungen der Vergangenheit orientiert ist, die seine Praxis der Gegenwart und seine Erwartungen an die Zukunft bestimmen.51 “Als einverleibte, zur Natur gewordene und damit als solche vergessene Geschichte ist der Habitus wirkende Präsenz der gesamten Vergangenheit, die ihn erzeugt hat. Deswegen macht gerade er die Praktiken relativ unabhängig von den äußeren Determiniertheiten der unmittelbaren Gegenwart. Diese Selbständigkeit ist die der abgehandelten und fortwirkenden Vergangenheit, die, wie ein akkumuliertes Kapital fungierend, Geschichte aus Geschichte erzeugt und damit die Dauerhaftigkeit im Wandel gewährleistet, die aus dem einzelnen Handelnden eine eigene Welt in der Welt macht. Als Spontaneität ohne Willen und Bewußtsein steht der Habitus zur mechanischen Notwendigkeit nicht weniger im 48 “(...) der Habitus (bestimmt) selber das mit( ), was ihn bestimmt.” (Bourdieu 1985, S.75) 49 Bourdieu 1979, S.164ff. “Schematisch läßt sich (...) die ´Dialektik von objektiven und einverleibten Strukturen´ in drei Glieder zerlegen: in 1. die externen, objektiven Strukturen sozialer Felder, 2. die internen Habitusstrukturen und 3. - gleichsam als ´Synthese´ des Aufeinandertreffens von Habitus und Feld - die (wiederum externen) Praxisformen.” (Schwingel 1995, S.70) Der Habitus fungiert als Vermittlung zwischen Struktur und Praxis. 50 Bourdieu 1987, S.114 51 Der Habitus tendiert zur Reproduktion, indem er “(...) alle Erfahrungen zu bevorzugen sucht, die dazu taugen, ihn selbst zu verstärken (...). Durch die systematische ´Auswahl´, die er zwischen Orten, Ereignissen, Personen des Umgangs trifft, schützt sich der Habitus vor Krisen und kritischer Befragung, indem er sich ein Milieu schafft, an das er so weit wie möglich vorangepaßt ist, also eine relativ konstante Welt von Situationen, die geeignet sind, seine Dispositionen dadurch zu verstärken, daß sie seinen Erzeugnissen den aufnahmebereitesten Markt bieten.” (Ebd.) 17 Gegensatz als zur Freiheit der Reflexion, zu den geschichtslosen Dingen mechanistischer Theorien nicht weniger als zu den ´trägheitslosen´ Subjekten rationalistischer Theorien.”52 Veränderungen des Feldes rufen also keine ´automatische´ Angleichung der Akteure an neue Bedingungen hervor, sondern einen Hysteresiseffekt53, d.h. ein Überdauern von Wahrnehmungs-, Denk-, und Handlungsschemata. Auch bei den genannten Schmiedevorfahren von Richard Schmidt waren die Voraussetzungen, unter denen der Habitus erzeugt wurde, andere als die Bedingungen, unter denen er schließlich praktiziert wurde. In diesem Fall gerieten Habitus und Feld in einen Widerspruch, der für die Angehörigen praktisch schwer vereinbar war.54 “(...) Praxis (ist) der Ort der Dialektik von opus operatum und modus operandi, von objektivierten und einverleibten Ergebnissen der historischen Praxis, von Strukturen und Habitusformen (...).”55 Die Kompexität und Besonderheit der Beziehung von Habitus und Feld liegt unter anderem in der relativen Eigenständigkeit des Habitus und der möglichen Ungleichzeitigkeit von Habitus und Feld begründet. Für die Untersuchung bedeutet dies, daß sich der Sinn der Praxis erst erschließt, “(...) wenn man die gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen der Habitus, der sie erzeugt hat, geschaffen wurde, und die gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen er angewandt wird, zueinander ins Verhältnis setzt (...).”56 3. Mentalitäten und Mentalitätsgeschichte Der bourdieusche Habitusbegriff ist eng verwandt mit dem Begriff der Mentalität, wie ihn Geiger versteht und unter anderem in seiner Untersuchung über “die soziale Schichtung des deutschen Volkes”57 entwickelt hat. In Abgrenzung von Ideologien, die er als “Gewand” bezeichnet, das folglich gewechselt werden kann, faßt Geiger die Mentalität im Bild der “Haut”, als dem Körper eigene und nicht beliebig veränder- 52 Bourdieu 1987, S.105 53 Vgl. Bourdieu 1982 54 Zum “Scheitern” des Habitus vgl. Abschnitt 4. in diesem Kapitel 55 Bourdieu 1987, S.98 56 Bourdieu 1987, S.105. “(...) die reale Logik des Handelns (stellt) (...) zwei Objektivierungen der Geschichte gegeneinander( ), die Objektivierung in den Leibern und die Objektivierung in den Institutionen.” (Ebd., S.106) Entsprechend faßt Bourdieu die Dialektik von Habitus und Feld auch als “(...) Leib gewordene und Ding gewordene Geschichte (...)”. (Bourdieu 1985, S.69) 57 Geiger 1987 [1932] 18 bare “geistig-seelische Disposition”.58 Mentalität beruht auf “Lebenserfahrungen”, ist “unmittelbare Prägung des Menschen durch seine soziale Lebenswelt”.59 Diese Prägung bezeichnet keinen passiven Vorgang im Sinne einer strukturdeterministischen Vorstellung, wenngleich Mentalitäten und Soziallagen korrespondieren. Sie stehen, so Geiger, in einem “Motivzusammenhang”60 bzw. “(...) im Verhältnis typischer (...) Entsprechung”.61 Diese Entsprechung ist aber “nicht strikt”62, weil Mentalitäten gegenüber Soziallagen relativ eigenständig wirksam sind. Geigers Schichtungsanalyse aus den 1930er Jahren trifft zwar im wesentlichen Aussagen über Typen von Wirtschaftsmentalitäten und nicht “(...) für die soziale Grundhaltung schlechthin (...)”.63 Sie enthält gleichwohl, auch in methodischer Hinsicht, wichtige Anregungen, die die typenbildende Mentalitätssoziologie aufgegriffen hat.64 Die vorliegende Fallstudie kann zudem am Ende an die inhaltlichen Ergebnisse der Untersuchung Geigers anschliessen.65 Dies zum einen, weil sich Geiger auf die Daten der Berufszählung von 1925 stützt und damit Schichtungsfragen für einen Zeitraum analysiert, der mit dem Ende des Untersuchungszeitraums der vorliegenden Arbeit übereinstimmt; zum anderen besteht zwischen den eigenen Ergebnissen und einem Resultat Geigers, das sich auf Übergänge und Zwischenformen von Mentalitäten bezieht, eine Übereinstimmung in grundsätzlicher Hinsicht. Mentalität, wie sie Geiger, und ebenfalls Rüschemeyer66, verstehen, erklärt sich aus dem Beziehungshandeln bzw. Gruppenzusammenhang von Menschen und stimmt darin wesentlich mit der Habitustheorie überein. Differenzen sehen Vester u.a. im jeweiligen Bezugsrahmen von Mentalität und Habitus, “(...) da sie - wenigstens tendenziell - den beiden verschiedenen Polen des Beziehungshandelns, den Vergemeinschaftungen einerseits und den Vergesellschaftungen andererseits, zugeordnet werden können. (...) Diese analytische Unterscheidung hat allerdings etwas Künstliches, da beide Pole innerhalb jeder Person und innerhalb der Lebens- 58 Ebd., S.77ff, hier S.78 59 Ebd., S.77 60 Ebd., S.12 61 Ebd., S.5 62 Ebd. 63 Ebd., S.81 64 Vgl. Vester/von Oertzen/Geiling/Hermann/Müller 1993 65 Vgl. Kapitel VI. und VIII. 66 Rüschemeyer 1958 19 praxis auch miteinander vermittelt sind.”67 Während sich Vester u.a. überwiegend für die Verwendung des Mentalitätsbegriffs entscheiden, wird in der anschließenden Untersuchung zur Familie von Richard Schmidt ausschließlich vom Habitus gesprochen. Damit soll auch Mißverständnissen vorgebeugt werden. Diese können leicht entstehen, weil die Fallstudie auf einen Untersuchungszeitraum bezogen ist, der sie in die Nähe der Forschungen im Bereich der “Mentalitätsgeschichte”, die anderen Ansätzen folgt, bringt. Die Mentalitätsgeschichte, ein “eigenständiger Teilbereich” bzw. “spezifischer Ansatz historischer Forschung”68, folgt nicht der Begrifflichkeit und Methodologie der Habitus- bzw. Mentalitätssoziologie, deren typenbildende Analyse direkt auf Max Weber und seine Rezeption durch Bourdieu zurückgeht. Die Mentalitätsgeschichte umschließt unterschiedlichste Auffassungen und Zugänge, “überspannt (...) einen ziemlichen weiten Bereich (...)”69, in dem Mentalität mit unbewußten wie kognitiven, mit ethischen und affektiven Dispositionen zusammengebracht wird.70 Problematisch ist, daß es keine ausgearbeitete Theorie der Mentalitäten gibt und die Diskussion anhaltend von der Frage mitbestimmt wird, was unter Mentalität zu verstehen sei. Diese Einschätzung findet sich in Aussagen von Mentalitätshistorikern aus den 1980er Jahren wie auch aus jüngster Zeit. In einem “(...) der sorgfältigsten Versuche, alle Bestimmungen des Mentalen bzw. der Mentalität, die in der bisherigen einschlägigen Literatur zu finden sind, zusammenzutragen und zu systematisieren”71, hatte Sellin 1985 unter anderem “(...) das Maß an Unsicherheit” verdeutlicht, “(...) das gegenüber dem Begriff Mentalität zumindest in Deutschland offenbar herrscht”.72 1987 stellte er fest, daß die “(...) Diskussion über Gegenstand, Ziele und Methoden der Mentalitätsgeschichte (...) nur zögernd in Gang (kommt) (...)”.73 Im gleichen Jahr faßte Raulff zusammen, daß es, wie “(...) mehrfach bemerkt worden 67 Vester/von Oertzen/Geiling/Hermann/Müller 1993, S.91f. “Mentalität und die ihr offenbar größere innere Komplexität und Widersprüchlichkeit verweisen darauf, daß sie sich eher auf die Vergemeinschaftungen in Familien, Nachbarschaften, Freundeskreisen, Vereinen usw. beziehen, die ja auch stärker von Gefühlsambivalenzen geprägt sind.” Habitus wird hingegen “(...) in der Literatur deutlicher, aber auch meist nicht konsequent, auf bestimmte Berufe oder spezialisierte Gruppen im Gefüge der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, also der Vergesellschaftung, bezogen.” (Ebd., S.91, Anm. 38) 68 Sellin 1985, S.557f 69 Raulff 1987, S.9 70 Ebd. S.9f. Zur Mentalitätsgeschichte, Mentalitäten und ihren unterschiedlichen Bestimmungen vgl. insbes. Sellin 1985, ders. 1987, Dinzelbacher 1993, auch Schöttler 1989. Zur französischen Mentalitätengeschichte vgl. Honegger 1977, Riecks 1989 71 Raulff 1987, S.9 72 Sellin 1985, S.560 73 Sellin 1987, S.112 20 (ist), keine Theorie der Mentalitäten oder gar des Mentalitätenwandels (gibt). Alles, was man hat, sind vage und problematische Definitionen (...).”74 Ähnlich fiel die Einschätzung von Kuhlemann noch 1996 aus: “Überblickt man die einschlägigen Arbeiten, bestätigt sich der Eindruck, daß die seit der ´Annales´-Schule´ viel besprochene, zum Teil euphorisch hochgejubelte Mentalitätsgeschichte bis heute zu keinem tragfähigen Konzept gefunden hat. Das Dilemma der Mentalitätsgeschichte beginnt schon damit, daß noch immer kein eindeutiger Mentalitätsbegriff in der Diskussion zu erkennen ist.”75 Kuhlemann vermerkt schließlich auch, daß, “(...) von wenigen Ausnahmen abgesehen, überzeugende empirische Studien für das 19. und 20. Jahrhundert (fehlen).”76 Dazu, daß die “Debatte (...) seit kurzem (...) auf eine systematisierende Betrachtung hinzusteuern (scheint)”77, haben unter anderem die Arbeiten Sellins beigetragen. Seine Auffassungen kommen den Vorstellungen eines Habituskonzeptes teilweise recht nahe. So bezeichnet Sellin Mentalität als ein “durchgängiges Handlungsprinzip”78, das einen “Handlungsspielraum” enthält, “innerhalb dessen ein Akteur oder ein Kollektiv unter Berücksichtigung seiner wirtschaftlichen, technischen, rechtlichen und anderen realen Möglichkeiten wirken kann.”79 Dem Anspruch der vorliegenden Untersuchung kommt auch der Vorschlag entgegen, “(...) mentalitätsgeschichtliche Fragestellungen von vornherein in einen engen Zusammenhang mit der gesamten materialen Lebens- und Entscheidungssituation”80 zu bringen. Offen bleibt vorerst, wie dieser Zusammenhang theoretisch aufzufassen und operationalisierbar ist. Hier bieten sich aber Möglichkeiten, an die Analyse von Beziehungsstrukturen, Feld- und Handlungslogiken im Sinne der Theorie Bourdieus anzuschließen. Zuzustimmen ist schließlich auch der Auffassung, die innerhalb der deutschen Mentalitätsgeschichte vertreten wird, daß nämlich Mentalitäten grundsätzlich gruppenspezifisch sind und nicht gleichlautend für eine ganze Gesellschaft gelten. In diesem Punkt grenzt sich Sellin eindeutig von Ansprüchen ab, jeweils Mentalitäten einer Epoche zu erfassen, wie sie teilweise bei Vertretern der ´Annales´-Schule bestehen. Ohne die Unterscheidung sozialer Gruppen können 74 Raulff 1987, S.9 75 Kuhlemann 1996, S.182. 76 “Das gilt nicht nur für Deutschland, wo der Forschungsstand insgesamt unterentwickelt ist, sondern tendenziell auch für Frankreich und England, wo die Mentalitätsgeschichte vornehmlich auf die Vormoderne konzentriert blieb.” (Ebd., S.183, Anm. 3) 77 Ebd., S.182 78 Sellin 1987, S.102 79 Ebd., S.103 80 Ebd., S.118 21 diese Untersuchungen, so Sellin, “allenfalls eine Elitenkultur” beschreiben.81 In anderer Hinsicht kommt die vorliegende Arbeit der Auffassung der “französischen Geschichtsschreibung” (Sellin) sehr nahe, wonach Mentalitäten ein bestimmter Trägheitseffekt zu eigen ist. In der “longue durée”, der “Geschichte des langen, selbst des sehr langen Zeitablaufs”,82 verzeichnet Braudel Strukturen als “(...) eine Realität, die von der Zeit wenig abgenutzt und sehr lange fortbewegt wird.” 83 Von ähnlicher “Dauerhaftigkeit” geprägt wird hier auch der “kulturelle( ) Bereich” verstanden und die “Kontinuität eines Verhaltens” festgestellt.84 “(...) im ökonomischen Bereich (verdecken) Zyklen, Zwischenzyklen, strukturelle Krisen (...) die Regelmäßigkeit, die Beständigkeit der Systeme (...), d.h. die Fortdauer alter Gewohnheiten des Denkens und Handelns, widerstandsfähiger, manchmal wider jeder Logik zählebiger Rahmen.”85 In dieser Frage nach der Dauer von Mentalitäten bestehen eindeutige Differenzen mit den deutschen Mentalitätshistorikern, in deren verschiedenen Ansätzen Mentalitäten “eine ganz unterschiedliche Tiefendimension, eine ganz verschiedene soziale Reichweite und dementsprechend je verschiedene Zeitstruktur aufweisen können”.86 Sellin schließlich geht davon aus, daß “namentlich der große Bruch zwischen vorrevolutionärem und demokratisch-industriellem Zeitalter (...) zugleich mit einem Umbruch der Mentalitäten verbunden (ist)”.87 Diese Auffassung wird in der hier vorliegenden Untersuchung nicht bestätigt. Sie zeigt vielmehr, daß bestimmte Grundmuster des Habitus in Beziehung zum Feld zwischen dem 18. und dem beginnenden 20. Jahrhundert zwar verschieden variiert, aber nicht vollkommen verändert werden. Weder die Mentalitäten noch die Gesellschafts- und Wirtschaftsverfassung waren vor dem ´industriellen Zeitalter´ völlig anders.88 Erkennbar wird dies in der Analyse der Beziehung zwischen Praktiken und Deutungsmustern unterschiedlicher Generationen der Familie von Richard Schmidt und in der Analyse 81 Ebd., S.109 82 Braudel 1977 [1972], S.50 83 Ebd., S.55 84 Ebd., S.56 85 Ebd., S.57 86 Sellin 1987, S.107 87 Ebd. 88 Darauf verweist vor allem auch die Forschung zur Protoindustrialisierung. Von Friedeburgs Untersuchung zum wirtschaftlichen und sozialen Wandel innerhalb der ländlichen Gesellschaft während des 18. und 19. Jahrhunderts belegt ebenfalls kontinuierliche Strukturen und Erfahrungen. (Vgl. von Friedeburg 1997) 22 der Entwicklung der Beziehung von Habitus und Feld. Sellin hingegen fordert, “Ereignisse” in ihrer Wirkung auf Mentalitäten zu untersuchen und “(...) den Zusammenhang der Strukturen, in denen ein Mensch oder eine Gesellschaft in einem historischen Augenblick steht, in den Blick (zu) nehmen”.89 Der Feststellung, daß “nur unter Einbeziehung dieser beiden Perspektiven”, Mentalität und Strukturen, “Aufklärung über den Wandel von Mentalitäten” zu erwarten sei,90 ist zwar zuzustimmen. Allerdings läßt sich auf der Grundlage “strukturgeschichtliche(r) Situationsanalysen”91 die Frage nach der Dauer von Mentalitäten nicht beantworten. 4. Umstellungen und Habitusmetamorphosen Die Auffassung von Sellin, der einen “Umbruch der Mentalitäten” am Beginn und einen “(...) beschleunigte(n) Mentalitätswandel” auch “innerhalb der industriellen Epoche”92 annimmt, findet sich bereits im “Kommunistischen Manifest” von Friedrich Engels und Karl Marx. Es war auch Bezugspunkt für Beck, der Anfang der 1980er Jahre die zweistufige Grundfigur seiner Individualisierungsthese formuliert hat.93 Für die erste Stufe des Individualisierungsprozesses beruft er sich auf die Diagnose von Marx und Engels, wonach wirtschaftliche Modernisierungen örtliche und berufliche Wanderungen auslösen, in denen die Menschen ihre alten identitätsstiftenden Milieus verlassen und damit ihre alten Zusammenhänge und Identitäten verlieren.94 Im zweiten Entwicklungsschritt treten sie in neue Lebens- und Arbeitszusammenhänge ein. Von der Art dieser Zusammenhänge hängt es, Beck zufolge, dann ab, welche neue Identität sie erwerben. Unter den von Marx und Engels beschriebenen Bedingungen des Elends, der Unsicherheit und Herrschaft werden sie gezwungen, sich zu einer neuen Klasse, der Arbeiterklasse, mit ihrer spezifischen Mentalität zu 89 Ebd., S.102 90 Ebd. 91 Ebd., S.107 92 Ebd. Sellin spricht Mentalität zwar auch Einfluß auf “(...) die Bewegungen und Entwicklungen” zu, der aber vage bleibt: sie “(haben) mitgelenkt, verzögert oder beschleunigt (...)”. Letztlich “(bleibt) die Sinndeutung der Wirklichkeit (...) auf diese bezogen und wandelt sich mit ihr.” (Ebd.) 93 Beck 1983. Beck entwickelt seine These hier bewußt “genau spiegelbildlich zur Marxschen Argumentation”. (Ebd., S.48) 94 Ebd., S.47f. Beck versteht Marx als einen “der entschiedendsten ´Individualisierungstheoretiker´”, demzufolge die Menschen nicht nur im Übergang zum Industriekapitalismus aus feudalen Banden freigesetzt, sondern auch innerhalb des Kapitalismus “(...) in immer neuen Wellen aus den familialen, nachbarschaftlichen, beruflichen und kulturellen Bindungen herausgelöst und in ihren Lebenswegen durcheinandergewirbelt (werden).” (Ebd., S.47) 23 entwickeln. Die heutige Situation definiert Beck idealtypisch entgegengesetzt, als Freiheit von Not und äußeren Zwängen.95 Unter diesen Bedingungen sind die Menschen freigesetzt, ihre Lebensstile und Milieuzugehörigkeiten frei zu wählen und zu entwickeln.96 Diese idealtypische Entgegensetzung, wonach entweder Kontinuität oder Wandel, entweder Determinismus oder Willensfreiheit herrscht, hat seit den 1980er Jahren weite Teile der soziologischen Diskussion bestimmt,97 ist aber nicht unwidersprochen geblieben. Theoretisch und empirisch formulierte Einwände konnten sich 95 Vgl. ebd., S.46f. Der Bezug zu Marx zeigt, daß “Individualisierungsschübe” keineswegs neu sind. In der Phase der wohlfahrtsstaatlichen Entwicklung sei vielmehr neu, daß “die Bedingungen der Klassenformierung durch materielle Verelendung, wie sie Marx vorausgesagt hat, überwunden (...)” sind, und zwar vor allem durch “allgemeine wirtschaftliche Prosperität und damit verbundene Vollbeschäftigung, Ausbau des Sozialstaates, Institutionalisierung gewerkschaftlicher Interessenvertretung, Bildungsexpansion, Erweiterung des Dienstleistungssektors und so eröffnete Mobilitätschancen, Reduzierung der Arbeitzeit usw.” Das typische “Kollektivschicksal am Arbeitsmarkt” sei nicht mehr in Risiken der sozialen Sicherheit (Arbeitslosigkeit, Dequalifizierung, materielle Not) gebunden (ebd., S.41), so daß der Anreiz zur Solidarisierung abnehme. Ebenso stifteten die hierarchischen Strukturen im enorm anwachsenden Angestellten- und Dienstleistungssektor, wohin seit den 1960er Jahren vor allem Arbeiter übergewechselt sind, und die Bedingungen im Bildungssystem unter Gleichen eher Konkurrenz als Solidarität. (Vgl. ebd., S.45ff) Auch die zunehmende Vielfalt und Diskontinuität der zuvor eher standardisierten Erwerbsverhältnisse verstärke die Tendenz zur individuellen Zukunftsplanung. (Vgl. ebd., S.46f) Zugleich sei die Erwerbsarbeit im Lebenslauf immer weniger zentral, so daß die Lebenswelt als Gestaltungsraum zunehmend wichtiger werde. 96 Die vom Arbeitsmarkt verursachten geographischen Mobilitätsschübe befördern die “Enttraditionalisierung” dieser Lebenswelt. Nach Ansicht von Beck verstärken sie die Tendenz zur Auflösung der früheren “klassenkulturellen” Gemeinsamkeiten und der Milieu-, Berufs-, Betriebs- und Regionalbindungen. (Vgl. ebd., S.41). Aus engen und homogenen traditionalen Nachbarschaften gelangen die Menschen in sozial gemischte und locker vergemeinschaftete moderne Groß- und Kleinstadtsiedlungen, in denen die solidarische Hilfe, aber auch die Kontrolle sozialer Konformität geringer wird. Die Lebensstile und Familienformen werden zunehmend vielfältig und diskontinuierlich. (Vgl. ebd., S.42) Die isolierte Hausarbeit, innerfamiliale Individualisierungen bzw. das SingleDasein verstärken das “Beziehungsvakuum”, so daß das Subjekt selbst zum “entscheidenden und aktiven Gestalter” seiner lebensweltlichen Beziehungen werden muß. (Vgl. ebd., S.50ff) In dieser Situation, in der sich die Menschen nicht mehr an vorgegebene Zusammenhänge und Muster halten müssen, gewinnen sie neue Spielräume für die Entscheidungen über Ausbildung, Beruf, Wohnort, Familienform usw., die sie aber auch selbst verantworten müssen. Das Individuum wird Handlungszentrum, Biographien werden “selbstreflexiv”. (Vgl. ebd., S.58f) 97 Dabei bestätigen einige Soziologen der Individualisierung und Pluralisierung der Lebensstile noch das Fortbestehen zumindest von Überresten klassengebundener Milieus (vgl. u.a. Hradil 1987, Kreckel 1992), was teilweise auch auf Beck zutrifft. Andere Theorien versuchen, die Teilung in gesellschaftliche Klassen weitestgehend durch die Klassifikationen nach Geschlecht und Ethnie, Lebensstil und Kulturgruppe zu ersetzen. Die abstrakte Gegeneinanderstellung von Klasse und Geschlecht usw. schließt aus, daß diese Ungleichheiten auf bestimmte Weise mit den Unterschieden der Gesellschaftsklassen kombiniert und verflochten sein können. Als von dieser Sicht ausgenommen sind insbes. die Arbeiten von Frerichs/Steinrücke hervorzuheben, deren Analysen zum Verhältnis von Klasse und Geschlecht an die bourdieusche Theorie anschließen und die auch empirisch begründet sind. (Vgl. u.a. Frerichs/Steinrücke 1997a, 1997b) Dies gilt entsprechend für die Untersuchung von Völker (1994). Besonders ´radikal´ schließlich verfahren die Theorien der Bastel-Identitäten und des Konstruktivismus, nach denen soziale Beziehungen nicht in historisch verfestigten Formen wirksam sind, sondern sich jeweils erst in unmittelbaren Interaktionen herstellen. (Vgl. z.B. Hitzler 1994, Hitzler/Honer 1994) 24 dabei auch auf Arbeiten stützen, die vor der neueren ´Individualisierungsdebatte´ verfaßt wurden: Die umfassend empirisch belegte historische Kritik von Thompson98 richtet sich gegen die Widerspiegelungsthese eines orthodoxen Marxismus, an die sich Beck anlehnt. Thompson weist nach, daß entsprechende Deutungsmuster bereits nicht allgemein zutrafen, als sie im “Kommunistischen Manifest” formuliert wurden. Schon in der industriellen Revolution durchliefen die sozialen Gruppen, aus denen sich die Industriearbeiterschaft rekrutierte, mehrheitlich nicht eine Phase der völligen Auflösung und Anomie, um dann neu zur Arbeiterklasse verschmolzen zu werden. Sie hatten vielmehr ihre früheren Mentalitäten, Vergemeinschaftungsweisen und Protesttraditionen mitgenommen und auf die neuen Bedingungen des Industriekapitalismus umgestellt. Andere Untersuchungen kommen zu ähnlichen Ergebnissen: Vester bezeichnet die Umstellung als historischen Lernprozeß, verstanden als Transformation im Sinne einer Umwandlung;99 Geiling betont stärker noch die Beharrlichkeit von Identitäten.100 Die Birminghamer Kultursoziologie, die Thompsons Ansatz nahesteht, hat versucht, diese Wandlungsprozesse methodologisch und theoretisch zu präzisieren;101 dies am Beispiel der Jugendkulturen, für die eine symbolische Verarbeitung der eigenen Klassensituation nachgewiesen wird, die sich von der “Stammkultur” der Elterngeneration abgrenzt, dabei aber deren tradierte Deutungsmuster mitnimmt. Die theoretische Kritik am Gegensatzpaar von Objektivismus und Subjektivismus, die durch die wissenschaftlichen Richtungen des Strukturalismus und der Phänomenologie vertreten werden, ist vor allem von Bourdieu ausgearbeitet worden.102 Karrer103 bezieht diese Kritik direkt auf die empirische Habitusanalyse. Er verweist auf zwei Mängel der Beckschen Individualisierungstheorie. Zum einen werde das Individuum “(...) zu wenig soziologisch konstruiert. (...) Die Entgegensetzung von Determiniertheit und Freiheit als zwei voneinander geschiedenen Zuständen ist nicht haltbar. (...) Wahlen können individuelle sein und kollektiven Mustern folgen, ohne daß diese Regelmäßigkeiten durch äußere Normen hergestellt worden wären. 98 Thompson 1987 [1963] 99 Vester 1970 100 Geiling 1985 101 Vgl. Clarke/Hall u.a. 1979 102 Vgl. insbes. Bourdieu 1979, ders. 1987 103 Karrer 1998 25 (...) Das liegt an der Inkorporierung sozialer Bedingungen, am Habitus (...).”104 Zum anderen fehle die Verknüpfung mit einer Strukturtheorie sozialer Unterschiede.105 Karrer bringt die Individualisierungstheorie in seiner Untersuchung “(...) mit einem feldtheoretischen Modell sozialer Unterschiede und einem Begriff des ´Habitus´ (...)” zusammen, “(...) die erlauben, Akteure innerhalb von sozialen Beziehungen zu sehen und ihr Verhalten als sozial geprägt zu begreifen.” 106 Zu den Problemen in der Kontroverse um die Individualisierungstheorie gehört, daß systematische Untersuchungen über Unterschiede und Gemeinsamkeiten von herkömmlichen Habitusmustern und Milieukonstellationen, die grundlegend sind, um Aussagen über gesellschaftlichen Wandel zu treffen, noch immer die Ausnahme sind. Die hannoversche Mentalitäts- bzw. Habitussoziologie hat in diesen neueren Auseinandersetzungen über Kontinuität und Diskontinuität einen Mehr-EbenenAnsatz entwickelt, auf dessen Grundlage sie die Beziehungsstruktur und Entwicklung von Habitus, Milieuzusammenhängen und Sozialstruktur systematisch untersucht.107 Dieser Ansatz von Vester u.a. greift insbesondere die Theorie Bourdieus und die Studien von Thompson und der Birminghamer Kultursoziologie auf. Auf der Ebene des Habitus analysiert die hannoversche Forschungsgruppe den Wandel durch intergenerationellen Vergleich; dies auf der Grundlage von ZweiGenerationen-Interviews108 mit Angehörigen jeweils derselben Familie, ein In- 104 Ebd., S.26f 105 Die Lebensstilforschung, so Karrer, könne mit linearen Schichtungsmodellen, groben empirischen Klassifikationen der Lebensstile und substantialistischen Interpretationen die horizontalen Gruppenunterschiede, die Zuordnung von Lebensstilen zu bestimmten Gruppen und die Varianten des Habitus nicht ermitteln. (Ebd., S.28f) 106 Ebd., S.47 107 Vgl. zuerst Vester/von Oertzen/Geiling/Hermann/Müller 1993. Soziale Milieus bezeichnen gewissermaßen den Zusammenhang, in dem die Beziehung von Habitus und Sozialstruktur gelebt und hergestellt wird. Die Angehörigen eines Milieus sind durch gemeinsame Deutungsmuster und ähnliche objektive Positionen miteinander verbunden und von anderen Milieus geschieden. “Als historische Erfahrungsgemeinschaften sind Milieus (...) als reale Beziehungszusammenhänge zu verstehen, in denen bestimmte Weltdeutungen und Mentalitäten der Menschen zusammenfallen und gegenüber denen anderer Milieus abgegrenzt werden.” (Geiling 1996, S.11) 108 Die Forschung mithilfe von Zwei-Generationen-Interviews wurde auch angeregt von Studien, die zwar nicht mit diesem Instrument arbeiten, die aber schon zu Beginn der 1980er Jahre die Frage nach dem intergenerationellen Wandel thematisierten und damit in der damaligen wissenschaftlichen Diskussion zum Thema Kontinuität und Diskontinuität zu den Ausnahmen gehörten. Zu ihnen zählt die Ruhrgebietsstudie von Niethammer u.a. (1986), die auf “Volkserfahrung” auch vor 1945 zurückgreift, um der “Kontinuitätsproblematik” deutscher Zeitgeschichte nachzugehen. Zu nennen ist außerdem der Ansatz von Preuss-Lausitz u.a. (1991), der unterschiedliche Generationserfahrungen infolge verschiedenartiger Sozialisationsvoraussetzungen seit dem Zweiten Weltkrieg herausstellt. Trotz späterer Neuauflagen haben beide Arbeiten in der Auseinandersetzung innerhalb der Sozialwissenschaften keine breitere Rezeption erfahren. 26 strument, das zuerst in einer größeren Untersuchung über neue soziale Milieus und die Veränderungen der Sozialstruktur in Westdeutschland zahlreich erprobt worden ist.109 In diesem Kontext wurde auch das Konzept der Habitusmetamorphose und der Habitusstammbäume entwickelt.110 Danach ereignet sich der Wandel von Habitusdispositionen und Sozialmilieus hauptsächlich als eine Abwandlung von Mustern der jeweiligen Stammkultur durch die nachfolgende Generation, die gegenüber ihren Eltern teilweise anderen Erfahrungen ausgesetzt ist.111 Das Konzept der Habitusmetamorphose arbeitet die längerfristige Entwicklung von Deutungsmustern stringenter und umfassender aus als Bourdieu, der im Blick auf Umstellungsstrategien insbesondere “(...) die Umstellung von einer gegebenen Kapitalsorte auf eine andere (...)” diskutiert.112 Die Konsequenzen dieser “(...) Umstrukturierung des Systems der Reproduktionsstrategie (...)”113 auf der Ebene von Alltagshandeln und Deutungsmustern werden eher ´nebenbei´, im Zuge der jeweiligen Gesamtdarstellung des Habitus der einzelnen Klassen und Fraktionen, ersichtlich. 114 Die These, daß Grundmuster des Habitus in der Generationenfolge variiert, aber nicht grundlegend verändert oder vollkommen ´ausgewechselt´ werden, konnte inzwischen in weiteren Projekten der hannoverschen Forschungsgruppe und in einer Reihe von Einzelfallstudien bestätigt werden.115 Dies, anders als in der vorliegenden Untersuchung, die einem umfassenderen Zeitraum ohne ´Selbstauskünfte´ der Familienangehörigen von Richard Schmidt nachgeht, jeweils für zwei Generationen und auf der Grundlage von Interviews. Dabei hat sich auch gezeigt, daß selbst gravierende und plötzliche strukturelle Brüche und Veränderungen der individuellen Lage nicht zur Aufgabe herkömmlicher Habitusmuster und der Vergemeinschaftungen führen. Im Gegenteil belegen Untersuchungen in Ostdeutschland, daß die 109 In diesem Forschungsprojekt wurden 24 mehrstündige lebensgeschichtliche Interviews und, darauf aufbauend, etwa 220 weitere themenzentrierte Interviews zu zentralen Lebensbereichen geführt. Befragt wurden jeweils Töchter und Mütter bzw. Söhne und Väter. 110 Vgl. Müller 1990, Vester/von Oertzen/Geiling/Hermann/Müller 1993 111 Zu den Ergebnissen und der Typologie gewandelter Mentalitäten vgl. ebd., S.207ff 112 Bourdieu 1982, S.210. Zu den Umstellungsstrategien vgl. insgesamt ebd., S.210ff 113 Ebd., S.210 114 Beispielsweise werden in der Analyse der Oberklassen Differenzen zwischen den Angehörigen unterschiedlicher Generationen und ´Wanderungen´ im Sozialraum behandelt. Vgl. ebd., S.405ff 115 Zu Beginn der 1990er Jahre wurde die Forschung auf Ostdeutschland, gemeinsam mit berliner und leipziger Partnergruppen, erweitert. Vgl. Vester/Hofmann/Zierke 1995, vgl. auch die Kurzdarstellung bei Lange/Völker 1996. An Einzelfallstudien, die der Frage nach intergenerationeller Kontinuität und Diskontinuität der Habitusmuster an Beispielen aus West- oder Ostdeutschland nachgehen, sind aus dem unmittelbaren Forschungszuammenhang unter anderem zu nennen: Müller 1990, Schwarzer 1991, ders. 1998, Gardemin1995, Bremer 1995, Lange 1996. Vgl. außerdem Hofmann/Rink 1993 27 Strategien zur Bewältigung der ´Wende´ unmittelbar an Deutungsmuster und Praktiken anschliessen, die aus der DDR ´mitgenommen´ wurden.116 Hofmann zeigt darüberhinaus für die Kohlearbeiter in der Region Leipzig, daß die Strategien in diesem Arbeitermilieu auf eine Zeit zurückgehen, in der es die DDR noch nicht gab.117 Daß einschneidende Veränderungen der individuellen Situation in bestehende Deutungsmuster integriert werden, verdeutlicht auch das untersuchte Beispiel Lothar Ladowskys, der durch einen Lottogewinn schlagartig vom Sozialhilfeempfänger zum mehrfachen Millionär wurde.118 Dieser Fall zeigt die relative Unabhängigkeit des Habitus “(...) von den äußeren Determiniertheiten der unmittelbaren Gegenwart”119 in einer Variante, die gewissermaßen das “Scheitern” eines Habitus belegt, das auf die spezifische Beziehung zu seinem Handlungsfeld und seinen Möglichkeiten zurückzuführen ist.120 Lothar Ladowskys Habitus beruht auf Erfahrungen, unterprivilegiert zu sein. Nach seinem Lottogewinn gibt er seine als erniedrigend empfundenen und nie gern ausgeführten Nebenerwerbstätigkeiten auf. Er hat fortan Zeit, die schwer zu füllen ist. Lothar Ladowsky verläßt seinen Heimatort, in dem er 50 Jahre verbracht hat. Darunter und auch zuvor schon durch den Lottogewinn, der ihn im Freundeskreis zum Ungleichen unter Gleichen macht, leiden seine sozialen Beziehungen, die er aber nicht durch andere ersetzt. Lothar Ladowsky verhält sich zur Individualisierungsthese von Beck im Widerspruch. Seine Lebensführung zeigt anomische Tendenzen, die auf einem Spannungsverhältnis beruhen, in dem der Lottogewinner seinem Habitus nach Angehöriger seines Herkunftsmilieus oder seiner Stammkultur bleibt, von der er sich der Lage nach entfernt hat. Dieses Spannungsverhältnis zwischen Habitus und Feld läßt sich auch für die Vorfahren in einer der Familienlinien von Richard Schmidt feststellen. Ihm geht nicht, wie im Fall Ladowsky, ein Zugewinn an Kapital voraus, sondern eine gefährdete soziale Position, die zugleich die inkorporierten Handlungs- und Deutungsschemata in Frage stellt. Diese Familienlinie von Richard Schmidt blickt auf eine lange Schmiedetradition zurück, deren Existenz durch die protoindustrielle Entwick- 116 Vgl. Schwarzer 1991, Lange 1993, Völker 1996. Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang auch an die Marienthal-Studie, in der Jahoda u.a. feststellten, daß die marienthaler Arbeitslosen nach dem Zusammenbruch der örtlichen Industrie ebenfalls Kontinuität in den “Haltungen” aufwiesen. Vgl. Jahoda/Lazarsfeld/Zeisel 1975 117 Vgl. Hofmann 1995 118 Vgl. Isert 1998, vgl. auch Lange-Vester 1998 119 Bourdieu 1987, S.105. Vgl. auch Abschnitt 2. in diesem Kapitel 120 Vgl. dazu Schwingel 1995, S.73ff 28 lung zwar nicht entbehrlich wird; im Zusammenhang mit rückläufigen materiellen Besitzverhältnissen und Verlusten an sozialem Kapital werden die Angehörigen aber doch zu Umstellungen genötigt. Die Beharrlichkeit, mit der sie an Traditionen festhalten, führt einen der direkten Vorfahren von Richard Schmidt schließlich zumindest in die Nähe des “Scheiterns” seines Habitus. In den anderen Familienlinien stellt sich das Überdauern der Grundmuster des Habitus anders dar; es zeigt sich hier gerade in der Fähigkeit zur Umstellung, die eine wesentliche Ressource darstellt. Die unterschiedlichen Muster, denen die Vorfahren von Richard Schmidt folgen, lassen sich einerseits auf historisch und dauerhaft je verschiedene Positionen im sozialen Feld und damit verbundene Differenzen in der Ausstattung mit Kapital jeder Art zurückführen; andererseits erweisen sie sich als demgegenüber auch eigenständig.121 5. Soziale Kohäsion Der Begriff der sozialen Kohäsion hat in der klassischen Tradition der Soziologie einen hohen Stellenwert, der, vor allem bei Durkheim und auch bei Weber, auf der erkenntnisleitenden Frage nach dem Zerfall sozialen und moralischen Zusammenhalts aufgrund der kapitalistischen Modernisierungsschübe am Ende des 19. Jahrhunderts gründet.122 Dabei sind die einzelnen Mechanismen der Vergemeinschaftung (Weber) bzw. der cohésion sociale (Durkheim, Mauss) nur verhältnismäßig allgemein bestimmt. So kann Vergemeinschaftung “(...) auf jeder Art von affektueller oder emotionaler oder aber traditionaler Grundlage ruhen (...)”.123 Bei Durkheim bzw. Mauss stehen die gesellschaftlichen Teilungen und Abgrenzungen kohäsiver Gruppen im Vordergrund, ohne daß dies für die einzelnen gesellschaftlichen Milieus spezifiziert ist. Eine spezifische und operationalisierbare Bestimmung dessen, was Vergemeinschaftung oder soziale Kohäsion schafft und reproduziert, wird erst möglich, wenn die einzelnen Handlungs- und Bewertungsschemata des Habitus in diese Richtung herausgearbeitet werden. Dieses Vorgehen hat zwei Vorteile: Zum einen können diese Schemata für verschiedene Milieus getrennt ermittelt werden, d.h. als Schemata, durch die sich die sozialen Milieus voneinander unterscheiden und aktiv abgrenzen. Wenn sie näher bestimmt sind, läßt sich zum anderen die soziale 121 Vgl. dazu insbes. die Abschnitte 2.1.2., 2.2.2 und 2.3. in Kapitel IV. 122 Durkheim 1992 [1930], Weber 1980 [1921/22] 123 Weber 1980 [1921/22], S.22 29 Kohäsion untersuchen, die nicht nur durch gleichartige, sondern auch durch verschiedene, d.h. insbesondere komplementäre, einander ergänzende Schemata, gestiftet wird. Diese Komplementarität zeigt sich auch bei den Vorfahren von Richard Schmidt und in den sozialen Beziehungen derjenigen, mit denen seine Vorfahren durch Heiraten oder Patenschaften verbunden waren.124 Sie bestand darin, daß Angehörige verschiedener sozialer Milieus dauerhafte Beziehungen zueinander unterhielten. Diese Beobachtung wirft die Frage auf, was Personen und Gruppen mit einem bestimmten Habitus bewegt, sich mit Gruppen einer anderen Traditionslinie zu verbinden. Die Antwort darauf lag in diesem Fall, darauf deutet das empirische Material, in der Logik der sozialen Mobilität der Milieus. Verbindungen kamen immer nur zwischen sozialen Milieus zustande, die im sozialen Raum benachbart waren, d.h. die Habitusdifferenzen waren nicht ´grundsätzlicher´ Art, sondern eher relativ und alltagspraktisch nicht so bedeutsam wie es zunächst, ohne nähere Kenntnis der Vergemeinschaftungen, den Anschein hat. Das bedeutet, daß nicht nur die Analyse des Habitus die Kohäsion sozialer Gruppen zu spezifizieren ermöglicht, sondern daß umgekehrt auch die Analyse der Vergemeinschaftungen Aufschluß über Nähe und Distanz von Habitusformen gibt. Die Mobilisierung von Kontakten zum Nachbarmilieu hin geschah im Fall der Vorfahren von Richard Schmidt nicht beliebig, sondern regelmäßig dann, wenn durch Positionsverluste im ökonomischen Feld ein sozialer Abstieg in dieses Nachbarmilieu unvermeidlich wurde und entsprechende Verbindungen auf der Ebene der Vergemeinschaftungen ´folgerichtig´ wurden. D.h., daß es gab in diesem Fall nicht nur berufliche Mobilität, sondern ein begrenzte Milieumobilität. Mit ihr verbunden waren Umstellungen auf den Kohäsions- und Reproduktionsmodus der jeweiligen Bezugsgruppe, der aber nicht vollkommen übernommen wurde.125 Für die Theorie sozialer Klassen und Milieus bedeutet dies, daß sowohl nach Mobilitätswegen im Feld wie auch nach den Repertoires des Habitus die Verlaufswege der untersuchten Familie innerhalb eines begrenzten Ausschnitts des sozialen Raums entwickelt wurden. Damit zeigt sich am historischen Material, daß verwandtschaftliche Gemeinschaften gewissermaßen als “Schicksalsgemeinschaften” strukturiert sind, die sich auf spezifische Situationen umstellen müssen, beispielsweise, wie in diesem Fall, von Strategien der ´Respektabilität´ und Kontinuität auf Strategien der flexibeln und improvisierten Nutzung von ´Gelegenheiten´, etwa im Erwerbsleben. Hier jedoch setzen quasi vorprogrammierte Brüche ein, wie im Fall 124 Vgl. Abschnitt 2.3. in Kapitel IV. 125 Vgl. Abschnitt 2.4. in Kapitel IV. 30 des bereits erwähnten Schmieds, der Züge von Anomie und eines ´scheiternden Habitus´ aufweist.126 Die Grundmuster sozialer Kohäsion und des Habitus, die für die verschiedenen Linien der Familie von Richard Schmidt herausgearbeitet und in einer Synopse zusammengefaßt werden,127 unterscheiden die Handlungsebenen der Vergemeinschaftung, Vergesellschaftung und des Kampfes bei Max Weber, wobei ´Kampf` in Form von Interessenvertretung und Krisenstrategien gefaßt wird. Die Untersuchung folgt hier dem Vorgehen der hannoverschen Forschungsgruppe128; die analytische Unterscheidung ermöglicht eine systematische Bearbeitung der Frage, inwieweit die jeweiligen Handlungsebenen auch als relativ autonome gelten oder durch ökonomische Entwicklungen auf der Ebene der Vergesellschaftung völlig determiniert sind. Die vorliegende Arbeit zeigt, daß die verschiedenen Bereiche sozialen Handelns zwar eng aufeinander bezogen sind und die Entstehung von Habitusmustern auf Erfahrungen zurückgeht, für die eine bestimmte soziale Position ausschlaggebend ist; zugleich aber führen Veränderungen der Soziallage nur zu Varianten in Habitus und Vergemeinschaftungen und nicht zu gravierend anderen Mustern. 6. Operationalisierung und Aufbau der Arbeit Das zugängliche Material gibt vor allem über die Positionen Auskunft, die die Familienangehörigen über die Jahrhunderte im sozialen Raum eingenommen haben, die sie erreichen konnten oder hinnehmen mußten. Methodologisch müssen jeweils die Beziehungen zwischen der Vergesellschaftung, der Vergemeinschaftung und dem Habitus in ihrer zeitlichen Entwicklung nachgezeichnet oder durch Kontextwissen erschlossen werden: a) Die Positionen im Raum der Erwerbspositionen, die sich durch, für die Individuen nicht berechenbare, Entwicklungen beispielsweise der ländlich-gewerblichen Heimarbeit teilweise verschoben, sind an den Berufsangaben einerseits und an den allgemeinen und lokalen wirtschaftsgeschichtlichen Rahmendaten andererseits abzulesen. 126 Vgl. vorangegangenen Abschnitt 4. 127 Die Synopsen finden sich auf den Seiten 264 und 301. Zur Diskussion der Grundmuster sozialer Kohäsion und des Habitus vgl. insbes. Abschnitt 2.3. in Kapitel IV. 128 Vgl. zuerst Vester/von Oertzen/Geiling/Hermann/Müller 1993 31 b) Die Vergemeinschaftungen im Verwandten-, Paten- und Nachbarschaftsnetz, die immer auch eine Bedeutung oder Funktion in der Bewältigung der unter a) beschriebenen Bedingungen des Feldes hatten, sind vor allem in den Kirchenbüchern dokumentiert. c) Der Habitus selbst kann aus den unter a) und b) angegebenen Verhältnissen nicht direkt näher erschlossen werden. Die Analyse muß hier berücksichtigen, daß sich Praktiken nicht allein aus der unmittelbaren Beziehung zum Handlungsfeld erklären lassen, sondern aus der Beziehung zwischen den Entstehungsbedingungen des Habitus und den jeweils gegenwärtigen Bedingungen des Feldes, in denen er praktiziert wird.129 Die Merkmale, aus deren Zusammenhang und Struktur der Habitus in der Analyse Schritt für Schritt erschlossen werden soll, die in den Habitus eingehen, lassen sich in diesem Zusammenhang genauer angeben. Bourdieu bestimmt die Konstruktionsprinzipien und -merkmale einer sozialen Klasse und des “Klassenhabitus”130, die aber ebenso für einzelne Akteure als Angehörige einer sozialen Klasse gelten und hier herangezogen werden können. Im jeweils persönlichen oder individuellen Habitus unterscheiden sich die Angehörigen einer Klasse zwar, weil sie nicht “(...) dieselben Erfahrungen gemacht haben, und dazu noch in derselben Reihenfolge, doch ist gewiß, daß jedes Mitglied einer Klasse sehr viel größere Aussichten als ein Mitglied irgendeiner anderen Klasse hat, mit den für seine Klassengenossen häufigsten Situationen konfrontiert zu werden (...).”131 Der ´persönliche Stil´ von Akteuren verhält sich zum Klassenhabitus jeweils im Sinne einer Variante: “(...) die besonderen Habitusformen der verschiedenen Mitglieder derselben Klasse (werden) durch ein Verhältnis der Homologie vereinheitlicht, d.h. durch ein Verhältnis der Vielfalt in 129 Vgl. Abschnitt 2. in diesem Kapitel 130 Bourdieu 1982, S.171ff. Der Begriff Klasse steht bei Bourdieu für gesellschaftliche Klassifikationseinheiten oder Einteilungen. Er spricht oft von “Klasse oder Gruppe”, um dies zu verdeutlichen. (An anderer Stelle wird auch “(...) vom Habitus einer Klasse (...) oder einer Kultur, im Sinne einer in einer homogenen Gruppe erworbenen kulturellen Kompetenz (...)” gesprochen. Vgl. Bourdieu 1979, S.181) Insofern ist Bourdieus Begriff der Klasse zu unterscheiden von den historischen Begriffen der “Klasse” (spezifisch für den Industriekapitalismus), des “Standes” (spezifisch für eine vorindustrielle Gesellschaftsformation) oder der “Schicht” (spezifisch für differenzierte Industriegesellschaften). Der allgemeine Sprachgebrauch Bourdieus kommt der vorliegenden Untersuchung entgegen, die soziale Einteilungen und Klassifikationen schrittweise, d.h. zunächst heuristisch, aus dem empirisch historischen Material zu entwickeln. Da es sich um eine wirtschafts- und sozialgeschichtliche Übergangsperiode handelt, wäre es auch nicht angemessen, die gefundenen sozialen Einteilungen von vornherein schematisch einer ständischen oder industriekapitalistischen Gesellschaft zuzuordnen. In der untersuchten Phase mischen sich vielmehr die historischen Formationen. Daß eine konkrete historische “Klassenkonstellation” in der Regel historisch ungleichzeitige Elemente umfaßt, hat Theodor Geiger beschrieben. (Vgl. dazu Vester 1998, S.165f) 131 Bourdieu 1987, S.112 32 Homogenität, welches die Vielfältigkeit in der charakteristischen Homogenität ihrer gesellschaftlichen Produktionsbedingungen widerspiegelt: jedes System individueller Dispositionen ist eine strukturale Variante der anderen Systeme, in der die Einzigartigkeit der Stellung innerhalb der Klasse und des Lebenslaufs zum Ausdruck kommt. Der ´eigene Stil´, d.h. jenes besondere Markenzeichen, das alle Hervorbringungen desselben Habitus tragen, seien es nun Praktiken oder Werke, ist im Vergleich zum Stil einer Epoche oder Klasse immer nur eine Abwandlung (...).”132 Es ist, so Bourdieu, die Aufgabe des Forschers, “das System der relevanten Merkmale ausfindig” zu machen, “in Funktion dessen jede Klasse von Akteuren real determiniert wurde.”133 In vorliegenden Fall lassen sich folgende Merkmale bestimmen, die für Erfahrungen und Habitus der Familienangehörigen von Richard Schmidt relevant sind: 1. Ein relevantes Merkmal bilden Umfang und Struktur des Kapitals134 der Familienangehörigen. Daß es, wie Bourdieu ausführt, das “am stärksten determinierende”135 Merkmal ist, wird in der Untersuchung bestätigt. 2. Ein relevantes Merkmal sind die Berufe, die von den Familienangehörigen ausgeübt werden. Dieses Merkmal hängt eng mit Umfang und Struktur des Kapitals zusammen, erhält aber aufgrund seiner Besonderheit spezifische Bedeutung in der Habitusanalyse. Der Beruf verweist unter anderem auf inkorporiertes oder verinnerlichtes Kulturkapital, das “(...) nicht durch Schenkung, Vererbung, Kauf oder Tausch kurzfristig weitergegeben werden (kann). (...) inkorporiertes Kapital ist ein Besitztum, das zu einem festen Bestandteil der ´Person´, zum Habitus geworden ist; aus ´Haben´ ist ´Sein´ geworden.”136 3. Für die Handlungsmöglichkeiten und Strategien der Familienangehörigen von Richard Schmidt sind auch die regionalen Gegebenheiten, d.h. die spezifischen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Verhältnisse bedeutsam. Sie geben unter anderem Aufschluß über die Bedeutung von Berufen und tragen zur Klärung von Besitzverhältnissen (Erbrecht), Erwerbschancen (Wirtschafts- 132 Ebd., S.113 133 Bourdieu 1982, S.173 134 Vgl. Abschnitt 2. in diesem Kapitel 135 Bourdieu 1982, S.182 136 Bourdieu 1983, S.187 33 struktur) und einer Versorgungsstruktur (Gemeindeverfassung) bei. Die Region ist damit ein weiteres wichtiges Merkmal in der Untersuchung. Bourdieu bezeichnet nicht nur den gesellschaftlichen, sondern auch den geographischen Raum als “in höchstem Maße determinierend”.137 4. Ein weiteres Merkmal, das Erfahrungen und Habitus spezifisch prägt, ist das Geschlecht. Mit ihm verbunden sind unter anderem verschiedenartige und ungleiche Chancen zum Erwerb der verschiedenen Kapitalien und in diesem Fall auch der politischen Teilhabe sowie der rechtlichen Stellung. 5. Die Sozial- und die Familiengeschichte fassen relevante Merkmale zusammen, weil sie zum einen den jeweiligen Kontext stellen, in dem die Erscheinungen erst spezifische Bedeutung erhalten. Zum anderen ist die Geschichte ein ´Bestandteil´ des Habitus, auf deren Grundlage sich erst Erklärungen für die Kontinuität, Veränderung oder auch das ´Scheitern´ von Habitusdispositionen finden lassen. Bourdieu faßt die “geographische Verteilung” einer Klasse oder Klassenfraktion und ihren “bestimmten geschlechtsspezifischen Koeffizienten” als, im Verhältnis zu Umfang und Struktur des Kapitals, “sekundäre Merkmale”.138 In der Analyse der Familiengeschichte bestätigt sich diese Einschätzung: Die Vorfahren von Richard Schmidt kommen aus zwei verschiedenen Dörfern, in denen jeweils verschiedenartige Wirtschaftsweisen vorherrschen. In einem dieser Dörfer bestimmt die protoindustriell, als Hausindustrie betriebene Weberei die Erwerbschancen eines Teils der Familie. In dem anderen Dorf gibt es keine vergleichbare gewerbliche Verdichtung, und die Angehörigen gehen anderen Berufen nach. Die jeweils unterschiedlichen Gegebenheiten einer Region oder eines Ortes sind insofern maßgeblich für die konkrete, in diesem Fall die konkrete berufliche Praxis. Für den Habitus der beiden Familienlinien, deren Handlungsvoraussetzungen sich aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu verschiedenen Gemeinden unterscheiden, lassen sich dennoch ähnliche Grundmuster herausarbeiten. Sie hängen nicht primär von dieser Zugehörigkeit ab. Für die Zugehörigkeit zum Geschlecht läßt sich ähnliches feststellen. Hier deuten die Praktiken in Familienlinien, deren soziale Positionen verschieden sind, darauf 137 Bourdieu 1992, S.37 138 Bourdieu 1983, S.176 34 hin, daß es vor allem zwischen Männern und Frauen in ähnlichen gesellschaftlichen Positionen Übereinstimmungen im Habitus gibt. Männer verschiedener sozialer Gruppen unterscheiden sich ebenso voneinander wie Frauen, die durch ihre soziale Zugehörigkeit geschieden sind. Die Unterscheidung von am stärksten wirksamen und sekundären Merkmalen bedeutet indes nicht, daß sich ein Habitus über eine Rangfolge von Kapitalstruktur, Beruf, Region und Geschlecht bestimmen liesse.139 Die regionale bzw. die Zugehörigkeit zu einem bestimmten ´Gemeindetyp´ ist in der Familie von Richard Schmidt durchaus bedeutsam. Sie hat beispielsweise Folgen für die Mobilität der Angehörigen aus den beiden unterschiedlichen Dörfern: In einem Fall ist es eher eine regionale, im anderen eher eine berufliche Mobilität. Diese Differenz wiederum zieht nach sich, daß beide Familien einer unterschiedlichen sozialen Kontrolle unterliegen, was für Praxis und Habitus nicht unbedeutend ist. Die Mobilität der Angehörigen läßt sich aber nicht allein auf die Gegebenheiten einer Region zurückführen, sondern erschließt sich ihrer Bedeutung nach erst, wenn auch die Beziehung zu den Besitzverhältnissen und den Berufen der Familie hergestellt wird. Auch die Zugehörigkeit zum Geschlecht erweist sich im konkreten Fall als außerordentlich bedeutsam. Eine der Urgroßmütter von Richard Schmidt beispielsweise hatte sechs uneheliche Kinder, die ihre soziale Stellung im Dorf weit mehr beeinträchtigten als die eines Mannes mit gleichviel unehelich gezeugten Kindern, zumal dieser sich ungleich leichter der Verantwortung für seine Nachkommen entziehen konnte. Die Zugehörigkeit zum Geschlecht erklärt aber allein nicht die Praxis und die Lebenschancen der Urgroßmutter von Richard Schmidt. Ihr Status als ledige Mutter versteht sich erst aus der Beziehung zu den Besitzverhältnissen der Familie, die die Heiratschancen der Töchter erheblich einschränkten.140 139 “(...) eine Klasse oder Klassenfraktion (...) ist nicht allein durch ihre Stellung innerhalb der Produktionsverhältnisse - feststellbar anhand von Merkmalen wie Beruf, Einkommen oder Ausbildungsniveau - definiert (...), sondern auch durch einen bestimmten geschlechtsspezifischen Koeffizienten, eine bestimmte geographische Verteilung (die gesellschaftlich nie neutral ist) und durch einen Komplex von Nebenmerkmalen, die im Sinne unterschwelliger Anforderungen, als reale und doch nie förmlich genannte Auslese- oder Ausschließungsprinzipien funktionieren können (das gilt zum Beispiel für ethnische Zugehörigkeit und Geschlecht); zahllose offizielle Kriterien dienen faktisch zur Tarnung verborgener Kriterien: Ein bestimmtes Diplom voraussetzen kann so auch bedeuten, de facto eine ganz bestimmte gesellschaftliche Herkunft zur Bedingung machen. (...)” (Bourdieu 1983, S.177) 140 Zur Bedeutung des Geschlechts für den Habitus vgl. Bourdieu 1997, ders./Dölling/Steinrücke 1997. Die Verschränkung von Klasse und Geschlecht untersuchen Frerichs/Steinrücke (u.a. 1997a, 1997b); vgl. auch Völker 1994. Der geschlechtsspezifische Habitus äußert sich in einem umfassenden System von Differenzen, in unterschiedlichen Handlungsstrategien wie verschiedenartigen Körperhaltungen. Die Klassifikationsschemata (oben/unten, hoch/tief usw.), nach denen soziale Gruppen unterschieden werden, gelten auch in der Differenz der Geschlechter: “Denn es steckt 35 Hier ist nur angedeutet, wie in der anschließenden Untersuchung zu verfahren sein wird. Nachdrücklich weist Bourdieu darauf hin, daß der Habitus erst über die komplexe Beziehung zwischen allen Merkmalen erschlossen werden kann: “Eine soziale Klasse ist definiert weder durch ein Merkmal (nicht einmal das am stärksten determinierende wie Umfang und Struktur des Kapitals), noch durch eine Summe von Merkmalen (Geschlecht, Alter, soziale und ethnische Herkunft - z.B. Anteil von Weißen und Schwarzen, von Einheimischen und Immigranten, etc. - Einkommen, Ausbildungsniveau, etc.), noch auch durch eine Kette von Merkmalen, welche von einem Hauptmerkmal (der Stellung innerhalb der Produktionsverhältnisse) kausal abgeleitet sind. Eine soziale Klasse ist vielmehr definiert durch die Struktur der Beziehungen zwischen allen relevanten Merkmalen, die jeder derselben wie den Wirkungen, welche sie auf die Praxisformen ausübt, ihren spezifischen Wert verleiht. (...)”141 Erst über diese Beziehungsstruktur der Merkmale lassen sich die habitusrelevanten Erfahrungen und die Praxisformen erschließen und auf Begriffe bringen. In der nachfolgenden Untersuchung wird die Analyse von Habitus und Feld zunächst mit der Frage nach Handlungsspielräumen, Handlungszielen und Handlungsstrategien geführt. Der Begriff Handlungsspielraum steht dem “Möglichkeitsfeld” oder “Spielraum” bei Bourdieu und dem “Feld des Möglichen” nach Bertaux/Bertaux-Wiame nahe, meint aber zunächst die äußeren Handlungsspielräume und nicht die verinnerlichten Grenzen und Möglichkeiten, die der Habitus setzt. Die Begriffe Hand- lungsziele und Handlungsstrategien versuchen, den abstrakten und komplexen Habitusbegriff stärker zu operationalisieren. Versucht wird, über den Zusammenhang von Handlungsspielräumen bzw. Feld und der Praxis, den Strategien der Angehörigen, auf Erfahrungen und Handlungsziele zu schließen, die dauerhaft inkorporiert und so zu Dispositionen des Habitus werden. Zum umfassenden Habitusbegriff kehrt die Untersuchung in der Gegenüberstellung von Familienlinien, die zuvor getrennt untersucht werden, zurück. Erst in der Beziehung zueinander erschließt sich die Bedeutung der jeweiligen Spielräume und Praktiken, lassen sich Prinzipien der Lebensführung oder Habitusmuster begrifflich fassen. Die Verschiedenartigkeit von zwei der Familienlinien, die den Schwerpunkt ebenso in den Einteilungen der sozialen Welt oder, genauer, in den zwischen den Geschlechtern instituierten sozialen Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnissen wie, in Form von Prinzipien der Vision und Division, in den Köpfen; was zur Folge hat, daß alle Gegenstände der Welt und alle Praktiken nach Unterscheidungen klassifiziert werden, die auf den Gegensatz von männlich und weiblich zurückgeführt werden können.” (Bourdieu 1997, S.160f) 141 Bourdieu 1982, S.182 36 der Untersuchung bilden, bedeutet zunächst vor allem mühselige Arbeit, die erleichtert würde, wenn alle Angehörigen in gleicher Position wären, den gleichen Beruf ausübten usw. Im Nachhinein erweist sich diese Verschiedenartigkeit als Vorteil, weil erst die Differenz ermöglicht, die Konstellationen zwischen den Individuen und jede der Familienlinien zu verstehen und die Muster sozialer Kohäsion und des Habitus voneinander abzugrenzen. Die Untersuchung nimmt ihren Ausgang bei Erinnerungen an Richard Schmidt (Kapitel II.). Diese Erinnerungen seiner Nachkommen vermitteln einen kleinen Einblick in den Alltag und in Wahrnehmungen von Richard Schmidt, ohne daß sich daraus schon ein klares Bild seiner Deutungsmuster ermitteln liesse. Mit den Fragen nach dem Sinn der Erinnerungen und dem Habitus von Richard Schmidt beginnt nach einer kurzen Einführung in die Geschichte seiner Familie (Kapitel III) deren ausführliche Untersuchung: Die Angehörigen von Richard Schmidt fanden sich in zwei Dörfern der thüringischen Rhön zusammen: in Kaltensundheim lebten seine Vorfahren mütterlicherseits, in Unterkatz seine Vorfahren väterlicherseits. Der Schwerpunkt der Arbeit liegt bei dem Teil der Familie, die aus Kaltensundheim kommt (Kapitel IV). Um den Kontext der Handlung, die von außen gegebenen Spielräume und Möglichkeiten der Angehörigen zu verstehen, wird zunächst das Dorf und die Region um Kaltensundheim untersucht. Gefragt wird dabei, wie sich die Bevölkerung entwickelte, welche Verhältnisse sich in der Landwirtschaft boten und welche Entwicklung das Gewerbe nahm. Im Anschluß werden die kaltensundheimer Vorfahren von Richard Schmidt untersucht. Sie teilen sich in zwei Linien: in die Schmiedefamilie Rauch und in die Weberfamilie Porz. Diskutiert werden für beide Familienlinien jeweils die wirtschaftlichen Entwicklungen, die beruflichen Qualifikationen und ausgeübten Berufe, die Möglichkeiten zur wirtschaftlichen und politischen Teilhabe sowie die sozialen Beziehungen. Diese Gliederung erfaßt die weiter oben genannten Habitusmerkmale: Umfang und Struktur des Kapitals sowie Beruf, und sie entspricht den Schichtungsdimensionen, die von Hippel auch für die frühe Neuzeit nennt: “Teilhabe an der politischen Macht, Vermögen und Einkommen, Rechtsstellung, Berufsqualifikationen und Sozialprestige (ständische ´Ehre´).”142 Für die Schmiedefamilie Rauch 142 Von Hippel 1995, S.5. Von Hippel wendet den Schichtbegriff auf die frühe Neuzeit an, um “(...) das Problemfeld ´Armut´ (...) zu differenzieren und zugleich zu konkretisieren.” Er greift auf “moderne Terminologien” zurück, weil “(...) adäquates zeitgenössisches Vokabular (...) hier nicht zur Verfügung (steht). Bezeichnungen wie ´armer Mann´ oder ´gemeiner Mann´ decken ein zu weites 37 (Abschnitte unter 2.1. in Kapitel IV.) wird zusätzlich untersucht, welche Konstellationen familieneigener und anderer konkurrierender Schmiede in Kaltensundheim seit den 1630er Jahren die Handlungsspielräume der Vorfahren von Richard Schmidt mit bestimmten (vgl. Abschnitte unter 2.1.1.5. in Kapitel IV.). In dem Zusammenhang wird eine erhebliche Zahl von Schmieden der ´Großfamilie´ Rauch in den Blick genommen. Die Weberfamilie Porz, die andere Linie der kaltensundheimer Vorfahren von Richard Schmidt, war überschaubarer. Ihre Untersuchung kann sich deshalb auf weniger Angehörigen beschränken (vgl. Abschnitte unter 2.2. in Kapitel IV.). Die Bedeutung des weiter oben genannten Merkmals ´Geschlecht´ wird vor allem bei der Untersuchung dieser Familienlinie thematisiert. Die Analyse endet für jede der beiden kaltensundheimer Familienlinien, Schmiede und Weber, zunächst jeweils in einem zusammenfassenden Abschnitt über Handlungsspielräume, Handlungziele und Handlungsstrategien der Angehörigen (vgl. Abschnitte 2.1.2. und 2.2.2. in Kapitel IV.). Dabei werden die zuvor untersuchten Merkmale und Handlungsfelder zum Bild einer Beziehungsstruktur verdichtet, das Aussagen über Erfahrungen und den Zusammenhang von Feld und Strategien bzw. Habitusdispositionen ermöglicht. Für die Schmiedefamilie, die zuerst untersucht wird, fallen die Ergebnisse zunächst noch relativ allgemein aus. Spezifiziert werden sie dann im Zusammenhang mit der anschließenden Analyse der Weberfamilie. Zentral ist der Abschnitt 2.3. im IV. Kapitel. Darin werden auf der Grundlage der bis dahin herausgearbeiteten Ergebnisse die unterschiedlichen Grundmuster sozialer Kohäsion und des Habitus für die Schmiede- und die Weberfamilie entwickelt. Das Muster der Schmiede wird als ´respektabilitätsorientiert´ identifiziert, das der Weber als ´gelegenheitsorientiert´. Diskutiert werden die Distanz und die gleichzeitige soziale Nähe beider Familien. Aufschlußreich sind in diesem Zusammenhang die Vergemeinschaftungsnetze, die für Familien rekonstruiert werden, aus denen die Weberfamilie die Paten für ihre Kinder gewählt hat. Den Schlußpunkt der kaltensundheimer Vorfahren von Richard Schmidt setzen seine Großeltern, mit denen die beiden Linien, Schmiede und Weber, zusammkamen (Abschnitt 2.4. in Kapitel IV.). Anschließend wird auf die Vorfahren von Richard Schmidt väterlicherseits, also den Teil der Familie, der aus Unterkatz stammt, eingegangen. Dieses Kapitel V. fällt soziales Spektrum ab (...). Auch die in Spätmittelalter und Frühneuzeit gängige Kategorie des ´Standes´ bietet keine bessere Alternative (...). Gerade im Blick auf die ´ständisch´ kaum näher definierten Bevölkerungsgruppen der unteren und untersten Ränge, um die es hier geht, erscheint sie nicht sonderlich geeignet, deren Stellung in der damaligen Gesellschaft angemessen zu begreifen.” (Ebd., S.4) Vgl. hier auch Kapitel VIII. 38 vergleichsweise kurz aus, weil das Dorf und die Familie nun auf der Folie der Ergebnisse der vorangegangenen ausführlichen Untersuchung leicht zu erschließen sind. Die Unterkatzer Familie repräsentiert danach eine Variante der an ´Gelegenheiten´ orientierten kaltensundheimer Weber. Kapitel VI. hat zunächst die Eltern von Richard Schmidt und anschließend ihn und seine eigene Familie zum Gegenstand. Die Schmidts lebten dann in Eisenach, dem Handlungsort der Geschichten, die an Richard Schmidt erinnern und die die Untersuchung begründeten. Bei seinen Großeltern und auch bei seinen Eltern waren unterschiedliche Habitusdispositionen zusammengekommen. Am Ende geht es um die Frage, inwieweit ´Gelegenheits- bzw. Respektablitätsorientierung´, die Muster der Vorfahren, bei Richard Schmidt eine Gestalt annehmen; inwieweit also gibt die Geschichte der Familie Aufschluß über seinen Habitus und die Bedeutung der Erinnerungen an ihn? Diese Frage wird in Kapitel VII. beantwortet. Den Schluß bildet Kapitel VIII. Dort werden die Ergebnisse zur Frage nach Kontinuität und Diskontinuität von Habitusmustern zusammengefaßt. 39 II. Wartburgführer Richard Schmidt: Respektabilitätsansprüche Erinnerungen und Fragen an den konkreten Fall Richard Schmidt wurde 1890 in einem kleinen Dorf in der thüringischen Rhön geboren. Später lebte er in Eisenach, wo er bereits 1933, 43jährig, an den Folgen seiner Herzkrankheit starb. Die Frage nach seinem Leben und Habitus entstand erst mit den Erinnerungen, die seine Nachkommen mit ihm verbinden. Eigentlich waren sie es, die Kinder, zwei Enkel und zwei Urenkel von Richard Schmidt, die in dieser Arbeit untersucht werden sollten. Ihre Lebensgeschichten sollten die Frage nach Veränderungen des Habitus im Generationenwechsel klären helfen und Aufschluß über Modalitäten seiner Entstehung und Weitergabe geben. Interesse an Richard Schmidt weckten einige kuriose Geschichten, die über ihn verbreitet wurden. Eine davon handelt von dem etwas ungewöhnlicheren Ereignis in seinem Leben, das ihm auf der Wartburg widerfuhr. Dort arbeitete er von etwa 1923 bis zu seinem Tod. Richard Schmidt war auf der Wartburg unter anderem zuständig für Führungen, die er, nachdem er sich in kurzer Zeit die erforderlichen Sprachkenntnisse angeeignet hatte, auch in englischer Sprache hielt. Sein Sohn berichtet, daß er außerdem “bei besonderen Anlässen mit dem Burgwart Trompete geblasen” habe, ein Instrument, das Richard Schmidt seit seiner Kindheit spielte. Nach seinem Tod blieb die Trompete im Besitz der Familie; inzwischen hat sie den Urenkel erreicht, der sie nun bei besonderen Anlässen im Familienkreis spielt. Das nicht alltägliche Ereignis, das sich etwa 1930 zugetragen hat und das natürlich auch die Nachkommen von Richard Schmidt zur Sprache bringen, hat über den damaligen Burgwart Nebe sogar Öffentlichkeit erreicht: “Der Erzbischof hielt es auch nicht für einen Raub, fröhlich unter Fröhlichen zu sein. Eines Tages hatte mein Trompetenschüler und Burgführer Richard Schmidt; mit dem ich oft zur Begrüßung illustrer Wartburggäste zweistimmige, schmetternde Fanfaren geblasen hatte, sein Entzücken durch den Vortrag des lutherischen Trutzliedes erregt. Ich bemerkte zu meinem Erstaunen, wie der Erzbischof sich mit dem anderen schwedischen Theologen kurz beredete und wie dann die beiden den glücklichen Bläser in ihre Mitte nahmen und ihn, gleichsam zu einer Ehrenrunde, im Wartburghofe herumtrugen. - Die Wirkung dieser Ehrung war seltsam. Schmidt verrichtete die nächsten Tage völlig schweigsam seine Führerdienste in der Burg - wie es schien: verdrossen. Als ich nach einiger Zeit nach dem Grunde seiner ablehnenden Haltung fragte, dröhnte er augenrollend: ´Quatschen Sie mich bitte nicht an! - Mich hat ein Erzbischof getragen!´”1 1 Nebe 1941, S.68f 40 Richard Schmidt auf der Wartburg Die “Ehrung” seines Vortrags mußte Richard Schmidt vielleicht erst verkraften, und er schwieg deshalb einige Tage. Der Stolz auf das Geleistete und vor allem auf die Anerkennung mag dann ein Grund für die besondere Art der Reaktion gewesen sein. Vielleicht war es auch anders. Anlaß zur Beschäftigung mit Richard Schmidt gaben zuerst zwei kleine Geschichten aus seinem Alltag, die seine Enkelin, Frau Freisinn, erzählte und deren Bedeutung unklar war. Sie handeln nicht von der Anerkennung, die ihrem Großvater auf der Wartburg gewährt wurde, sondern eher von Respektabilitätsansprüchen, die nicht eingelöst wurden: Vorangestellt hatte Frau Freisinn die Einschätzung: “(...) mein Großvater war ´n bißchen ´nen Eijensinnicher. Der hatte ´ne Devise also: geht nich´, gibt´s nich´. Es ist möglich, wenn man will, kann man alles schaffen.” Darauf folgte die Geschichte von einer defekten Maschine. Sie stand im eisenacher Magnetwerk, in dem Richard Schmidt eine zeitlang als Arbeiter beschäftigt war: “Un´ da stand ´ne Maschine, schon ich wiss nich´, wohl ´n Jahr, und keiner krichte die in Gang (...) un´ da hat er gesacht: ´na die Maschine krich´ ich wieder in Gang´. ´Häh´, ham se alle gelacht. Ja (...) die Maschine, die lief, der hat das geschafft. So, un´ da ham se ihm aber dann nich´ entsprechend (...) Anerkennung gezollt und da war er eingeschnappt, un´ da ist er da weggegang´n, so war er ungefähr.” In der Geschichte findet sich Eigensinn in Form von Ehrgeiz bestätigt, das scheinbar Unmögliche zu schaffen. Zugleich enthält sie den Hinweis auf Kompetenz; Richard Schmidt gelang die Reparatur. Die erwartete Anerkennung dieser Leistung 41 schien ihm dann nicht angemessen. Seine der Erinnerung nach kompromißlose Reaktion deutet ebenfalls auf einen gewissen Eigensinn. Vielleicht hat er seine Arbeit im Magnetwerk deshalb nicht wirklich gleich aufgegeben. Richard Schmidt scheint sich aber nicht damit zufrieden gegeben zu haben, wie mit ihm umgegangen wurde. Das bestätigt auch die zweite Geschichte, die Frau Freisinn erzählt. Anlaß zur Verärgerung gab eine eher belanglos wirkende Begebenheit. Richard Schmidt arbeitete als Straßenbahnfahrer und hielt auf freier Strecke, statt, wie vorgesehen, an der Straßenbahnhaltestelle: “(...) ´n Stückchen davon war ´n Bäcker. Jedenfalls hat mein Großvater die Straßenbahn angehalten, hat sich ´n paar Brötchen geholt, is´ wieder eingestiegen, is´ weitergefahren.” In der Bahn saß ein Journalist, “(...) der hat für die Eisenacher Post so geschrieben (...). Un´ da stand da in der Zeitung: ´Ach wie is´ gemütlich (...) auf der eisenacher Straßenbahn´, und hat das nu so im lustigen Sinne uffgeschrieben. Also der Straßenbahnfahrer hält eben einfach an, geht da schnell ´rein (...) und dann fährt er weiter. Und dadrüber hat sich mein Großvater so geärgert, daß er dann dem ooch ´n Brief jeschrieben hat. (...) Also den Artikel, den haben wir noch zuhause, also den hab´ ich gelesen. Hat er sich wohl furchtbar drüber aufgeregt (...).” Richard Schmidt scheint ein besonderes Sensorium für Fragen der Anerkennung seiner Leistung und, der Eindruck entsteht in dieser zweiten Geschichte, seiner Person gehabt zu haben. Frau Freisinn, das klingt in ihrer Erzählung an, scheint die Reaktion des Großvaters für etwas übertrieben zu halten. Schließlich war es “im lustigen Sinne” aufgeschrieben. Hatte Richard Schmidt nur einfach keinen Humor und war deshalb auch nach der Reparatur im Magnetwerk “eingeschnappt”? Warum werden diese Geschichten erzählt? Und was haben sie mit Richard Schmidt zu tun? Sie geben zunächst Aufschluß über diejenigen, die sich an ihn erinnern und darüber, wie er wahrgenommen wurde. In den Geschichten ist angedeutet, daß Anerkennung, Selbstbestimmung und auch der Stolz auf das eigene Arbeitsvermögen für Richard Schmidt wichtig waren. Das alles scheint, wenngleich jeweils verschieden gewichtet und ausgeprägt, im Leben einiger seiner Nachkommen selbst auch eine Rolle zu spielen.2 Konstruieren seine Angehörigen also eine Figur, die vor allem belegt, was ihnen selbst wichtig ist? Im Erzählen nehmen sie zwangs- 2 Für eine erste Untersuchung zum Habitus der Enkelin von Richard Schmidt vgl. Lange 1996. Der Aufsatz wurde noch ohne die Kenntnis der älteren Familiengeschichte verfaßt. Er enthält auch eine erste Deutung zu Richard Schmidt, die mit dem gegenwärtigen Kenntnisstand in einigen Punkten nicht mehr übereinstimmt und die in anderen Teilen, die sich auf die Tochter von Richard Schmidt, Frau Press, beziehen, ausführlicher zu prüfen wäre. 42 läufig eine Auswahl und Gewichtung vor, die dazu dient, ein bestimmtes Bild zu vermitteln. Dieses Bild ist nicht einheitlich, die Wahrnehmungen sind durchaus verschieden. “So kenne ich ihn eigentlich nicht”, antwortet beispielsweise der Sohn auf die Frage nach dem Eigensinn des Vaters. Die Überlieferung stammt von Richard Schmidts Tochter, der Mutter von Frau Freisinn. Der Sohn, dem der Vater “Vorbild für alle Zeiten” geworden ist, gesteht zwar eine gewisse “Sturheit” zu, auch sei Richard Schmidt “wenig kontaktfreudig” gewesen. Er erinnert sich primär aber anders, übrigens auch gerade an die “humoristische Art” des Vaters. Vor allem betont der Sohn die Kompetenzen, die handwerkliche und musikalische Begabung von Richard Schmidt. Daß dieser allerdings den Beruf des Werkzeugmachers erlernt habe, hat sich später als nicht richtige Erinnerung erwiesen. Frau Freisinn, die Enkelin von Richard Schmidt, erzählt, daß sich der Großvater zuhause, zusammen mit einem Wörterbuch: “Dausend Wörter Inglisch”, eingeschlossen habe, um sich Fremdsprachenkenntnisse anzueignen, die Voraussetzung gewesen seien, die Stelle als Wartburgführer zu bekommen. Hier wiederum erinnert sich der Sohn anders: Richard Schmidt habe erst Englisch gelernt, als er bereits auf der Wartburg gearbeitet habe. Frau Freisinn hat ihren Großvater nicht mehr kennengelernt, sie “(...) weiß das nu alles von Erzählungen von Mutter un´ nu weiß nicht (...) das is´ immer vielleicht einseitich, aber irgendwas is´ ja d- (...).” Aber irgendwas ist ja dran, sollte es hier wohl heißen. Was also ´ist dran´ an den Geschichten über Richard Schmidt? Im Laufe der Jahre haben die Erinnerungen an ihn und die Erzählungen wohl teilweise andere Gestalt angenommen; die jeweilige Mitteilung muß sich deshalb sinngemäß nicht geändert haben. Mit dem Beruf des Werkzeugmachers verbindet der Sohn von Richard Schmidt vermutlich die Kompetenz, die er dem Vater zuschreibt. Wie dieser tatsächlich zur Wartburg und seinen Englischkenntnissen kam, war dann für die Tochter, um Ehrgeiz und Eigensinn von Richard Schmidt zu überliefern, nicht wesentlich. Ihrem Sinn nach scheinen jedenfalls die Erinnerungen nicht zufällig oder beliebig gewählt. Und die Geschichten sind auch nicht allein subjektiv oder nur individuell, sondern sie enthalten zugleich Aussagen über Habitus und damit eine ´überindividuelle´, gesellschaftliche Dimension. Sie steht im weiteren zur Diskussion, nicht die Frage, ob der Straßenbahnfahrer Richard Schmidt, als er den Bericht in der Zeitung über sich las, vielleicht ohnehin gerade einen ´schlechten Tag´ erwischt hatte. Die Erinnerungen an ihn, so die Annahme, bezeichnen eine bestimmte Variante eines “Klassenhabitus”, der herauszuarbeiten ist, um auch den “persönlichen Stil” zu 43 verstehen, über den Aussagen in den Geschichten getroffen werden.3 Was interessiert, ist der Habitus von Richard Schmidt, nicht der seiner Nachkommen. Daß er sich auf der Grundlage der Erinnerungen allein nicht ermitteln läßt, hat aber letztlich nicht damit zu tun, daß hier nur seine Nachfahren zu Wort kommen und nicht er selbst. In der Frage nach dem Habitus läßt sich mit einer “(...) Erkenntnisweise, die man als phänomenologische bezeichnen kann (...)”, der Sinn von Darstellung und Selbstdarstellung deshalb nicht hinreichend klären, weil “(...) sie nicht über eine Beschreibung dessen hinweggelangen (kann), was das ´erlebte´ Erfahren der Sozialwelt als solches charakterisiert, d.h. nicht über eine Auffassung dieser Welt als einer evidenten oder fraglos gegebenen.” 4 Aufschluß über den Habitus ergibt sich in jedem Fall nur unter Einbeziehung der “(...) Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit (...)”5 von Praktiken und Haltungen. Entsprechend erschließt sich auch erst der Zusammenhang zwischen Richard Schmidt und den Erinnerungen an ihn entlang einer entsprechenden ´Objektivierung´. Die Frage nach dem Leben und der Herkunft von Richard Schmidt war in der Diskussion über die Bedeutung der kleinen Erzählungen und einige bis dahin bereits hinzugefügte Erinnerungen entstanden. Mit dem umfassenden Studium der Familiengeschichte von Richard Schmidt, das schließlich daraus wurde, ging es auch um die Frage nach Möglichkeiten einer historischen Habitusuntersuchung. In einem zweiten Versuch würde die gleiche Aufgabe vielleicht schon auf weniger Umwegen gelöst, als hier noch notwendig waren. Jedoch schon der erste Versuch zeigt einen Zusammenhang zwischen Familiengeschichte, Habitusmustern der Vorfahren und Richard Schmidt. Die habituellen Muster und Beziehungen seines Lebens lassen sich deutend verstehen, so daß auch den Erinnerungen an Richard Schmidt und den darin formulierten Respektabilitätsansprüchen am Ende Plausibilität zukommt. 3 Zu Klassenhabitus und persönlichem Stil vgl. Abschnitt 6. im I. Kapitel 4 Bourdieu 1987, S.50 5 Ebd. 44 III. Einführung in die Familiengeschichte Die Geschichte der Familie von Richard Schmidt spielt in Thüringen, das Dietrich Grille als das Land der kleinen Leute charakterisiert hat: “Das ´Grüne Herz Deutschlands´ wurde unsere Heimat immer genannt, nie das ´güldene´. Thüringen, mit Bergen, Wald und Dauergrünland reich, an zugänglichen Bodenschätzen und fruchtbaren Äckern hingegen spärlicher gesegnet, galt in Deutschland nie als sprichwörtliche Heimat bäuerlich-bürgerlicher Wohlhäbigkeit. Wer es eilig hat, dem könnte man mit diesem einen und rundum richtigen Satz Bescheid geben: Die Sozialgeschichte Thüringens ist die Geschichte der kleinen Leute.”1 Demgegenüber noch erheblich zugespitzter lesen sich die Einschätzungen zu der Region, in der zumindest ein Teil der Familie schon vor dem 30jährigen Krieg gelebt hatte. Richard Schmidt war erst wenige Tage vor seinem 16. Geburtstag gemeinsam mit seinen Eltern und Geschwistern nach Eisenach gezogen. Aufgewachsen war er, wie seine Vorfahren, in einem Dorf in der thüringischen Rhön. Den Verhältnissen in der Rhön galt in der zweiten Hälfte des 19. und in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts die verstärkte Aufmerksamkeit der Politik. 2 Die Region hielt weder erfolgreichen Anschluß an allgemeine Modernisierungsprozesse innerhalb der Landwirtschaft noch war sie ein attraktiver Standort für Industrieansiedlungen. Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts hatte Wilhelm Heinrich Riehl, nachdem er das Fichtelgebirge, den Westerwald und die Rhön aufgesucht hatte, seine Erfahrungen unter dem Titel “Das Land der armen Leute” zusammengefaßt.3 Spätere Untersuchungen, die in den 1880er und 1890er Jahren unter anderem auch vom Verein für Sozialpolitik4 ausgingen, betonten dann weiterhin die Armut als ein vorherrschendes Merkmal in der Lebensführung der rhöner Bevölkerung. Für das 20. Jahrhundert ergänzt unter anderem Wölfing, daß hier “noch in den ersten Jahrzehnten (...) in vielen Dörfern bittere Not (herrschte).”5 Zusammenfassend bestätigt werden diese Einschätzungen auch bei Hohmann unter der Überschrift: “Wüst, leer und kalt - Die Rhön als immerwährendes ´Notstandsgebiet´.6 1 Grille 1986, S.63 2 In Bezug auf die Landwirtschaft vgl. dazu Hohmann 1992, S.42ff 3 Vgl. Riehl 1854, S.189ff 4 Vgl. Frankenstein 1892, Thüngen-Roßbach 1883, Franz 1989 [1887]. Speziell für das Eisenacher Oberland, eines der konkreten Untersuchungsgebiete, hilfreich sind die von Gau durchgeführten Untersuchungen. Vgl. Gau 1883, ders. 1989 [1889]. 5 Wölfing 1995, S.125 6 Vgl. Hohmann 1992, S.42ff 45 Kaltensundheim und Unterkatz sind die beiden Rhöndörfer, in denen die Familie von Richard Schmidt lange Zeit beheimatet war. Nur wenige Kilometer voneinander entfernt, gehörten beide Orte in der ausgeprägten Kleinstaaterei Thüringens7 zwar verschiedenen Herzogtümern an: Unterkatz lag in Sachsen-Meiningen, Kaltensundheim im späteren Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach. Mit Blick auf die konkreten, politische Grenzen überschreitenden, Grundlagen des alltäglichen Lebens in der Region verliert diese unterschiedliche Zugehörigkeit jedoch an Bedeutung. Gegen die “Buntscheckigkeit der willkürlichen politischen Abgrenzungen” setzte schon Riehl “die Zähigkeit des Zusammenhangs von Land und Leuten”. “Mächtiger” als politische Konstellationen und Einflüsse wirke die gemeinsame Erfahrung der “Ungunst von Boden und Klima”, die die Menschen zu einem “socialen Ganzen” verbunden habe.8 Im Bereich der Landwirtschaft wurden die Möglichkeiten eines ertragreichen Anbaus dabei durch die klimatischen Verhältnisse noch gravierender als durch die in weiten Teilen “physikalisch ungünstige( ) Beschaffenheit”9 des Bodens begrenzt. “Abgesehen von den geschützten Lagen in den Thälern muß das Klima der Rhön und deren Vorberge (...) als ein ziemlich rauhes bezeichnet werden, es leidet unter den Einflüssen des Thüringer Waldes und der sog. hohen Rhön und beträgt daher die mittlere Jahrestemperatur am Rande der Berge und in den Thälern nur etwa 5,5 R., dieselbe geht jedoch in den rauheren Lagen bis 4,5 herunter. Die Fruchtbarkeit des Boden leidet daher vielfach durch die Ungunst des Klimas. Lange andauernde Winter, in Folge dessen späte Entwicklung der Vegetation und kurze Vegetationsperioden, verhältnismäßig viel Niederschläge, rauhe Winde, späte Fröste u.s.w. schränken oftmals den Ertrag des an sich nicht schlechten Bodens wesentlich ein und vernichten vielfach die Hoffnungen des im Allgemeinen genügsamen Landwirths.”10 Neben diesen ungünstigen natürlichen Voraussetzungen für eine ertragreiche Landwirtschaft beförderte auch die Realteilung eine Struktur, die längerfristig Einkünfte aus handwerklich-gewerblicher Tätigkeit erforderte. Nach Einschätzung von Riehl “kreuzen sich” Mitte des 19. Jahrhunderts in der Rhöngegend, “die Überlieferungen uralter Armuth mit denen früherer Gewerbsblüthe. Die historische Armuth haftet dort mehr an einzelnen Thälern und Hochlagen als im ganzen Gebirg. Schon eine Menge Ortsnamen bezeugen dann als 7 Zur Geschichte Thüringens vgl. vor allem Patze/Schlesinger 1967ff. Vgl. außerdem Hess 1991, Heckmann 1986, Scobel 1898, Regel 1895, Asche 1967, Warsitzka 1997 8 Vgl. Riehl 1854, S.196f. 9 Gau 1883, S.24 10 Ebd., S.25. Zum Klima der Region vgl. auch entsprechend Schick 1968, S.68f 46 epigrammatische Geschichtsurkunden aus grauer Vorzeit, daß von Anbeginn Armuth, Oede und Düsterkeit das Charakteristische solcher Striche gewesen sey: Sparbrod, Wüstensachsen, Kaltennordheim, Wildflecken, Schmalenau, Dürrhof, Dürrfeld, Todtemann, Rabenstein, Rabennest, Teufelsberg, Mordgraben (...). Bei andern deutschen Gebirgen kommt ähnliches vor, aber schwerlich sind irgendwo auf so kleinem Raum so viele schauerlich ominöse Namen zusammengedrängt.”11 Neben dieser “uralten Armuth” gibt es andere Orte, die im 19. Jahrhundert mangels Ressourcen zu Verlierern der industriellen Entwicklung wurden. “Die Rhön (...) hat bessere Tage gesehen als die gegenwärtigen, sie hat eine Geschichte gehabt, welche mehr war als eine bloße Geschichte des Elendes. Für die feudale Zeit war sie kein übles Land, aber unser industrielles Jahrhundert weiß nicht, was es mit solchen abgelegenen, produktenarmen Gebirgen anfangen soll. Nicht bloß die Ungunst des Klimas, auch der eigenthümliche Entwicklungsgang unseres Culturlebens, wenn man will die Weltgeschichte, hat sich wie ein tragisches Schicksal auf diese Berge gelegt. (...) Auf der Rhön gibt es allerlei an den natürlichen Schätzen des Gebirges haftende Industrie, aber immer nur sprunghaft, sporadisch und wie zum Versuch. Es werden Eisenerze gewonnen, plastischer Thon, Schwerspath, Torf, Traß, Braunkohlen, es werden Färberpflanzen gebaut sogar für Lyoner Seidenfabriken, es wird fleißig gewebt, es werden Holzschnitzwaren gefertigt, Krüge gebacken und Porcellan gebrannt, aber eine massenhafte, das ganze Gebirg beherrschende und emporhebende Industrie hat sich an keinen dieser oft glücklichen Versuche zu heften vermocht. (...) Dies ist der Fluch der Röhn, daß sich alles hier nur ´nesterweis´ findet, Industrie und Ackerbau so gut wie das Eisenerz.”12 Dieses Bild wird im Grundsatz in den verschiedenen Dokumenten aus dem 19. Jahrhundert für Kaltensundheim, Unterkatz und deren nähere Umgebung bestätigt. Dabei wiesen beide Untersuchungsorte trotz ihrer Gemeinsamkeiten gleichfalls nicht unerhebliche Unterschiede auf, die sich bis heute erhalten und teilweise verstärkt haben: Unterkatz war sehr viel kleiner und verkehrsmäßig ungünstiger gelegen als Kaltensundheim, an dem die Verbindung von Norden und Süden direkt vorbeiführte. Die bei Riehl sogenannte “uralte Armuth”13 galt dann auch eher für Unterkatz, wo es bis Mitte des 19. Jahrhunderts keine dem Umfang nach nennenswerte Gewerbeansiedlung gegeben hatte. “Frühere Gewerbsblüthe” markierte 11 Ebd., S.219f 12 Riehl 1854, S.203f 13 Die Ausführungen Riehls wären im einzelnen zu relativieren. Beispielsweise wäre in Bezug auf Kaltennordheim seiner oben genannten Zuordnung zu den Orten ´historischer Armut´ zu widersprechen. Zu den Gewerbeansiedlungen in Kaltennordheim vgl. die Abschnitte 1.3.3., 1.3.4. und 1.3.4.1. im IV. Kapitel 48 dagegen durchaus die Vergangenheit Kaltensundheims, das seit dem 9. Jahrhundert auch Sitz eines Centgerichts war. In der regionalen Geschichtsschreibung ist Kaltensundheim als “alter bedeutender Marktflecken”14 ausgewiesen, “(...) welcher in denen alten Zeiten rennomiert (sic!) gewesen.”15 Im 19. Jahrhundert fanden hier jährlich noch sechs Jahrmärkte und (zusätzliche) Viehmärkte statt. 16 Die vorausgegangene “Gewerbsblüthe” war mit der seit dem Ende des 17. Jahrhunderts zunehmenden Zahl von Webern im Ort verbunden gewesen. Die “Ungunst von Boden und Klima” gehört zu den Besonderheiten der Untersuchungsregion, die dennoch kein untypisches Beispiel für vorindustrielle Lebensverhältnisse und Entwicklungen gibt. Ähnliche Verhältnisse gab es beispielsweise in Laichingen, einem Ort auf der Schwäbischen Alb, den Medick untersucht hat.17 Eine karge Landwirtschaft und ein ungünstiges Klima gehörten auch zu den Bedingungen dieser Region, die unter anderem “´Rauhe Alp´ (...) oder auch das ´württembergische Sibirien (...)” genannt wurde.18 Im Blick auf die teilweise kritische Versorgungslage in der Rhön ist ebenfalls zu berücksichtigen, “daß Unter- und Mangelernährung sowie Hunger in akuter Form von ´Hungerkrisen´ infolge von Mißernten und Teuerung im vorindustriellen Europa für große Teile der Bevölkerung fast überall und fast ständig gegenwärtig waren. Die Angst vor elementarem Mangel bildete ein weithin bestimmendes Lebensgefühl, der Kampf um das täglich Brot im wörtlichen Sinne war die wichtigste Komponente damaliger ´Armut´.”19 14 Bach 1985 [1897], S.63 (Heft 1) 15 “Denn”, fährt der Chronist Weinrich fort, “soviel sich aus dem jetzigen Kirchbau entnehmen läßt, muß solcher vormals Sitz eines vornehmen Herrn oder wohl gar eines Grafen von Henneberg gewesen sein.” (Weinrich, zit. nach Bach 1985 [1897], S.68 (Heft 2)) Dies wird bei Marschall/Marschall bestätigt. Demnach trat im Jahr “1549 der letzte Graf von Henneberg seinen Besitz in Kaltensundheim an seinen Schwager, Graf von Mansfeld, ab.” (Marschall/Marschall o.J., S.6) Zu den Herrschaftsverhältnissen vgl. auch die Hinweise auf S.52 16 Vgl. Staats-Handbuch 1846, S.216, Staats-Handbuch 1874, S.211, Staatshandbuch 1900, S.318 17 Medick 1997 18 Ebd., S.13. Die Strategien der Laichinger waren denen der Kaltensundheimer im 19. Jahrhundert ebenfalls nicht unähnlich; in beiden Orten erfolgten Spezialisierungen im Gewerbe. Vgl. für Laichingen ebd., S.264ff, für Kaltensundheim und seine Region Abschnitt 1.3.4. in Kapitel IV. 19 Von Hippel 1995, S.8. Vgl. auch Kaschuba 1990, S.6f und Sombart 1921, S.21ff. Entsprechend führt auch Nipperdey, im Blick auf “(...) die soziale Vorgeschichte der Revolution von 1848 (...)”, aus: “Die gesamte Volkswirtschaft und das Leben der Menschen, das der Armen zumal, hing vom Ausfall der Ernten, zum guten Teil auch der regionalen Ernten ab. Schlechte Ernten führten zu gewaltigen Teuerungen (...) und zum Hunger. (...) Bis in die Phase der Frühindustrialisierung gehören die Hungerkrisen zum Schicksal, und ihre Auswirkungen gehen weit über die uns seither bekannten industriellen Krisen hinaus. 1816/17 und 1845/47 ist Deutschland (wie Europa) von solchen Katastrophen, Mißernten und noch dazu 1845/1846 von der Kartoffelfäule heimgesucht, die zum 1845/1847 die Massenarmut zum schrecklichen Elend verschärfen (...).” (Nipperdey 1994, S. 147) Von Hippel schließlich fährt fort: “Noch über die Mitte des 19. Jahrhunderts hinaus mußten ´weniger bemittelte Familien´- und dazu zählte selbst ein beträchtlicher Teil des Handwerks - für 49 Mit der Industrialisierung wurde das Untersuchungsgebiet dann zu einem, wiederum typischen, Beispiel für den Abstieg und die Verlierer der Entwicklung. Die Region verfügte nicht über Vorkommen und Strukturen, die Anziehungskraft für größere Industrieansiedlungen hätten ausüben können. Auch die nicht standortgebundenen Industrien zog es nicht hierher. Die Region hielt zwangsläufig noch Ende des 19. Jahrhunderts an alten Produktionsmethoden fest und war in diesem Rahmen bemüht, sich auf neue Produkte, wie zum Beispiel die Plüschweberei, die noch nicht fabrikmäßig betrieben wurde, umzustellen. In verschiedener Hinsicht entsprachen die Entwicklungen in der Region denen der Familie von Richard Schmidt. Seine Vorfahren stiegen ebenfalls ab. Sie waren vor allem als Schmiede, Weber, Maurer, teilweise - und später verstärkt - auch als Tagelöhner und in Gemeindediensten tätig. Es gab in den verschiedenen Herkunftslinien zwar im einzelnen unterschiedliche Entwicklungen und vor allem im 17. und 18. Jahrhundert recht deutliche Unterschiede in den jeweiligen Besitzverhältnissen. Sozialer Abstieg und Armut wurden im 19. Jahrhundert aber doch zu gemeinsamen Erfahrungen. Auch im Blick auf die verfügbaren Ressourcen gab es Entsprechungen zwischen Familie und Region, die lediglich billige Arbeitskräfte und Fleiß zu bieten hatte.20 Das Vermögen, das die Vorfahren für ihren Lebensunterhalt mobilisieren konnten, beruhte im 19. Jahrhundert vor allem auf Arbeitskraft und Kulturkapital, nicht auf materiellen Gütern. Gemeindedienstliche Nebenerwerbsquellen lassen sich in dem Zusammenhang als “(...) ein typischer Ausdruck der gesellschaftlichen Ausmusterung veralteter Reproduktionsformen bzw. der mühsamen Versuche ihrer Behauptung”21 verstehen. Ähnlich sind auf regionaler Ebene die bei Riehl genannten ´sporadischen Versuche´ und das Bemühen zu deuten, sich auf neue Produkte im Rahmen herkömmlicher Produktionsweisen umzustellen. Der soziale Abstieg der Familie und auch der Abstieg der Region können auf Veränderungen im Feld, auf zunehmende Begrenzungen der Handlungsspielräume zurückgeführt werden. Daß der Habitus und seine Beziehung zum Handlungsfeld für die Praxis gleichermaßen bedeutsam ist, fällt immer dann besonders auf, wenn eine nach Quantität und Qualität bestenfalls mäßige Nahrung in Normalzeiten 65-70% ihres Einkommens aufwenden; in den vorangehenden Jahrhunderten dürfte der Prozentsatz sogar eher bei 70-80% gelegen haben.” (Von Hippel 1995, S.8) 20 Dies brachte Riehl unter anderem an einem Beispiel aus der Hohen Rhön pointiert zum Ausdruck: “Die muthige Unverdrossenheit der hohen Rhöner bei ihrem steten Kampf mit der feindseligen Natur ist seit alten Tagen sprüchwörtlich. In einem Spruchverse, der die rhönischen Städte nach ihren besonderen Besitzthümern charakterisiert, heißt es von Bischofsheim, der Repräsentantin der hohen Rhön, bloß es habe ´den Fleiß´.” (Riehl 1854, S.231) 21 Kaschuba/Lipp 1982, S.106f 50 die Praxis den Möglichkeiten des Feldes und den damit verbundenen Erwartungen an sie zu widersprechen scheint. Dieser Fall trifft hier bei der kaltensundheimer Schmiedefamilie Rauch, einer der Herkunftslinien der Familie von Richard Schmidt, deutlich erkennbar ein.22 Ihrer Untersuchung gilt deshalb auch besondere Aufmerksamkeit. Insgesamt werden die kaltensundheimer Vorfahren sehr viel ausführlicher behandelt als der unterkatzer Teil der Familie von Richard Schmidt. Zu den Gründen dafür gehört, daß die Voraussetzungen bei den Recherchen zu den Kaltensundheimern günstiger waren, weil sie hier auf besonderes Interesse und ausgeprägte Unterstützung bei einem Nachkommen einer alteingessenen Familie des Dorfes stießen.23 Dadurch konnten sowohl die Herkunftslinie der kaltensundheimer Großmutter wie die des kaltensundheimer Großvaters von Richard Schmidt ausführlich berücksichtigt werden. Die Ergebnisse der Untersuchung zu den Familienangehörigen dieses Dorfes erlauben dann, die unterkatzer Vorfahren relativ kurz zu behandeln. Bei ihnen zeigt sich im Verhältnis zu den Kaltensundheimern kein grundlegend neues oder anderes Habitusmuster. 22 Vgl. die Abschnitte unter 2.1. im IV. Kapitel 23 Diese Unterstützung kam von Reinhold Spiegel, dessen Vater am Beginn des Jahrhunderts seinen Heimatort Kaltensundheim verließ. Der inzwischen 88jährige Sohn lebt in Leverkusen und verfolgt aus persönlichem Interesse seit langem die Geschichte Kaltensundheims und seiner Familien. Er verfügt über Kopien und Abschriften aller kaltensundheimer Kirchenbücher, über Kenntnisse der Region und der Herkunft und Verbreitung von Familiennamen im Untersuchungsgebiet. 51 IV. Ältere Vorfahren von Richard Schmidt mütterlicherseits die kaltensundheimer Familien seit dem 17. und 18. Jahrhundert 1. Das Dorf Kaltensundheim und die Region Im April 1890 wurden die Dienstmagd Mathilde Rauch und der Handarbeiter Christian Ferdinand Schmidt in der Kirche von Kaltensundheim getraut. Kaltensundheim war der Heimatort von Mathilde Rauch. Herkunftsort von Christian Ferdinand Schmidt und gemeinsamer Wohnsitz der Eheleute war Unterkatz. Dort wurde im Oktober 1890 ihr erstes Kind, Richard Schmidt, geboren. Kaltensundheim, im südlichen Teil des Kreises Eisenach, dem sogenannten Eisenacher Oberland, gelegen,1 war während dieser Zeit dem Amtsgerichtsbezirk Kaltennordheim zugeordnet. Die Amtsgerichtsbezirke Kaltennordheim, Lengsfeld, Geisa, Ostheim und Vacha bildeten in “politischer Hinsicht” den IV. Verwaltungsbezirk. “(...) geographisch gehört dieser Bezirk fast ausschließlich dem thüringischen Rhöngebiete, den nördlichen, östlichen und südlichen Vorbergen der Rhön, sowie zu einem kleineren Theil der hohen Rhön selbst an.”2 Kaltensundheim liegt 460 Meter hoch am oberen Flußlauf der Felda und ist von bis zu 600 Meter hohen Bergen umgeben. 1 Vgl. zur Orientierung die Karte auf S.47 2 Gau 1883, S.23. Kaltensundheim wurde (lt. Kahl 1996, S.40 und Binder 1982 [1896]) 795 n. Chr. zuerst im Rahmen einer Schenkung an das Kloster Fulda erwähnt, dessen umfangreichen Besitzerwerb zahlreiche Urkunden belegen. (Lt. Bach 1985 [1897], S.63, wurde Kaltensundheim bereits 783 n. Chr. urkundlich erwähnt.) Der Ort gehörte in karolingischer Zeit zum fränkischen Gau Tullifeld. Mit der Auflösung der Gauverfassung im 11. Jahrhundert fiel das Tullifeld an eine Linie der (später gefürsteten) Grafen von Henneberg. Kaltensundheim wurde 819 erstmals als Gerichtsort genannt (vgl. Binder 1982 [1896], S.261). Vermutlich durch Erbschaftsverhältnisse kam es zur Teilung der Cent Kaltensundheim, der Ort gehörte anschließend zum Amt Lichtenberg, das 1230 an Würzburg verkauft wurde und 1231 in fuldaischen Besitz kam. Die Abtei konnte ihre Position, die sie in anderen Gebieten insgesamt erfolgreich gegen die Henneberger durchsetzte, hier nicht halten. “Nach wechselvollem Kampf mit Henneberg” ging die Zent Kaltensundheim “durch Versetzung 1366 an Thüringen, 1409 an Mainz, 1423 an Würzburg und 1435 an Henneberg-Römhild verloren und gelangte 1555 an die Ernestiner (seit 1640 Linie Sachsen-Weimar bzw. Seitenlinie S.-Eisenach).” Wölfing 1995, S.125; vgl. auch Binder 1982 [1896], S.11ff. Die Geschichte des Tullifelds wird ausführlich beschrieben von Bach 1985 [1897]. Zur Geschichte der Henneberger vgl. Wölfing 1995. Zur Geschichte Thüringens und des Herzogtums Sachsen-Weimar-Eisenach, das 1806 Großherzogtum wurde, vgl. die Hinweise in Kapitel III. 52 Kaltensundheim 1997 1.1. Bevölkerung: Von der ´Expansion´ zur Abwanderung am Ende des 19. Jahrhunderts Während des 30jährigen Krieges verzeichnete Thüringen “gewaltige” Bevölkerungsverluste, die Möller auf bis zu 66% beziffert: “(...) war Thüringen doch Durchgangsland für alle feindlichen Heere (...)”.3 Entsprechend führt auch Trossbach, unter Hinweis auf die regional “extrem” unterschiedlichen Kriegsschäden, aus: “Am furchtbarsten heimgesucht waren (...) neben den Ostsee-Anrainerländern Mecklenburg und Pommern die Kernlande des Reiches - Thüringen, Franken, die Pfalz, die Wetterau und Schwaben.”4 Das Amt Lichtenberg, zu dem Kaltensundheim gehörte, verlor in dieser Zeit 80% seiner Bevölkerung. Gegenüber den 750 zu Kriegsbeginn im Amt ansässigen Familien hatte sich deren Zahl im Jahr 1649 auf 130 reduziert.5 Nachdem es in den ersten Kriegsjahren in der Rhön noch “ruhig” geblieben war, wurde Kaltensundheim im Herbst 1634, angeführt vom kaiserlichen Oberst Isolani, überfallen: “Fürchterlich tobt der Krieg 1634 in unserem Dorf. Hohe 3 Möller 1986, S.83 4 Trossbach 1993, S.1. Vgl. auch die Karte ebd., S.2 5 Vgl. Gemeinde Kaltensundheim 1995, S.18 53 Unkosten hat die Gemeinde an Eimer Wein und Branntwein für die saufenden Rittmeister (...) zu zahlen. Viele Flüchtlinge aus Franken suchen hier Unterkunft, darunter auch Kinder. Bei einem Kroateneinfall hält die Kirchenbefestigung längere Zeit, später fällt sie und dann wird das Dorf geplündert. Obwohl ganze Seiten aus dem Kirchenbuch herausgerissen sind, geben mehrere Eintragungen im Tauf- und Sterberegister Zeugnis von den Schandtaten der Kroaten (...).”6 Auch zahlreiche umliegende Orte wurden in dieser Zeit überfallen und teilweise niedergebrannt.7 Im darauffolgenden Jahr 1635 verzeichnete das kaltensundheimer Kirchenbuch über 480 Todesfälle. Dabei waren mehr als 360 Menschen an der Pest gestorben.8 Zwar stammten nicht alle, aber doch die überwiegende Mehrheit der Verstorbenen aus Kaltensundheim. Im Jahr 1667 verzeichnete das Seelenregister dann 606 Einwohner im Dorf.9 Die Zahl der kaltensundheimer Bewohner stieg bis 1833 auf 704.10 Die anschließende Entwicklung ist im Kontext allgemeinerer Prozesse und regionaler Differenzierungen zu lesen, innerhalb derer sich das Eisenacher Oberland und die Vorderrhön schließlich randständig entwickelten: Die “Bevölkerungsexplosion”11 des 19. Jahrhunderts hatte ihren Schwerpunkt in der Zeit des Deutschen Bundes. Zwischen 1816 und 1865 wuchs die Bevölkerung um insgesamt 60%, von knapp 33 Millionen auf mehr als 52 Millionen Menschen. Dabei gab es in der ersten Hälfte dieses Zeitraums ein schnelleres Wachstum als in den zweiten 25 Jahren.12 In Thüringen war zwischen 1816 und 1831 ein Anstieg “(...) 6 Marschall/Marschall o.J., S.8. Vgl. auch Gemeinde Kaltensundheim 1995, S.16 7 Vgl. ebd. 8 An der Pest starben seit dem Sommer 1634 bis zu elf Menschen an einem Tag. Vgl. auch Marschall/Marschall o.J., S.8 9 119 Männer, 135 Frauen, 343 Kinder und andere Verwandte im Haushalt sowie neun weitere Personen (Dienstboten usw.) lebten in insgesamt 169 Familien in 136 Haushaltungen. Vgl. auch Spiegel o.J., o.S. - Die Zahl der kaltensundheimer Einwohner unmittelbar nach Ende des Krieges ist nicht belegt. Es fehlen auch Zahlen zur konkreten Entwicklung im 18. Jahrhundert. Trossbach weist darauf hin, daß die während des 30jährigen Krieges entstandenen Bevölkerungsverluste “in vielen Territorien (...) überraschend schnell ausgeglichen (waren). Freilich gab es auch Landstriche, z.B. im Südwesten Thüringens, wo die Bevölkerungszahl erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts, manchmal sogar erst später wieder den Vorkriegsstand erreichte.” (Trossbach 1993, S.2) 10 Vgl. Marschall/Marschall o.J., S.53 11 Reulecke 1985, S.68 12 Vgl. zu den angegebenen Zahlen Nipperdey 1994, S.102. Vgl. auch Reulecke 1985, S.68ff, Rürup 1984, S.22ff 54 von 680.000 auf 800.000 Menschen, bis 1846 auf mehr als 900.000"13 zu verzeichnen. In Kaltensundheim stieg die Zahl der Einwohner zwischen 1833 und 1858 um etwa ein Drittel, von 704 auf 934.14 Innerhalb dieses Zeitraums war vor allem bis 1844 ein starker Zuwachs, um etwa 20% auf 848 Einwohner, zu verzeichnen. Während der anschließenden Krisenjahre stagnierten die Zahlen vorübergehend.15 Zwischen 1858 und 1874 stieg die Bevölkerung dann ebenfalls in deutlich schwächerem Umfang auf 968 Einwohner.16 Zu Beginn der 1870er Jahre lebten etwa zwei Drittel der Bevölkerung des Großherzogtums Sachsen-Weimar-Eisenach noch in Landgemeinden.17 Ähnlich verhielt es sich im ganzen Deutschen Reich, wo in dieser Zeit noch etwa 64% der Menschen in Gemeinden unter 2000 Einwohnern lebten.18 Die Verstädterung intensivierte sich in der zweiten Jahrhunderthälfte und beruhte in der Hauptsache auf Zuwanderung. “Ausgelöst durch die Agrarkrise der 1850er Jahre und begünstigt durch die fast ungebrochene konjunkturelle Prosperität der Industrie bis 1872/73", erreichte die “räumliche Mobilität” eine “neue Dimension”, die sich in “Rekordquoten” der Land-Stadt-Wanderung und des Städtewachstums niederschlug.19 Die Zahl und Aufnahmekapazität der Industriebetriebe war zunächst aber geringer als “das 13 Facius 1978, S.46 14 Für das Jahr 1858 vgl. Ortschronik 1858, o.S. Von den 934 Einwohnern waren 470 männlich, 464 weiblich. Über 14 Jahre alt waren 658 Personen, 276 waren jünger. Der Ort hatte zu diesem Zeitpunkt 223 Familien. Die Kaltensundheimer waren ausnahmslos evangelischer Religionszugehörigkeit. (Vgl. ebd.) 15 1846: 849, 1849: 879 Einwohner. Vgl. Staatshandbuch 1846 und Marschall/Marschall o.J., S.53. 16 Vgl. Staats-Handbuch 1874. Zwischen 1846 und 1874 wurden die Wohnverhältnisse in Kaltensundheim beengter. Die in diesem Zeitraum um 119 Personen gewachsene Gemeinde blieb auf nach wie vor 168 Wohnhäuser verteilt. (Vgl. Staatshandbuch 1846 und 1874) Zur allgemeinen Entwicklung der Wohnverhältnisse auf dem Land führt Nipperdey unter anderem aus: “(...) mit der Zunahme der ländlichen Unterschicht und ihrer Verarmung verschärft sich auch deren Wohnungs´elend´; oft leben diese Menschen zusammengedrängt nahe den Tieren in recht primitiven, dunklen, unhygienischen Ein-Stuben-, Eine-Kammer-Hütten.” (Nipperdey 1994, S.132) Riehl gibt einige Beispiel für entsprechende Wohnverhältnisse im Untersuchungsgebiet. (Vgl. Riehl 1854, S.199ff). Für Thüringen vgl. auch Hess 1991, S.142f 17 Bevölkerung des Großherzogtums nach der Zählung vom 1. Dezember 1871: insgesamt 286.183, davon 139.352 Männer und 146.831 “Weiber”. 98.533 Personen in den Städten, 187.650 in den Landgemeinden. Zahl der Haushaltungen insgesamt: 62.324, 22.648 in den Städten, 39.676 auf dem Lande. Vgl. Staats-Handbuch 1874, S.294; vgl. auch Hess 1991, S.132 18 Vgl. Nipperdey 1994, S.112, Rürup 1984, S.32f. Ende des 18. Jahrhunderts hatte der Prozentsatz der auf dem Land lebenden Bevölkerung noch bei durchschnittlich 80% gelegen. Vgl. Wehler 1987, S.140, Kocka 1990, S.52f. Zu Bevölkerungsgeschichte und Wanderungen bis Ende des 18. Jahrhunderts vgl. auch Pfister 1994. 19 Kaschuba 1990, S.19 55 gesamte im Rahmen der traditionellen Gewerbestruktur nicht mehr unterzubringende Arbeitskräftepotential. In dieser Situation stellte die Auswanderung nach Übersee, vor allem in die USA, ein wichtiges Ventil dar, das den Überdruck ableitete: Zwischen 1850 und 1860 wanderten rund 1,1 Millionen Menschen aus Deutschland aus (...).”20 In Thüringen stammten die Auswanderer dieser Zeit vor allem aus dem Thüringer Wald, dem Eichsfeld und der Vorderrhön.21 Bereits 1846/47 “(bewegte) eine allgemeine, jedoch schwache Auswanderungswelle (...) infolge der Ernährungsschwierigkeiten (...) die kleinstaatliche Bevölkerung (...)”22 Thüringens. Kaltensundheim verzeichnete insbesondere zwischen Mitte der 1840er und dem Beginn der 1860er Jahre Auswanderungen. Als Ursachenbündel sind die in der Ortschronik genannten Mißernten, das immer wieder “stockende Gewerbe” sowie eine auch durch Geburtenüberschuß gewachsene Einwohnerzahl des Ortes23, mit der die “´Auffüllung´ des Landes bis zur Grenze des Nahrungsspielraums”24 erreicht wurde, zu vermuten. “Infolge der schlechten Zeiten”, so die Ortschronik, wanderten 1846 vier Kaltensundheimer nach Amerika aus. 1850 folgten sechs weitere Einwohner (von denen einer im Jahr darauf zurückkehrte), 1859 waren es zwei, 1861 dann sogar zehn Kaltensundheimer, die nach Amerika zogen.25 Die Bevölkerungsentwicklung nach der Reichsgründung belegt für Thüringen eine regionale Ausdifferenzierung, in der sich die Industriegebiete des Ostens und des südöstlichen Thüringer Waldes und die “industriearmen Gegenden vor allem des Thüringer Beckens und der Vorderrhön” deutlich voneinander schieden.26 Apolda, Erfurt, Gera, Greiz und Sonneberg waren die Industriestädte Thüringens, die in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts ein ausgesprochen rasches Bevölkerungswachstum verzeichneten.27 Dem standen in den industriearmen und landwirtschaftlichen Gegenden stagnierende und auch rückläufige Bevölkerungszahlen 20 Reulecke 1985, S.41. Vgl auch ebd., S.70ff, Nipperdey 1994, S.114, Rürup 1984, S.30f 21 Vgl. Hess 1991, S.133. 22 Facius 1978, S.47 23 1858 z.B. standen den 33 Geburten in Kaltensundheim 17 Todesfälle gegenüber. Vgl. Ortschronik 1858, o.S. 24 Nipperdey 1994, S.112 25 Vgl. Marschall/Marschall o.J., S.15ff 26 Hess 1991, S.135 27 Im Landratsamtsbezirk Gera stieg die Einwohnerzahl von 1871 bis 1900 um 144,3%, von 40.721 auf 99.594. Im Kreis Sonneberg nahm sie in diesem Zeitraum um 65,5% zu (1871: 37.225 Einwohner, 1900: 61.650). Vgl. ebd., S.134 56 gegenüber. Starke Differenzen wies entsprechend die Bevölkerungsdichte Thüringens im Jahr 1900 aus. Der Amtsgerichtsbezirk Kaltennordheim, zu dem Kaltensundheim gehörte, lag mit gut 57 Einwohnern pro Quadratkilometer weit unter den mehr als 121 Menschen, die im Durchschnitt auf einem Quadratkilometer Thüringens lebten. An der Spitze lag der Amtsgerichtsbezirk Gera mit über 406 Einwohnern/qkm.28 Kaltensundheim 1936 (Foto: Reinhold Spiegel) Zwischen 1871 und 1900 stieg die Einwohnerzahl Thüringens um insgesamt 31,3%.29 Die Bevölkerung von Sachsen-Weimar-Eisenach nahm in diesem Zeitraum unterdurchschnittlich, um 26,8%, zu.30 Die Zahlen für das Eisenacher Oberland belegen zunächst ebenfalls noch ein Wachstum: 1871 lag die Zahl der ortsanwesenden Bevölkerung hier bei 35.837. 1880 war sie auf 39.761 gestiegen. Im Amtsgerichtsbezirk Kaltennordheim, dem Kaltensundheim angehörte, wuchs die Bevölkerung in diesem Zeitraum von 8.550 auf 11.993 Personen.31 28 Vgl. Hess 1991, S.134f 29 Die Zahl der Einwohner stieg von 1.465.407 auf 1.923.772. Vgl. Hess 1991, S.132 30 Sie stieg von 286.183 auf 362.873. Vgl. ebd. 31 Zu den Zahlen für 1871 vgl. Staats-Handbuch 1874, S.294. Die Zahlen für 1880 ergeben sich aus der Aufstellung bei Gau 1989 [1889], S.77 57 In Kaltensundheim bestätigt sich nach 1874 (968 Einwohner) die zuvor für industriearme Gegenden genannte rückläufige Bevölkerungsentwicklung. 32 Im Jahr 1900 hatte der Ort noch 923 Einwohner.33 Dabei sind in der kaltensundheimer Chronik nach 1861 keine Auswanderungen nach Amerika mehr verzeichnet. Insgesamt verlor die Auswanderung in Thüringen nach der Reichsgründung rasch an Bedeutung, wenngleich sie um 1880 und zwischen 1890 und 1893 noch einmal zunahm. “Eine Rolle spielten dabei zunächst noch Sachsen-Weimar-Eisenach und SachsenMeiningen (...).” Zwischen 1871 und 1900 betrug die “Gesamtzahl der überseeischen Auswanderer (...) 35.950. Damit lagen die thüringischen Staaten im Gegensatz zu früher beträchtlich unter dem deutschen Durchschnitt.”34 Hingegen stieg die innerdeutsche Wanderung in Thüringen seit 1870 erheblich an. “Sie erfolgte vor allem aus den übervölkerten industriearmen Gebieten Thüringens, die bei weitverbreitetem Pauperismus schon früher die Menschen für die überseeische Auswanderung gestellt hatten. (...) Ohne ihre Heimat dauernd zu verlassen, suchten viele Thüringer wie die ´Westfalengänger´ aus dem Eichsfeld und der Vorderrhön Saisonarbeit in der westdeutschen Industrie.”35 Ähnlich wurde in einer 1892 erfolgten Untersuchung im Eisenacher Oberland die teilweise unzureichende Zahl ländlicher Arbeiter “(...) zum Teil (...) darauf zurück(geführt) (...), daß aus einzelnen Gemeinden Arbeiter vom Frühjahr bis zum Herbst in die westfälischen Kohlenwerke und in die Backsteinfabriken zu Bochum und Wandsleben gehen”.36 Aus Kaltensundheim zogen 1895 drei Familien ganz nach Westfalen, “um dort in der Industrie bessere Lebensmöglichkeiten und Arbeit zu finden”. Angehörige anderer Familien folgten ihnen.37 Das Eisenacher Oberland hatten zuvor bereits knapp 1.500 Personen dauerhaft verlassen. Die Zahl seiner Bewohner reduzierte sich zwischen 1880 und 1885 auf 32 Dabei lag der Geburtenüberschuß in Thüringen im allgemeinen in den 1870er Jahren am höchsten und blieb auch bis zum Jahrhundertende “noch durchaus günstig”. Vgl. Hess 1991, S.133 33 Vgl. Staatshandbuch 1900, S.318. Die Zahl der Wohnhäuser in Kaltensundheim hatte sich im Jahr 1900 auf 157 reduziert. Vgl. ebd. - Im 20. Jahrhundert stieg die Zahl der Einwohner Kaltensundheims wieder an. 1910: 965 Einwohner, 1919: 1003, 1925: 980, 1945: 1057. Vgl. Marschall/Marschall o.J., S.53 34 Hess 1991, S.133 35 Ebd., S.132f. Zur Bevölkerungsentwicklung in Thüringen zu Beginn des 20. Jahrhunderts vgl. ebd., S.352ff 36 Frankenstein 1892, S.85. In Bezug auf die ländlichen Arbeiter stellte Frankenstein weiter fest, daß ihre “(...) erwachsenen Kinder (...) sich nur selten noch den landwirtschaftlichen Arbeiten widmen. Die Knaben erlernen ein Handwerk oder treten zur Industrie über, die Mädchen verdingen sich fast ausnahmslos als Dienstboten in die Städte oder fernere Gegenden. Um dem Mangel an Arbeitern abzuhelfen, beziehen größere Güter weibliche Arbeitskräfte für die Zeit von Anfang April bis Ende Oktober oder Mitte November aus Oberschlesien oder Posen.” (Ebd.) 37 Marschall/Marschall o.J., S.15ff 58 38.264. Aus dem Amtsgerichtsbezirk Kaltennordheim waren im gleichen Zeitraum 423 Bewohner abgewandert, die ortsanwesende Bevölkerung lag 1885 noch bei 11.570 Personen.38 1.2. Landwirtschaft: Kleinbäuerliche Strukturen Es gab unter den direkten kaltensundheimer Vorfahren von Richard Schmidt eine Linie, die über Land verfügte, und eine besitzarme Familie, die keine entsprechenden Existenzmöglichkeiten beanspruchen konnte. Im Dorf blieb der Ackerbau wichtig, dennoch wurde zunehmend das Gewerbe relevant. Die besondere Bedeutung der Gewerbetätigkeit für die Bewohner Kaltensundheims und seiner Umgebung erschließt sich im Blick auf Landwirtschaft und Besitzverhältnisse in der Region.39 Allgemein entwickelten sich die Bauern in der Zusammensetzung der ländlichen Bevölkerung bis zum Ende des 18. Jahrhunderts zunehmend zu einer Minderheit. “Das dominierende demographische Phänomen auch des 18. Jahrhunderts war eben diese rasante zunehmende Vermehrung der unterbäuerlichen Schichten. Durch die folgenschweren sozioökonomischen und politischen Konsequenzen wurde das ständische Sozialgefüge auf dem Lande unwiderruflich in Frage gestellt.”40 Die Zunahme der ländlichen Unterschichten wurde einerseits durch verstärktes Bevölkerungswachstum, andererseits auch durch stark zersplitterte Bauernwirtschaften infolge freier Erbteilung (Realteilung) verursacht.41 38 Gau 1989 [1889], S.77. Gau führte in seiner 1883, schwerpunktmäßig in den Amtsgerichtsbezirken Lengsfeld und Kaltennordheim, durchgeführten Untersuchung, auch gemeindepolitische Gründe für die “Abnahme der Bevölkerung oder die geringe Zunahme derselben” an: “(...) in Folge der reichsgesetzlichen Bestimmungen über das Heimathwesen, die Freizügigkeit und den Unterstützungswohnsitz, (sind) die Gemeinden ängstlich bestrebt (...), die Niederlassung von Fremden in den ländlichen Ortschaften zu erschweren, um möglichst zu verhüten, daß nichtbegüterte Personen, Handwerker oder Arbeiter, den Unterstützungswohnsitz in dem gn. Orte erlangen und eventl. früher oder später der Gemeinde zur Last fallen könnten.” (Gau 1883, S.58). 39 Der Abschnitt gibt Aufschluß über einige grundlegenden Verhältnisse in der Region, geht dann aber stärker auf die Entwicklungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein. Die verfügbaren Quellen geben vergleichsweise wenig Aufschluß über die konkrete Situation der bäuerlichen Wirtschaft in der Region während der ersten Jahrzehnte des Jahrhunderts. Entsprechende Hinweise für Kaltensundheim, die vor allem Ernteausfälle und Preisentwicklungen für landwirtschaftliche Produkte betreffen, sind in Abschnitt 2.1.1.1. in diesem Kapitel aufgenommen. Auf die Entwicklungen in der Landwirtschaft Thüringens seit der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts geht Hess (1991, S.123ff und S.342) ausführlicher ein. Zu Entwicklungen in der deutschen Landwirtschaft und bei den Bauern während der frühen Neuzeit vgl. die Arbeiten von Trossbach (1993) und Achilles (1991). 40 Wehler 1987, S.170 41 Vgl. Sieder 1987, S.75. Vgl auch von Hippel 1995, S.67f, Jacobeit/Jacobeit 1988, S.51ff 59 Die im Eisenacher Oberland, wie im übrigen Thüringen, vorherrschende Realteilung42 schlug sich auch in Kaltensundheim in einer rückläufigen Zahl der Bauern nieder. Dem Seelenregister des Ortes ist zu entnehmen, daß sich 1667 noch 62 Familien, damit etwa die Hälfte der 136 Haushalte, allein von der Landwirtschaft ernährten.43 Diese Zahl reduzierte sich bis Mitte des 19. Jahrhunderts fast um die Hälfte. 1858 gab es nur noch 34 Bauern im Dorf. Die von der Landwirtschaft Lebenden wurden auf insgesamt 151 der 934 Bewohner des Ortes beziffert.44 Zu den von der Landwirtschaft Lebenden liessen sich indirekt zumindest zu einem Teil auch die 100 Tagelöhner und Handarbeiter rechnen, die zu diesem Zeitpunkt der kaltensundheimer Gemeinde angehörten. Unter ihnen waren 27 Kinder unter 14 Jahren und fast doppelt soviel Frauen (49) wie Männer (24).45 Die Unterscheidung zwischen den Erwerbskategorien hatte mit der Zeit an Trennschärfe verloren und war häufig eher eine Frage der Gewichtung; dies insofern, als auf der einen Seite die Mehrheit der unterbäuerlichen, von Handwerk, Gewerbe und anderen Einkommensquellen lebenden 223 Familien, die 1858 ortsansässig waren, zusätzlich ein Stück Subsistenzwirtschaft im eigenen Garten und auf Kleinstbesitz betrieb. Die Zahl der zur kaltensundheimer Flur gehörenden Grundstücke betrug zu diesem Zeitpunkt 9.823, die insgesamt 269 Besitzern gehörten. Der Ort hatte außerdem 172 Viehbesitzer.46 - Auf der anderen Seite übten die Bauern häufig zusätzlich eine gewerbliche oder handwerkliche Tätigkeit aus.47 Dies bot sich einerseits an in den Monaten, in denen nur wenig landwirtschaftliche Arbeit anfiel. Daß die Bauern andererseits auf einen entsprechenden Nebenerwerb auch angewiesen waren, lag sowohl in der verhältnismäßig geringen landwirtschaftlichen Ertragsfähigkeit (“Ungunst von Boden und Klima”) als auch in den vorherrschenden Besitzverhältnissen begründet. Bereits im 18. Jahrhundert dominierten mittlerer und 42 Vgl. Rösler 1996, o.S.; vgl. auch Greiner 1937, S.25 43 Vgl. auch Marschall/Marschall o.J., S.10. Die Zahl der Haushalte, die allein vom Ackerbau lebten, lag vermutlich etwas höher als 62. Das Seelenregister führt einige Haushalte an, in denen nur Ältere wohnten, die von ihren Kindern versorgt wurden. 44 Die Zahl der von der Landwirtschaft Lebenden setzte sich folgendermaßen zusammen: 34 Bauern mit 2 Gehilfen und 7 Dienstboten sowie insgesamt 108 dazugehörige Familienmitglieder. Vgl. Ortschronik 1858, o.S. 45 Vgl. ebd. 46 Vgl. ebd. Der Zahl der Grundstücke ist auch zu entnehmen, daß in Kaltensundheim bis 1858 keine Flurbereinigung durchgeführt worden war. 47 Gau (1883) bezeichnete die Landwirtschaft zwar als “Haupterwerbsquelle” der Bevölkerung im Eisenacher Oberland, fügte aber sogleich hinzu, daß “für sich sowohl als auch in Verbindung mit einem größeren oder kleineren Landwirtschaftsbetrieb (...) im Bezirk seit jeher Hausindustrie betrieben (wird)”. (S.78) 60 kleinerer Grundbesitz in der Region. Für die Rhön führt Wehler an, daß 75% ihrer Bewohner in den 1780er Jahren Kleinbauern und Kleinstellenbesitzer waren.48 Grundlegende Veränderungen in dieser Struktur klein- und mittelbäuerlicher Verhältnisse gab es während des 19. Jahrhunderts, auch durch die Agrarreform, nicht.49 Insgesamt gab es in Thüringen “(...) in den landwirtschaftlichen Besitzverhältnissen (...) natürlich beträchtliche Unterschiede. Kleinbäuerliche Besitzverhältnisse herrschten am Rande des Thüringer Waldes und des Frankenwaldes, in der Vorderrhön und auf dem Eichsfeld vor. Großbauern traten vor allem im Altenburger Land auf, während der Großgrundbesitz (...) hauptsächlich im Thüringer Becken vertreten war.”50 Im Eisenacher Oberland bildeten auch zu Beginn der 1880er Jahre die Besitzungen mit einer Größe von bis zu einem Acker (= 0,28,5 ha = 28,5 a) bzw. über 5-20 Acker (142,49 a bis 569,94 a) die Mehrheit.51 “Im Gefolge” der Parzellierung, die, “wie überhaupt in Unterfranken, so auch in der Rhön eine sehr starke” war, wurden “manche Unzuträglichkeiten für die bäuerliche Wirthschaft” beklagt.52 Die durch das Erbgesetz begünstigte Realteilung geriet als ein Hindernis “rationeller Bewirthschaftung” zwar zunehmend in die Kritik. Praktisch blieb jedoch, trotz bestimmter Auflagen, zunächst auch weiterhin “die gleichmäßige Vertheilung der Grundstücke unter sämmtliche (sic!) Kinder” erhalten.53 48 Vgl. Wehler 1987, S.171 49 Gau faßte noch 1883 zusammen: “Was die Vertheilung des Grundeigenthums insbesondere in den Bezirken Lengsfeld und Kaltennordheim anbelangt, so herrscht in der Hauptsache der mittlere und kleinere Grundbesitz vor”. (Gau 1883, S.26) Daß die mittelbäuerliche Struktur insgesamt in den überwiegenden Gebieten Thüringens erhalten blieb, hängt damit zusammen, daß die Ablösung der Reallasten in allen thüringischen Staaten durch Geldzahlungen oder in Form einer Geldrente, auf keinen Fall aber durch die Abtretung von Land erfolgte. Vgl. Rösler 1996, o.S. und Hess 1991, S.124 50 Hess 1991, S.124. Vgl. allg. auch Jacobeit/Jacobeit 1987, S.47 51 Vgl. Gau 1883, S.27. Der Bedarf an Tagelöhnern war entsprechend dieser Besitzverteilung im Eisenacher Oberland “nicht sehr bedeutend”. (Ebd., S.25) Zur Bewirtschaftung der überwiegend kleinen Besitzungen führt Gau aus: “(...) die kleineren Besitzer, Handwerker, Industrielle und Tagelöhner, welche kein Anspannvieh halten können, lassen sich die erforderliche Bestellung ihres geringen Grundbesitzes und das Einbringen der Ernten durch die größeren Bauern besorgen, entweder gegen Bezahlung in Geld oder für anderweitige Gegenleistung”. (Ebd., S.35) 52 Thüngen-Roßbach 1883, S.174 53 Die Teilung einzelner Grundstücke war zunächst nur soweit gesetzlich beschränkt, daß Feldgrundstücke nicht kleiner als ½ Acker (14 a 25 qm), Holzgrundstücke gar nicht geteilt werden durften. (Vgl. Gau 1883, S.53) In zusammengelegten Fluren war dann, mit Ausnahme der Anlegung von Gemüse- und Kartoffelland, “(...) jedoch die Theilung der neuen Pläne regelmäßig nur dann gestattet, wenn jeder Theil eines Artlandplanes mindestens die Größe von 30 a, eine Breite von 10 m und die nämliche wirthschaftliche Zugänglichkeit behält, welche der ganze Plan besaß, während jeder Theil eines Wiesenplanes mindestens die Größe von 15 a behalten und wirthschaftlich zugänglich bleiben muß”. (Ebd., S.54). Zu Beginn der 1880er Jahre wurde innerhalb des Eisenacher Oberlandes vom Prinzip der Realteilung nur in den Orten Dermbach, Glattbach, Ober- und Unteralba abgewichen. Hier übernahm nur eines der Kinder den “väterlichen Besitz”, die Geschwister wurden ausbezahlt. (Ebd.) Thüngen-Roßbach (1883) zufolge war dies hingegen zum genannten 61 Gleichwohl brachte das 19. Jahrhundert auch für die Bauern und die Landbevölkerung des Eisenacher Oberlandes insgesamt zahlreiche Veränderungen und Herausforderungen. Die Bauernbefreiung als ein Symbol der Ablösung feudaler Verhältnisse gehörte zu den großen Reformen des 19. Jahrhunderts54, die im Zeichen eines sich wandelnden Selbstverständnis auf den Gedanken bürgerlicher Freiheit und rechtlicher Gleichheit aufbauten und in vielerei Hinsicht die liberale Wirtschaftstheorie von Adam Smith zum Vorbild hatten. Im Kontext erwartbarer Leistungs- und Produktionssteigerung und einer rationelleren Landwirtschaft wurde die Freiheit des Individuums und das freie Eigentum an Grund und Boden ein sinnvolles und notwendiges Ziel.55 Thüringen gehörte zum Bereich mitteldeutscher Grundherrschaft, für die es seit dem Ende des Mittelalters “keine persönliche Unfreiheit der Bauern im Sinne der Leibherrschaft” gab.56 Entsprechende Aufhebungsgesetze wie z.B. in Bayern oder Preußen waren hier nicht mehr nötig.57 Auch verfügten die thüringischen Bauern schon während der frühen Neuzeit “(...) überwiegend über relativ gute Besitzrechte (...)”, weil “(...) die Mehrzahl der Bauerngüter (...) zu Zinsrecht vergeben (war) (...)”.58 Dies kann zwar “(...) a priori (nicht) als Beweis für eine gute soziale Stellung gelten (...)”.59 Immerhin aber “(unterlag) der bäuerliche Produktionsprozeß (...) im Untersuchungsgebiet kaum der Reglementierung durch den Grundherrn. So lange eine ´ordnungsgemäße´ Zahlung des Zinses sowie die Ableistung Zeitpunkt bereits “der am häufigsten vorkommende Fall beim Erbgang (...)”. (S.176) Zu Beginn der 1890er Jahre berichtet dann Frankenstein: “Im allgemeinen sollen Parzellierungen in Erbfällen heute nicht häufig sein (...)”. (Frankenstein 1892, S.84) 54 Die Agrarverfassung der deutschen Staaten gründete sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit dem geteilten Eigentum an Grund und Boden noch auf das grundherrschaftliche Prinzip des mittelalterlichen Feudalstaats. “Der Grundherr besaß das Obereigentum und der abhängige Bauer das Nutzeigentum, an das Abgaben und Dienstleistungen (Reallasten) an den Grundherrn gebunden waren.” Rösler 1996, o.S. Zur allgemeinen Situation der Bauern im feudalen System vgl. Achilles 1991, S.28ff, Jacobeit/Jacobeit 1988, S.42ff, S.97ff, für das Ende des 18. Jahrhunderts auch Wehler 1987, S.159ff. Einen Überlick über Entwicklungen der bäuerlichen Gesellschaft nach Ende des 30jährigen Krieges gibt Trossbach (1993). 55 Vgl. Nipperdey 1994, S.31ff, der auch die Bauernbefreiung als “wesentlich an den Ideen des wirtschaftlichen Liberalismus orientiert” begreift. (Ebd., S.48) Nipperdey konzentriert sich vor allem auf die Entwicklung in Preußen, das, abgesehen von den linksrheinischen Gebieten, “bei der Auflösung der feudalen Agrarordnung in Deutschland eine Vorreiterfunktion” einnahm. (Ebd.) Vgl. auch Rürup 1984, S.33ff 56 Rösler 1996, o.S. Zum Überblick über grundherrschaftliche Bereiche in Deutschland und regionale Differenzierungen in der Agrarverfassung vgl. Trossbach 1993, S.12ff 57 Vgl. Rösler 1996, o.S., vgl. auch Facius 1978, S.9, S.41 und B. Schildt 1996, S.141 58 B. Schildt 1996, S.136. Vgl. auch Achilles 1991, S.30. “Die thüringischen Bauern besaßen ihre Güter entweder als Zins- oder als Erbzinsgüter, wobei erstere Form volles Eigenum, letztere hingegen lediglich erbliches Nutzungsrecht beeinhaltete.” (Ebd.) Im „fränkischen Rechtskreis”, zu dem Kaltensundheim gehörte, “scheint das bäuerliche Verfügungsrecht nicht durchgängig von einer herrschaftlichen Genehmigung abhängig gewesen zu sein (...)”. (B. Schildt 1996, S.136) 59 Ebd. 62 des Frondienstes erfolgte, war der Grundherr am diesbezüglichen Geschehen im Dorf wenig interessiert.”60 In den thüringischen Staaten unternahm 1821 zuerst Sachsen-Weimar-Eisenach gesetzliche Schritte zur Ablösung der Reallasten, die sich zunächst nur auf die Hand- und Spannfronen bezogen.61 Gesetze zur Ablösung von Abgaben und Lehngeldern traten im Großherzogtum dann erst 1848 und abschließend 1869 in Kraft, wobei die Zahlungen der Bauern, die für ihre vollständige Unabhängigkeit “erhebliches Ablösekapital” aufbringen mußten, teilweise bis ins 20. Jahrhundert reichten.62 Daß sich Bauernbefreiung und mit der Agrarreform verbundene Modernisierungen und Umstellungen nur langfristig durchsetzten, hatte verschiedene Ursachen. Wie die grundlegenden Strukturveränderungen insgesamt Reformen “von oben” waren, wurde auch in Thüringen die Bauernbefreiung vor allem von bürgerlich-liberalen Kräften getragen und weniger von den Bauern selbst. “(...) aus Mittel- und Westdeutschland gibt es Beispiele von Bauern, die die Befreiung, die ihnen auch herrschaftliche Leistungen entzog, ablehnten; eine Modernisierung - das war nicht Sache der Bauern.”63 Dies hatte sicher auch einen Grund im Beharrungsvermögen 60 B. Schildt 1996, S.141. Schildt fährt fort: Für die Bauern eröffneten sich daraus Möglichkeiten, über die einfache Reproduktion hinaus Überschüsse zu erwirtschaften. Die Statik des feudalen Rechts, in Sonderheit das starre Abgaben- und Frondienstsystem, erwies sich tendenziell als ´vorteilhaft´ für die Bauernschaft und damit natürlich nachteilig für die Grundherren. Aus dieser Interessenkonstellation erwuchs ein latentes Konfliktpotential. Bei den daraus resultierenden und zumeist in juristischer Form ausgetragenen Auseinandersetzungen ging die Initiative verständlicherweise überwiegend von der Grundherrschaft aus, während sich die Bauern wohlüberlegt auf ihr ´gutes altes Recht´ beriefen und das nicht selten mit Erfolg. Bezeichnend für eine solche Situation sind die Begleitumstände bei der Einrichtung einer herrschaftlichen Schäferei in Kaltensundheim. Die Gemeinde bekräftigte zunächst ihren ausschließlichen Anspruch auf wunne und weyd, wasser und wegk, als weyht die Marck ist, um anschließend, der B i t t e! des herrschaftlichen Vogts nachkommend, die Einrichtung besagter Schäferei zu gestatten, mit der Maßgabe, daß daraus den Nachbarn kein Schaden entstehen dürfte. Ob und inwieweit diese Entscheidung durch herrschaftlichen Druck beeinflußt oder sogar erzwungen worden ist, geht aus den Quellen begreiflicherweise nicht hervor.” (B. Schildt 1996, S.141f) Die zitierte kaltensundheimer Quelle entstammt einer Weisung aus dem Jahr 1468. Eine Abschrift dieses Weistums findet sich in Abschnitt 2.1.1.3. in diesem Kapitel. 61 Entsprechende Dienstleistungen waren zuvor auch im Rahmen gerichts- und landesherrlicher Lasten zu erbringen, die sich “auch auf die nichtbäuerliche ländliche Bevölkerung, wie Häusler, Einlieger (Tagelöhner) und Dorfhandwerker” erstreckten. Vgl. Rösler 1996, o.S. 62 Vgl. Facius 1978, S.41. Die Ablösung war nur möglich mithilfe von Kreditanstalten, die die Regierungen aller thüringischen Staaten gründeten und den “verpflichteten Bauern das erforderliche Ablösekapital bei niedrigem Zinssatz und langjährigen Tilgungsraten zur Verfügung” stellten. (Vgl. Rösler 1996, o.S., auch Hess 1991, S.123 und S.343) Trotz der Belastungen bewirkten die Agrarreformen im Vergleich mit anderen sozialen Gruppen allgemein doch erhöhte Einnahmen bei der bäuerlichen Bevölkerung. Vgl. Lenger 1988, S.45 63 Nipperdey 1994, S.43 63 tradierter Praktiken und Vorstellungen der Bauern und der Landbevölkerung. Umstellungen bedeuteten eine Herausforderung für den Habitus. Daß die Separation in einzelnen Gebieten wie auch im Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach trotz entsprechender gesetzlicher Regelungen “behufs Beseitigung” der “wirthschaftlichen Unzuträglichkeiten und des thatsächlich vorhandenen Flurzwangs”64 nur langsam Fortschritte machte, ist ein Indiz dieser Zählebigkeit von Strukturen. Für das Eisenacher Oberland stellte Gau 1883 fest, daß “die Zusammenlegung der Grundstücke erst in neuerer Zeit größere Fortschritte gemacht (hat), da erst jetzt die Vortheile derartiger Flurregulirungen (sic!) von den bäuerlichen Interessenten mehr und mehr anerkannt und gewürdigt werden”.65 In Kaltensundheim war die Zusammenlegung der Flur zu diesem Zeitpunkt bereits erfolgt.66 Insgesamt stand in Thüringen bei den bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts erfolgten Zusammenlegungen “am weitesten (...) noch die weimarische Rhön zurück. Sachsen-WeimarEisenach übertrug deshalb diese Aufgaben 1908 nach dem früheren Vorbild Sachsen-Meiningens und der beiden Schwarzburg an Preußen (...)”.67 Die Erfolge der Separation wurden in Thüringen langfristig zwar als durch “neue Erbteilungen gefährdet” eingeschätzt.68 Zusammen mit der Aufhebung des Flurzwangs und einer “verbesserten Dreifelderwirtschaft” führte sie dennoch zu gesteigerter landwirtschaftlicher Produktion.69 64 Gau 1883, S.30. Zum Beleg der extremen Zersplitterung des Grund und Bodens führt Gau u.a. für den Amtsgerichtsbezirk Kaltensundheim folgende Zahlen an: In Bezug auf die Gesamtfläche kamen 6,60 Grundstücksparzellen auf 1 ha, in Bezug auf die eigentlichen Nutzflächen (Hofraithen, Gärten, Artland und Wiesen) waren es 13,78 Parzellen pro ha. (Vgl. ebd., S.29) 65 Gau 1883, S.30. 1889 war in 16 der insgesamt 26 Gemeinden im Amtsgerichtsbezirk Kaltennordheim die Grundstückszusammenlegung erfolgt bzw. “im Gange”. (Vgl. Gau 1989 [1889], S.77) 66 Die Zahl der Grundstücke wurde dabei von 9823 auf 1055 reduziert. Die Größe der einzelnen Planstücke lag überwiegend unter 1 ha (825 Pläne unter 1 ha; 153 = 1-2; 52 = 2-3; 15= 3-4; 1= 4-5; 1 = 5-6; 1 = 6-7; 1 = 7-8; 1 = 12-13; 1 = 16-17; 1 = 20-21; 1 = 32-33; 1 = 58-59; 1 = 68-69). (Vgl. Gau 1883, S.32f) 67 Hess 1991, S.343 68 Ebd. 69 Vgl. Rösler 1996, o.S., ausführlicher zur landwirtschaftlichen Entwicklung in Thüringen vgl. Hess 1991, S.124ff 64 Erntearbeit in Kaltensundheim 1936 (Foto: Reinhold Spiegel) Es wäre einseitig, die im Untersuchungsgebiet vergleichsweise spät einsetzenden Modernisierungen allein dem Habitus der Bevölkerung zuzuschreiben. Gewisse Widerstände erklären sich erst in der Beziehung zu einem weiteren Handlungsfeld. Dazu gehörte unter anderem die schon vor Einsetzen der Bauernbefreiung relativ freie Stellung der thüringischen Bauern. Facius merkt an, daß im Bereich der mitteldeutschen Grundherrschaft aus diesem Grund die Ablösung der Reallasten noch 1830 “nirgends (...) vordringlich” war: “Schon die frühen weimarischen Ablösungsgesetze über Gesindezwangsdienste, Hut- und Triftverhältnisse sowie Handund Spannfronen von 1821 waren (...) auf Freiwilligkeit gestellt und wiesen in langen Jahren nur geringe Ergebnisse auf.”70 Während der Agrarreformen waren die Handlungsspielräume dann auch durch bescheidene ökonomische Ressourcen begrenzt. So führte Gau unter Hinweis auf die “notorische( ) Mittellosigkeit vieler Gemeinden unter anderem ”finanzielle Gründe für verzögerte Zusammenlegungen der Flur im Eisenacher Oberland an.71 Und schließlich sahen sich die rhöner Bauern seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch einer Politik ausgesetzt, die auf ihre Bedürfnisse, Gewohnheiten und Möglichkeiten häufig nicht hinreichend Rücksicht nahm. Klassifikationen, die den Rhönern zunehmend Rückständigkeit bescheinigten, sind nicht losgelöst von dieser Beziehung zu verstehen.72 70 Facius 1978, S.41 71 Gau 1883, S.28. Die “immerhin nicht unbedeutenden Kosten” des Verfahrens lagen in der Region bei durchschnittlich gut 29 Mk. pro ha. (Ebd., S.30f) 72 Vgl. dazu Abschnitt 1.4. in diesem Kapitel 65 Angewiesen auf die Nutzung der im gemeinschaftlichen Eigentum der Dorfgemeinde liegenden Weiden, Waldflächen und Gewässer, blieb die Agrarreform auch für die nichtbäuerliche Bevölkerung nicht ohne Folgen. Die im Sinne zunehmender wirtschaftlicher Eigenverantwortung erlassenen Verordnungen zur Gemeinheitsteilung, über die nur die an der Gemeinheit berechtigten Mitglieder entschieden, bedeuteten für Landarme und Landlose, die “(...) keine Mitglieder der Dorfgemeinde im Sinne der mittelalterlichen Agrarverfassung waren”73, eine weitere, unmittelbare Gefährdung ihrer Existenz. Die inzwischen enorm gewachsene unterbäuerliche Bevölkerung war wegen des seit langem bestehenden Mangels an ausreichenden Erwerbsmöglichkeiten ohnehin von teilweise drastischer Armut betroffen.74 Mit der Teilung der Gemeinheit wurden ihr dann unter anderem noch die Grundlagen der Viehhaltung entzogen.75 Gerhard weist darauf hin, daß vor allem die Frauen, deren Arbeit die Herstellung aller wichtigen Güter bis hin zum Sammeln der “Heizmittel” ausmachte, vom Entzug der gemeinsamen Nutzungsrechte betroffen und in ihren Möglichkeiten, in gewohnter Weise zum Lebensunterhalt beizutragen, eingeschränkt wurden.76 Insgesamt rechnet Rürup die nichtbäuerlichen Dorfbewohner zu den “eindeutigen Verlierern” der Reform.77 Einige Auskünfte über Umfang und Nutzung der Allmende in Kaltensundheim gibt die Kirchenchronik: “Die Gemeinde hat eine sehr große Hut, von welcher einige Stücke zu Kartoffel oder Grasbau benutzt und an die Ortsnachbarn verpachtet werden. Fast der ganze Grasberg ist Gemeindegut, und es hat beinahe jeder ein sogenanntes Grasloß zum Kartoffelbau gegen eine Erbpacht inne. Auch Pfarrer und Lehrer haben solche Graslose, ohne jedoch etwas dafür zu entrichten. Die ausge- 73 Rösler 1996, o.S. Zur thüringischen Dorfverfassung in der frühen Neuzeit vgl. B. Schildt 1996, S.81ff sowie Abschnitt 2.1.1.3. in diesem Kapitel 74 Vgl. Conze 1970, S.123, Rürup 1984, S.161 75 Vgl. Rösler 1996, o.S. 76 Vgl. Gerhard 1978, S.24 77 Rürup 1984, S.45. B. Schildt (1996) weist auf bereits während der frühen Neuzeit bestehende Beschränkungen in den thüringischen Dorfgemeinden hin: “Viehhaltende Hausgenossen hatten nicht überall Anteil an der Gemeindehut.” Auf eigenen Grund verwiesen, “(...) war ihnen natürlich die Viehhaltung nur in sehr begrenztem Umfang möglich - aus der Sicht der Nachbarn ein durchaus gewollter Effekt”. (Ebd., S.158) Andererseits wurde das Recht zur Viehhaltung auf Allmendeflächen “wohl nirgends” vollkommen auf die “eigentlichen Nachbarn” beschränkt. “Das (...) Drängen der landarmen und landlosen plebejischen Schichten auf Teilhabe an der Gemeindehut findet im Grundsatz in den Dorfordnungen seine Bestätigung.” (Ebd., S.165f) Das “Krauten” auf Gemeindeländereien, das “(...) in offenbar nicht unbeträchtlichem Umfang der Futterbeschaffung (diente)”, war teilweise so begrenzt, daß es einer bestimmten Anzahl von Personen “je Haus” vorbehalten blieb. “Die Anzahl der zugelassenen Personen konnte aus nachbarrechtlichen Erwägungen heraus abgestuft sein, wie z.B. in Untergreislau, wo Ackerbau und Viehhaltung betreibende Nachbarn drei, viehhaltende Einwohner zwei und die, welche beides nicht hatten, eine Person über zehn Jahre zum Krauten schicken durften.” (Ebd., S.158f) 66 dehnte Hut macht auch eine ausgedehnte Schäferei möglich; und es sind bisher 600-700 Schafe gehalten worden; doch mehr fremde, von denen eine nicht kleine Summe Hutgeld in die Gemeindekasse fließt. Die Gemeinde hat auch eine schöne Waldung, am Leichelberg, Oppberg, Altmarksberge, das sogenannte Fichtig, und es könnte noch mehr angepflanzt werden (...).” Dieser Eintrag ging der Flurzusammlegung und der Gemeinheitsteilung in Kaltensundheim voraus, deren konkrete Konsequenzen und Regelungen für die Landarmen und Landlosen des Ortes nicht belegt sind. Einigen Aufschluß über die Entwicklungen im Eisenacher Oberland gibt der 1883 von Gau verfaßte Bericht: Zu diesem Zeitpunkt waren vielfach Holzgrundstücke in gemeinsamem Besitz, während es “sogenannte Gemeinheiten” in den Amtsgerichtsbezirken Kaltennordheim und Lengsfeld “fast gar nicht” gab.78 Die Bedürfnisse der “geringen Leute”79 fanden im Rahmen der Flurzusammenlegung folgende Berücksichtigung: “In solchen Ortschaften, in welchen viel kleine Leute ohne, oder mit nur wenig Besitz, außer vielleicht Haus und Garten, ansässig sind, die jedoch durch Mittreiben einer Ziege oder wohl auch einer Kuh unter die gemeinsame Heerde, durch Grasholen von den vielen durch die Zusammenlegung in Wegfall kommenden Rainen und Rändern, Stoppelharken u.s.w. in der Lage waren, etwas Nutzvieh auch wohl über Winter halten zu können, ist vielfach, insbesondere da, wo keine Gemeindehutflächen vorhanden sind, von den sämmtlichen (sic!) bei der Zusammenlegung betheiligten Grundstücksbesitzern, ohne jedoch eine förmliche Verpflichtung hierzu anzuerkennen, so viel Areal abgetreten worden, als nöthig war, um für jeden dieser kleinen Leute eine kleine Landabfindung, gewissermaßen als Entschädigung für das in Wegfall kommende angebliche Recht des Grasens, Mithütens, Aehrenlesens u.s.w. ausweisen zu können. Dieses Areal wird zweckmäßig nicht jenen kleinen Leuten, sondern der politischen Gemeinde in das Eigenthum, jedoch mit der Beschränkung überwiesen, dasselbe solchen unbemittelten Einwohnern des Ortes zur Benutzung zu überlassen.”80 Zu diesen “neuen gemeinschaftlichen Anlagen” trugen die Grundstücksbesitzer bei der Flurzusammenlegung mit jeweils 4-6% ihrer Flächen bei. 81 Zwischen “dem 78 Gau 1883, S.34. Gemeinheiten “sollen jedoch im benachbarten Geisaer Amt des Eisenacher Oberlandes vorkommen und dort die Quelle fortwährender Streitigkeiten in den betreffenden Gemeinden bilden”. (Ebd.) Vgl. allgemein für die Rhön ähnlich Thüngen-Roßbach (1883): “Mit Ausnahme von Gemeindewald sind wohl kaum noch ´Gemeinheiten´ zu verzeichnen, höchstens noch Gemeindeweide, aber auch diese in keiner nennenswerthen Ausdehnung (...)”. (S.174) 79 Gau 1883, S.34 80 Ebd., S.31, 34 81 Vgl. ebd., S.31 67 Fiscus und den Gemeinden” waren zu diesem Zeitpunkt auch die “an und auf den Höhen der Rhönberge gelegenen Hutflächen” geteilt, “welche früher fast ausschließlich dem Großherzogl. Fiscus gehörten, auf welchen jedoch den Gemeinden das Hutrecht zustand (...). Die an das Eigentum der politischen Gemeinde übergegangenen Hut- und Leedenflächen, welche (...) sich (...) selten zum Ackerbau eignen, bilden eine besondere Stütze für die kleinen Bauern und Tagelöhner nur insoweit, als dieselben den viehhaltenden Ortseinwohnern als Ziegen-, Schaf- und Rindviehhuten eingeräumt, bezw. an die Viehhalter verpachtet werden, so daß es auf diese Weise möglich ist, daß kleinere Leute, oft ohne eigenen Grundbesitz, im Stande sind, sich Ziegen, Schafe oder sogar eine Kuh zu halten und auf den Berghuten zu ernähren.”82 Daß den Landarmen und Landlosen noch Nutzungsflächen und damit Möglichkeiten, ihren Lebensunterhalt selbständig zu bestreiten, zur Verfügung blieben, lag sicher auch im Interesse der Gemeinden. Auf mögliche Einschränkungen für die nichtbäuerlichen Dorfbewohner ist damit verwiesen, daß sie die Flächen nicht in jedem Fall nur “eingeräumt” bekamen, sondern sie auch pachten mußten. Dies galt teilweise auch für das zum Ackerbau geeignete Gemeindeland, das “verpachtet oder hier und da den Ortsbürgern zur Benutzung überlassen” wurde. “Im Uebrigen sind die Gemeinden bemüht, soweit es ihre finanziellen Kräfte ihnen gestatten, die ausgedehnten Leeden- und Hutflächen (...) der Holzcultur zu überweisen.”83 Mit dieser Perspektive waren für die Zukunft eher nachteilige Entwicklungen für die Besitzarmen zu erwarten. Gau, der die Ergebnisse der Flurzusammenlegung für die nichtbäuerlichen Gruppen positiv bewertete, stellte ebenfalls “(...) günstige Rückwirkungen auf den kleinen Besitzer” im Eisenacher Oberland fest, die sich in reicheren Ernten, “erhöhtem Fleiß” und “größere(r) Sorgfalt” der Grundstücksbesitzer äußerten.84 Entsprechende Erfolge und auch einige technische Fortschritte änderten allerdings nichts daran, daß er die bäuerlichen Betriebe der Region für weiterhin rückständig hielt.85 Schließ- 82 Ebd., S.34f 83 Ebd., S.35. Zu Aufforstungsmaßnahmen in der Rhön vgl. Hohmann 1992, S.41ff. Vgl. auch Abschnitt 1.4. in diesem Kapitel 84 Gau 1883, S.33f 85 Vgl. auch Thüngen-Roßbach (1883), der “die technischen Fortschritte der bäuerlichen Wirthschaft” für “nicht sehr erheblich” hielt. (S.178) Während Gau (1883, S.51) für die Gebiete, in denen die Flurzusammenlegung nicht erfolgt war, vor allem die ´mentale Rückständigkeit´ der Bauern betonte, führte Thüngen-Roßbach (1883) als Ursache die wirtschaftlichen Probleme an: “(...) da den Bauern die Mittel zu Meliorationen abgehen und sie sich in der Mehrzahl bescheiden müssen, ihre Existenz zu fristen”. (S.178) 68 lich sah Gau die Bauern des Oberlandes insgesamt in einer doch eher problematischen als günstigen Lage. Dies war zum Teil dadurch verursacht, daß bei einerseits ungünstigen Anbaubedingungen und andererseits auch unrentabel bewirtschafteten Flächen “die Erträge der Landwirthschaft an verkäuflichen Producten nicht sehr bedeutend (...)”86 waren. Sie beruhten in der Hauptsache auf der Viehzucht und Viehmast sowie auf dem Verkauf von Jungvieh und Viehprodukten.87 In der Landwirtschaft der Rhön nahm die Viehzucht eine “hervorragende Stelle” ein, deren Ausdehnung sich auch deshalb bot, weil sich der ungünstige Boden “wegen des Kalkgehalts fast überall noch zum Anbau von Futterpflanzen und Kleearten” eignete.88 Hingegen waren die Erträge aus dem Getreideanbau eher gering. Nur von den größeren Bauern wurde etwas Weizen, Roggen und Gerste verkauft. Der Hafer wurde verfüttert, und “ebenso werden die erbauten Kartoffeln, Kohl, Rüben als Hauptnahrungsmittel der Bewohner in einem größeren Umfang nicht zum Verkauf gebracht.”89 Seit den 1870er Jahren trugen auch “(...) die in Folge der Goldwährung eingetretene Geldvertheuerung”, die einen “chronischen Geldmangel” verursachte, sowie “die ausländische Concurrenz in allen landwirthschaftlichen Erzeugnissen” zur ungünstigen Lage der Bauern bei. Die Entwicklung schlug sich unter anderem in sinkenden Preisen für Grundstücke und für landwirtschaftliche Erzeugnisse nieder, “von denen nur die Viehpreise und zwar nur die für Rindvieh zur Zeit eine Ausnahme machen.”90 Zur Gefährdung der landwirtschaftlichen Verhältnisse im Eisenacher 86 Ebd., S.50f 87 Vgl. ebd. 88 Ebd., S.24. Vgl. auch Gau 1989 [1889], S.78. In der Tierhaltung und Zucht überwog in der Region im 19. Jahrhundert vor allem Rindvieh, mit dem mangels Pferden hauptsächlich auch die Bespannung erfolgte. (Vgl. Gau 1883, S.52, Thüngen-Roßbach 1883, S.178) In Kaltensundheim gab es 1858 z.B. 13 Pferde, aber 357 Stück Rindvieh. (Vgl. Ortschronik 1858, o.S.) Möller (1986, S.72) verweist allerdings darauf, daß “um Kaltensundheim” zunächst Pferdezucht vorherrschend gewesen sei. 89 Gau 1883, S.52. Gau schlug vor, den unrentablen Anbau von Getreide, das die ausländische Konkurrenz billiger produziere, einzuschränken. In der Erzeugung von “Zucker und Spiritus” sah er aufgrund der guten Erträge im Kartoffel- und Rübenanbau hingegen eine Chance zur Verbesserung der wirtschaftlichen Verhältnisse, beklagte aber zugleich den gänzlichen Mangel an Spiritus- und Zuckerfabriken im Oberland. (Vgl. ebd., S.52) Zum Werdegang der zu diesem Zeitpunkt in Angriff genommenen Zuckerfabrik in Dermbach stellte Frankenstein 1892 fest: “die Fabrik ist nach kurzem Bestande (...) wieder eingegangen.” (S.84) - Den Vorschlägen Gaus entsprachen die allgemeinen Entwicklungen in Thüringen, wo nach 1860 die Gesamtanbaufläche bei abnehmender Brachfläche stetig zugenommen hatte. Dabei war der Flächenanteil für den Getreideanbau gesunken, während der Anbau von Kartoffeln, Zuckerrüben und Futterpflanzen gestiegen war. Vgl. Rösler 1996, o.S., Hess 1991, S.124ff 90 Thüngen-Roßbach 1883, S.174. “Die Grundstücks- und Pachtpreise waren in den sechziger und Anfangs der siebziger Jahre in Folge reichlich vorhandener Geldumlaufsmittel (Entdeckung der Goldfelder Australiens und Californiens in den sechziger und Einzug der Milliarden der Kriegsentschädigung zu Anfang der siebziger Jahre) wesentlich gestiegen, um seit etwa 1873 rapide zu 69 Oberland trug dann auch die , “insbesondere mit Rücksicht auf den geringen Werth der Grundstücke (...) bedeutende (...)” Verschuldung der Bauern bei. 91 “An der allgemeinen Verschuldung wirkt ferner auch mit, daß bei Grundstücksverkäufen oftmals ganz unbemittelte Leute und Kleingrundbesitzer Grundstücke gegen Zahlung eines Kaufpreises auf mehrjährige Fristen erstehen, welche Zahlungsfristen sie vielfach nicht einzuhalten im Stande sind und alsdann dem als Gläubiger auftretenden, im Besitz der Fristengelder befindlichen ´Geldmann´ Alles (sic!) verschreiben müssen, um das Grundstück wenigstens einige Jahre behalten zu können; auch durch leichtsinnig abgeschlossene Viehhändel übernehmen die Bauern oftmals Verpflichtungen, die ihre Kräfte überschreiten und zur Verschuldung ihres Besitzes führen müssen.”92 Kritisch ist hier einzuwenden, daß die Kleinbauern, und das gilt noch stärker für die Besitzarmen, auf Anleihen angewiesen waren, die sie von der Kirche, dem Kreditgeber für größere Bauern, kaum erwarten konnten.93 Bäuerliche Darlehnskassen waren einerseits noch kaum vorhanden, ihre vergleichsweise günstigen Kredite wurden von den Bauern andererseits auch “aus falscher Scham” häufig nicht beansprucht.94 Die thüringer Kleinbauern blieben auf eine zusätzliche gewerbliche Tätigkeit angewiesen.95 Ihre Lage hing entsprechend auch von den Entwicklungen der Hausindufallen.” (Ebd., S.177) 91 Gau 1883, S.44. “Der Preis und der Werth des Grundbesitzes” waren zu diesem Zeitpunkt “in einer Weise gesunken, daß die in letzterer Zeit bei Zwangsversteigerungen und Pfandbestellungen erzielten Preise und ermittelten Werthe oft nicht der Hälfte desjenigen Werthes gleichkommen, welcher im Jahre 1877 erzielt, bezw. ermittelt wurde.” (Ebd., S.39) Ursache der Verschuldung war “(...) insbesondere die Eintragung von Restkaufgeldern oder Erbportionen (...) da, bei der im Allgemeinen bestehenden Armuth des Eisenacher Oberlandes in den Fällen von Erbtheilungen und Gutsübernahmen unter Geschwistern, die Kaufsumme selten baar (sic!) bezahlt wird, mithin auch in der Regel mit dem Besitzwechsel die Verschuldung sich steigert, während die Aufnahme von Schulden zur Ausführung von productiven Meliorationen, Bauten u. fast gar nicht vorkommt.” (Ebd., S.44) Vgl. auch Thüngen-Roßbach 1883, S.174f 92 Gau 1883, S.44. Vgl. auch Thüngen-Roßbach 1883, S.175f, ausführlich zum “Wucher auf dem Land” vgl. Franz 1989 [1887] 93 Zur Kritik am “Wucher” vgl. Mooser 1984 94 Vgl. Gau 1833, S.41ff (Sparkassen und Verschuldung der Bevölkerung) und S.44ff (Wucher und Kreditwesen). Bäuerliche Darlehnskassen nach dem Raiffeisen´schen System (beschränkte und lokal abgegrenzte Ausdehnung) waren im Amtsgerichtsbezirk Kaltensundheim wie im Eisenacher Oberland insgesamt “noch fast gar nicht eingeführt.” Ausnahmen bildeten Frankenheim und Birx, in denen sich das System auch bereits bewährte. (Ebd., S.48f) Vgl. auch Thüngen-Roßbach 1883, S.175. Bis 1888 waren entsprechende Darlehnskassen auch in einigen anderen Orten der Region gegründet. (Vgl. Gau 1989 [1889], S.114) Zu den Einrichtungen zur “Hebung der wirtschaftlichen Verhältnisse” gehörten dann auch zunehmend Viehversicherungsvereine. (Vgl. ebd., gegenteilig Frankenstein 1892, S.92). In Kaltensundheim wurde ein Viehversicherungsverein im Jahr 1898 gegründet. Vgl. Marschall/Marschall o.J., S.19 95 Vgl. Hess 1991, S.343. Gau (1883) nennt im Zusammenhang mit den Bauern folgende Nebengewerbe: “Die Fabrikation von Korkstopen, die Gurt- und Plüschweberei, Peitschenflechten, die Schuhmacherei, Bürstenfabrikation und Holzschnitzerei (Pfeifenköpfe) (...)”. (S.50, vgl. auch Gau 70 strie und anderer Erwerbszweige in ihrer Region ab. Zu Beginn der 1880er Jahre verzeichnete Gau den “Mangel einer besonderen Hausindustrie” und einen Rückgang in einzelnen Industriezweigen, u.a. bei den Korkschneidern und der Herstellung von Pfeifenköpfen. 96 Andererseits aber gaben “(...) Holz- und Waldarbeit, Holzfuhren und die Ausbeutung der in so reichem Maße vorhandenen Basaltsteinlager einen auskömmlichen Verdienst, insbesondere für die Zeit, in welcher die landwirthschaftlichen Arbeiten ruhen”.97 Positiv wirkte sich hier auch der Ausbau des Schienenverkehrs in der Region aus. Seit 1880 war Kaltennordheim vom nördlichen Bad Salzungen aus durch eine “schmalspurige Sekundärbahn” zu erreichen.98 Dies erleichtete z.B. den Absatz von Basaltsteinen in entferntere Gegenden.99 Gleichwohl traf Bauern und ´Hausindustrielle´ auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch der “(...) Fluch der Rhön, daß sich alles hier nur nesterweis findet, Industrie und Ackerbau so gut wie das Eisenerz”.100 Wenn Gau die Lage der Bauern in der Region zu Beginn der 1880er Jahre insgesamt noch für “ausreichend” hielt, dann geschah dies unter den Voraussetzungen nebenerwerblicher Beschäftigung und der “vorhandenen außerordentlichen Genügsamkeit”.101 Die wirtschaftlichen Verhältnisse der kleinen Bauern beurteilte er “im allgemeinen” als “keine günstigen”.102 “Die geringen Ernten der letzten Jahre, die gesteigerten Staats- und Gemeindesteuern, welche in vielen Gemeinden durch Schul- und Wegebauten u. eine sehr bedeutende Höhe erreicht haben, der Rückgang des Reinertrags des landwirthschaftlichen Gewerbes überhaupt, hat eine Ansammlung von Capital in den Händen bäuerlicher Besitzer unmöglich gemacht, ja es muß sogar angenommen werden, daß sich vielfach die kleinen Bauern von 15 bis 30 Acker in einer schlechteren finanziellen Lage befinden, als ein gut bezahlter 1989 [1898]) 96 Vgl. ebd. Zur konkreten Entwicklung der Gewerbe im 19. Jahrhundert vgl. die nachfolgenden Abschnitte unter 1.3. 97 Gau 1883, S.51. Thüngen-Roßbach (1883) hingegen, der den Verdienst aus Nebengewerben “in normalen Zeiten” ebenfalls für “auskömmlich” hielt, urteilte zu diesem Zeitpunkt anders: “In Folge der allgemeinen Krise und Nothlage, insonderheit des Geldmangels, ist er zur Zeit sehr beschränkt und nicht ausreichend”. (S.178) 98 Zum Ausbau des Eisenbahnnetzes in Thüringen vgl. vor allem Bergmann 1997, S.36ff. Vgl. auch Hess 1991, S.114ff und S.333ff 99 Gau verwies hier auf das bei Zella gelegene “Rhön-Basalt-Geschäft”, das im Sommer 50-70 und im Winter 100 Personen beschäftigte. Vgl. Gau 1883, S.51 100 Riehl 1854, S.204. Vgl. hier Kapitel III. 101 Gau 1883, S.58. Thüngen-Roßbach (1883) hingegen sah die Verschuldung “(...) heutigen Tages geradezu durch Anlehen zur Befriedigung der Lebsucht, zu der die gewöhnlichen Mittel nicht mehr ausreichen (...)” mit veranlaßt. (S.175) 102 Gau 1883, S.41 71 Tagelöhner oder Fabrikarbeiter.”103 Im drohenden Abstieg der Bauern und in sozialen Umschichtungen sah der Gutsbesitzer Thüngen-Roßbach eine Konsequenz liberaler Wirtschaftspolitik: “(...) der Grundbesitz ist mehr und mehr zur ´Waare´ degradiert, der in Folge freiwilligen oder Zwangsverkaufs in andere Hände übergeht, womit das Ideal der Manchestermänner, die ´Mobilisirung´ (sic!) des Grundbesitzes erreicht ist. Damit wird aber der Bauernstand mobilisirt (sic!), d.h. er wird Tagelöhner oder ländliches Proletariat, oder kehrt dem Vaterlande (...) den Rücken (...).”104 1.3. Gewerbe als unverzichtbare Haupt- und Nebenerwerbsquelle: Entwicklungsphasen und Umstellungen bis Ende des 19. Jahrhunderts Parallel zur allgemeinen Bevölkerungsentwicklung auf dem Land, der rasch steigenden Zahl von Landarmen und Landlosen, wuchs seit dem 18. Jahrhundert auch das Landhandwerk. Um ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können, waren die Dorfhandwerker häufig vielseitig orientiert, teilweise gleichzeitig in mehreren Gewerben tätig. Auch der landwirtschaftliche Nebenerwerb war, wie in Kaltensundheim, für viele von ihnen bedeutsam. “Wenn auch nicht ausschließlich”, rekrutierten sich die Landhandwerker in Deutschland überwiegend aus der Landarmut und vermehrten auf jeden Fall “den nichtbäuerlichen Bevölkerungsanteil in den Dörfern”.105 Sigrid und Wolfgang Jacobeit zufolge machten die “landlosen Schichten (...) um 1800 bereits 25 Prozent der gesamten ländlichen Bevölkerung Deutschlands aus (...)”.106 Zu diesem Zeitpunkt “(...) konnte (...) auch das flache Land die Nachfrage nach den meisten gewerblichen Gütern selbst befriedigen”.107 Für den Marktflecken Kaltensundheim galt dies bereits länger. Seine ortsansässigen Handwerker deckten bereits im 17. Jahrhundert den alltäglichen Bedarf vielfältig ab.108 Dabei war die Zahl 103 Ebd., S.44. Vgl. auch Thüngen-Roßbach 1883, S.173 104 Ebd., S.177 105 Jacobeit/Jacobeit 1988, S.56. Vgl. auch Lenger 1988, S.20, Kaufhold 1978, S.53, Schultz 1984, S.28, 60f, Reininghaus 1990, S.70. Für Thüringen vgl. auch Mühlfriedel 1994, o.S. 106 Jacobeit/Jacobeit 1988, S.53 107 Wehler 1987, S.91. Vgl. auch Lenger 1988, S.18ff. Zum Verhältnis von Stadt- und Landhandwerk auch Kaufhold 1978. S.50ff, Schultz 1984, S.39ff 108 1667 waren in Kaltensundheim folgende Berufe vertreten: 3 Gerber (zuerst 1628 genannt), 1 Harfen- und Geigenbauer, 3 Müller, 1 Wirt, 3 Metzger, 2 Branntweinbrenner, 2 Zimmerleute, 2 Schmiede, 1 Schreiner (zuerst in den 1620er Jahren genannt), 1 Flickschuster, 3 Schäfer (Kuhhirt, Schweinehirt, Gänsehirt), 7 Leineweber, 1 Handschuhmacher (zuerst 1635), 2 Bäcker (seit 1629 als eigenständiger Beruf - “gemeiner Bäck”), 1 Büttner und Bierbrauer, 2 Schneider, 2 Wagner, 2 Schuhmacher (zuerst in den 1620er Jahren genannt), 1 Papiermüller, 1 “gemeiner Bader”, 1 Glaser 72 der Haushalte, in denen im Jahr 1667 ein Handwerk betrieben wurde, zusammen nur etwa halb so hoch wie die der ´reinen´ Ackerbauern.109 Laut Seelenregister bestritten 23 der insgesamt 136 Haushalte ihren Lebensunterhalt allein oder zumindest in der Hauptsache mit einem Handwerk. Weitere elf Haushalte ernährten sich vom Handwerk in Verbindung mit dem Ackerbau. Bis 1800 stieg der Anteil der Gesamtbevölkerung, die vom Handwerk lebte, in Deutschland auf etwa 17%.110 “Die genauere berufliche Aufgliederung ergibt für die Zeit um 1800, daß in allen Gebieten übereinstimmend rd. 2/3 der Handwerker für den ´dreifachen Grundbedarf´ an Kleidung, Nahrung und Wohnen arbeiteten. Überall war ihre Zahl im Bekleidungs-, Textil- und Lederhandwerk mit mehr als 50% der Gesamtzahl am größten. In diesem Gewerbebereich sollen rd. 340000 Menschen hauptberuflich beschäftigt gewesen sein (d.h. 1,5% der Bevölkerung, 3,3% aller Erwerbstätigen), von ihnen wiederum 315000 als Weber.”111 Sie waren mehrheitlich Leineweber.112 (zuerst 1624). Bereits 1634 war im Kirchenbuch ein Maurer genannt. - 1667 waren außerdem angegeben 1 Landknecht, 1 Dorfknecht, 4 Tagelöhner, 4 Handarbeiter und 5 Arme. (Vgl. auch Marschall/Marschall o.J., S.7ff) 109 1667 gab es 62 Haushalte, die allein von der Landwirtschaft lebten. (Vgl. vorangegangenen Abschnitt 1.2.) 110 Vgl. Wehler 1987, S.90. Nach den Schätzungen gilt als sicher, daß das Handwerk um 1800 mit mehr als einer Million Beschäftigter in Deutschland noch an erster Stelle rangierte, vor dem Verlagswesen (eine Million) und den Manufakturen (100.000). Ungesicherter scheint die konkrete Zahl der Handwerker, die von Kaufhold (1978) auf ungefähr 1,23 Millionen geschätzt wurde (ebd., S.37), während sich ihre Summe auf anderer Grundlage auf etwa 1,7 Millionen errechnen läßt. Vgl. Pierenkemper 1994, S.10; Kaufhold diskutiert ebenfalls die Probleme bei der Analyse des Gesamtumfangs des deutschen Handwerks. 111 Wehler 1987, S.91. Vgl. auch Nipperdey 1994, S.186. Einen Überblick über ´Umfang und Strukturen des Gewerbes´ um 1800 gibt Reininghaus 1990, S.6ff 112 “Auf die Herstellung von Leinen entfielen 55%, auf Wolle 20%, auf Baumwolle 10% dieser Arbeitskräfte.” (Wehler 1987, S.91) - Zur frühen Verbreitung der von jeher bedeutsamen Leineweberei führt Stromer (1978) aus: “Leinen wurde im ganzen germanischen Siedlungsraum nahezu überall als bäuerliches und ackerbürgerlich-kleinstädtisches Haus- und Nebengewerbe versponnen und gewoben. Flachs, auch Hanf, wurde fast im gesamten nordalpinen Europa als landwirtschaftliche Nebenkultur angebaut, nicht nur der Fasern wegen als Gewerbepflanze, sondern auch zur Gewinnung von Leinöl und Ölkuchen als fett- und eiweißreiche Nahrung. Nur vier Leinen-Reviere hoben sich auf der Landkarte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit deutlich ab und konnten bis in die Gegenwart eine überdurchschnittliche Bedeutung im Textilsektor behaupten: Westfalen mit den Schwerpunkten Münster und Bielefeld, die Bodenseelandschaft mit Konstanz und St. Gallen, das Vogtland mit Chemnitz, Plauen und Hof und die Lausitz-Niederschlesien mit Bautzen und Zittau (...).” (Ebd., S.8) Die Leinetücher des Bodenseeraums wurden schon um 1200 “(...) auf den damaligen Weltmärkten ein Begriff (...).” (Ebd.) Vgl. zur Verbreitung des Textilgewerbes entsprechend auch von Hippel 1995, S.26. Einen Überblick über “Europäische Gewerbelandschaften” geben schließlich Ebeling/Mager 1997, S.29ff 73 Dem Handwerk, das in der Folgezeit noch zunahm113, stand Anfang des 19. Jahrhunderts das expandierende Verlagswesen kaum nach. Um 1800 arbeitete bereits fast die Hälfte der im Gewerbe Tätigen in Deutschland im kapitalistischen Verlagssystem.114 Seit dem 13. Jahrhundert für einzelne Städte und dem 14. Jahrhundert für das Land belegt115, hatte sich diese Wirtschaftsweise schon im 16. und 17. Jahrhundert stark ausgeweitet und größere gewerbliche Ansiedlungen in ländlichen Regionen befördert, die für überregionale und internationale Märkte produzierten.116 Insbesondere im Bereich der Weberei, deren Beschäftigenzahl bis 1846/47 auf 520.000 im Hauptberuf und 50.000 im Nebenberuf stieg117, weitete sich das Verlagssystem in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts aus. Obwohl zunehmend Baumwolle verarbeitet wurde118, konnte zunächst auch die Herstellung von Leinen, die “(...) um 1800 den wichtigsten gewerblichen Produktionszweig in Deutschland überhaupt (bildete) (...)”, gesteigert werden.119 Dabei sanken allerdings die Löhne der Leineweber. Die Leinenindustrie blieb hand- und ländliches Hausgewerbe, sie wurde kaum mechanisiert.120 Die Mechanisierung im Textilbereich erfolgte zunächst in der Spinnerei, zuerst in der Baumwollspinnerei, wo “seit der Mitte der 1780er 113 Vgl. Wehler 1987, S.91ff, Pierenkemper 1994, S.9ff 114 Vgl. ebd., S.15 115 Vgl. Reinighaus 1990, S.5 116 Reininghaus datiert “(...) die Herausbildung von Landschaften mit einer hohen gewerblichen Dichte” schon auf “das 15./16. Jahrhundert”. (Ebd., S.8) Vor allem in der Weberei kam es zu einer Ausweitung verlagsmäßiger Produktion auf dem Land. “Das städtisch-zünftige Weberhandwerk war mit seinen begrenzten Arbeitskräften und (...) einer zünftigen Beschränkung der Zahl der Webstühle je Meister der schon im 16. und 17. Jahrhundert steigenden Nachfrage immer weniger nachgekommen. Städtische Webermeister begannen als kleine Verleger und Zwischenhändler in Erscheinung zu treten.” (Sieder 1987, S.74.) Auf dem Land gewann der Verleger die Kleinbauern und vor allem die auf einen Nebenerwerb angewiesenen landarmen und landlosen Bewohner als Arbeitskräfte. (Vgl. Wehler 1987, S.95) - Die in Heimarbeit und unter Einbeziehung der Frauen und Kinder stattfindende Produktion wurde im 19. Jahrhundert unter anderem mit dem Begriff der Hausindustrie (z.B. vom Verein für Sozialpolitik) gefaßt. In jüngerer Zeit, seit den 1970er Jahren, steht für die Diskussion dieser vor dem industriellen Kapitalismus ausgeprägten Betriebsformen der Begriff der Protoindustrie. Zu ihr trug zunächst vor allem die, dann auch kritisch reflektierte, Arbeit von Kriedte/ Medick /Schlumbohm (1978) bei. Einen Überblick über die Entwicklung der Diskussion nach 1870, über Verbindungen und Unterschiede in der Auseinandersetzung des 19. und des 20. Jahrhunderts sowie über die Kritik an der frühen Arbeit von Kriedte/Medick/Schlumbohm gibt unter anderem Reininghaus 1990, S.75ff. Zum aktuellen Stand der Diskussion vgl. auch Ebeling/Mager 1997, S.9ff 117 Vgl. Nipperdey 1994, S.186 118 Kiesewetter (1988) belegt die “(...) rapide Entwicklung der Baumwollindustrie in Deutschland nach der Zollvereinsgründung” an der Baumwolleinfuhr. (Vgl. ebd., S.484ff) 119 Pierenkemper 1994, S.16 120 Vgl. ebd., vgl. auch Nipperdey 1994, S.186. Zur Bedeutung der Leineweberei auf dem Land vgl. auch Schultz 1984, S.38 74 Jahre mechanische Spinnereibetriebe entstanden”.121 Langsamer verlief der Prozeß in der Wollspinnerei. Hier war 1850 etwa die Hälfte der Produktion mechanisiert. In der Woll-Weberei herrschte bis dahin noch der Hand- und Hausbetrieb vor. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nahmen Produktion und Beschäftigtenzahl in der heimgewerblichen Weberei dann insgesamt erheblich ab. Dabei verschwand, bei zunehmender Mechanisierung in der Textilproduktion, die Hausindustrie nicht. Das Verlagssystem hielt sich auch in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts.122 In Thüringen war in der Zeit um 1830 “am weitesten (...) das Textilgewerbe verbreitet, mit Woll-, Baumwoll- und Leinen-Spinnereien und Webereien. Die Tuchmacherei herrschte vor, doch stand ihr die Produktion von Woll- und Baumwollwaren und -strümpfen kaum nach.”123 Bereits 1809 wurde in Eisenach “eine mit Maschinen arbeitende Kammgarnspinnerei” gegründet, die, so Huschke, “im Laufe der Jahre zum bedeutendsten Textilunternehmen der Wartburgstadt aufstieg und die Entwicklung der alten Residenz zur Industriestadt einleitete”.124 In Gera wurde dann 1811 eine Baumwollspinnerei in Betrieb genommen. Der Osten zeichnete sich bereits in den 1820er Jahren als künftiger Schwerpunkt der Textilindustrie in Thüringen ab.125 Dafür erforderliche Strukturen waren dort langfristig gewachsen.126 Im 121 Wehler 1987, S.91f. In diesem Bereich “(wuchs) die Zahl der Spindeln (...) - über alle Krisen schnell, vor allem in den 30er Jahren (des 19. Jahrhunderts, A. L.-V.) wurde der Betrieb vom Handspinnen auf Wasser-, und dann vor allem Dampfantrieb umgestellt.” (Nipperdey 1994, S.186) 122 Vgl. Pierenkemper 1994, S.16ff 123 “Zum Handwerk, Gewerbe, Handel und Verkehr rechneten um 1830 nach der Berufszugehörigkeit insgesamt etwa 40%.” Facius 1978, S.15 124 Huschke 1962, S.9f 125 In Greiz und Glücksbrunn bei Schweina wurden Textilfabriken 1824, in Pößneck 1825, in Gera 1832, in Greiz 1836, in Zeulenroda 1837 gegründet. (Vgl. Huschke 1962, S.9, Facius 1978, S.16; vgl. zu den Standorten Pößneck und Glücksbrunn auch Brückner 1851, S.422ff) Ebenfalls bedeutsam war die Textilherstellung, vor allem auch die Baumwollindustrie, in den weiter östlich angrenzenden Gebieten Sachsens. “Sehr früh lagen die Hauptgebiete der sächsischen Baumwollgewerbe in Chemnitz und Umgegend und im Vogtland und um die Stadt Plauen (...).” (Kiesewetter 1988, S.441) Neben der Baumwollweberei (vgl. ebd., S.472ff) war auch die Baumwollspinnerei, die in Chemnitz bereits 1799 aufgenommen wurde, bedeutsam. Von daher, so Kiesewetter, “(...) (teilt) sich Sachsen mit Ulm und Augsburg die Ehre (...), die Wiege der deutschen Baumwollspinnerei beheimatet zu haben.” (Ebd., S.441) Die “mittelsächsisch-vogtländisch-ostthüringische Wollindustrie”, die Zunkel als ein Gebiet untersucht, hatte 1846 “(...) zusammen mit den übrigen thüringischen Staaten die führende Stellung in der im Zollverein (gegenüber Streichgarnprodukten, A. L.-V.) noch weit geringer entwickelten Kammgarnspinnerei und -weberei. (...)” (Zunkel 1986, S.266) Adelmann verweist allerdings darauf, daß Thüringen allein letztlich ohne “(...) nennenswerte Spinnerei (...)” blieb. (Adelmann 1986, S.306) 126 Vgl. dazu auch die Hinweise bei Kaufhold 1986, S.135. “In Ostthüringen ist die Wollweberei seit alten Zeiten heimisch und durch niederländische Auswanderer (besonders durch Nicolaus de Smit, der 1595 in Gera einwanderte und die dortige Tuchmacherei begründete) früh stark gefördert worden.” (Greiner 1937, S.34, vgl. auch Kaufhold 1986, S.135) Vgl. ähnlich auch Wähler, demzufolge “(...) sich seit 1572 Niederländer (...)” in Gera ansiedelten und dort “(...) die Geraer Wollmanufaktur zur Blüte brachten”. (Wähler 1940, S.92) 75 westlich gelegenen Eisenacher Oberland hingegen gab es in der, ebenfalls “seit alters her”127 betriebenen, Weberei keine Mechanisierung. Hier war zu Beginn des 19. Jahrhunderts “(...) und bis um die Hälfte desselben (...) insbesondere die Leinwand-, Zeug-, Drillich- und Barchentweberei sowie die Anfertigung von Bettzeug, baumwollenen Waren und billigen Hosenstoffen üblich”.128 In der Folgezeit ging die “Handweberei in Baumwolle und Leinen sehr wesentlich” zurück.129 Dennoch rangierte die Weberei in einigen Gemeinden, darunter in Kaltensundheim, auch gegen Ende der 1880er Jahre noch weit vorn. Ausschlaggebend dafür war die in den 1850er Jahren neu eingeführte Plüschweberei, die in den folgenden Jahrzehnten noch weitestgehend außerhalb der Konkurrenz mechanisierter Betriebe produzierte. In Kaltensundheim lebten mit 631 Personen im Jahr 1858 gut zwei Drittel der 934 Einwohner des Ortes vom Gewerbe. Unter ihnen waren 132 Meister oder Selbständige, die insgesamt 24 Gehilfen bzw. Lehrlinge beschäftigten.130 Für die meisten von ihnen stand die Weberei im Mittelpunkt ihrer Erwerbstätigkeit. Wenngleich die Zahlen keinen Aufschluß über die Verteilung nach Berufen geben, konnte das Dorf seinen Bewohnern doch zu diesem Zeitpunkt außer der Weberei keine Ansiedlungen mit einem nennenswerten Beschäftigungsumfang bieten. Schon zuvor schwankten mit den Entwicklungen in der Textilproduktion und der Märkte die Lebensverhältnisse zahlreicher Kaltensundheimer. Dies betraf auch die Herkunftsfamilie von Richard Schmidt. Für die Gemeinde lassen sich grob drei Phasen unterscheiden, in denen sich unterschiedliche Spezialisierungen ihrer Bedeutung nach ablösten: zunächst wurde die Leineweberei betrieben, deren Umfang in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts zunahm. Seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts trat an die Stelle der Leineweberei zunehmend die Barchentweberei. Barchent bezeichnet ein “Mischgewebe aus Leinen und Baumwolle”131, genauer gesagt ein Produkt, daß “aus Leinen in der Kette und Baumwolle als Schußmaterial”132 gebildet wird. In Kaltensundheim wurde die Barchentweberei in der zweiten 127 Gau 1989 [1889], S.79 128 Ebd. 129 Ebd. 130 Hinzu kamen 1 Dienstbote sowie insgesamt 474 dazugehörige Familienmitglieder. (Vgl. Ortschronik 1858, o.S.) - Neben den bereits in Abschnitt 1.2. in diesem Kapitel genannten 151 von der Landwirtschaft Lebenden und den 100 Tagelöhnern waren 14 Personen ohne bestimmten Nahrungszweig und die übrigen 22 Einwohner Kaltensundheims dem Handel zuzurechnen: 5 Selbständige mit 2 Dienstboten und insgesamt 15 dazugehörige Familienmitglieder. (Vgl. Ortschronik 1858, o.S.) 131 Pies 1997, S.179 132 Knopf 1997 76 Hälfte des 19. Jahrhunderts durch die Plüschweberei ´ersetzt´. Insgesamt galt dann für “(...) die große Masse der Weber (...)” im Eisenacher Oberland, daß sie “(...) die Plüschweberei gegen Lohn (...)” betrieb. 133 1.3.1. Die Leineweberei Anders als in der kaltensundheimer Chronik, die den Beginn der erwerbsmäßig betriebenen Leineweberei im Ort auf das Jahr 1625 datiert,134 angegeben, wurde im Sterbebuch der Gemeinde bereits eher, im Jahr 1605, ein Leineweber genannt. 1667 ernährten sich sieben Familien im Dorf, teilweise in Verbindung mit Ackerbau, von der Leinenherstellung. Über die Entwicklungen der Folgezeit geben die hier verfügbaren Quellen keinen Aufschluß. Das gilt sowohl für die Leine- als zunächst auch für die Barchentweberei. Allerdings läßt sich mittels der Kirchenbücher ein Eindruck von der Bedeutung der Weberei für Kaltensundheim gewinnen. Die Zahlen der im Heiratsregister notierten Eheschließungen, bei denen für den Bräutigam als Erwerb die Weberei angegeben ist, sind zwar nur Notbehelf und begrenzt aussagefähig. Sie sagen unter anderem nichts über die exakte Zahl der Weber im Dorf zu einem bestimmten Zeitpunkt.135 Immerhin aber zeigen sie Entwicklungstendenzen, nach denen für die Leineweberei zu vermuten ist, daß sie nach 1667 einerseits umfangreicher wurde136, andererseits aber doch, auch im Verhältnis zur Barchentweberei und schon vor deren Aufkommen, nur begrenzt blieb: Zwischen 1666 und 1747 wurden in Kaltensundheim insgesamt 470 Ehen geschlossen.137 Die Zahl der unter den Ehemännern angegebenen Weber betrug insgesamt 55, die mehrheitlich Leineweber waren. Eine wachsende Bedeutung der Leineweberei in Kaltensundheim liesse sich vielleicht seit dem Ende des 17. Jahrhunderts annehmen. Nach 1695 heirateten hier mehr Leineweber als zuvor. Obwohl 133 Gau 1989 [1889], S.81 134 Vgl. Marschall/Marschall o.J., S.7 135 Neben Ab- und Zuwanderern gab es beispielsweise auch Weber, die zweimal in Kaltensundheim heirateten. Daß sie hier dann auch zweimal gezählt wurden, trägt zu Ungenauigkeiten ebenfalls bei. 136 Reininghaus zufolge übernahm “(...) in den meisten Regionen (...)” nach dem 30jährigen Krieg die Leinenweberei auf dem Land “(...) die führende Rolle (...)” in der Produktion. Zuvor dominierte das Gewerbe in der Stadt, wo seit dem späten Mittelalter “(...) Zünfte minderen Ansehens entstanden (...)”, die “selbst in kleineren Orten” gebildet wurden. (Reininghaus 1990, S.27) 137 Vgl. Anhang 1 77 auch neue Namen hinzukamen, blieb die Zahl der Familien, in denen der Beruf demnach von den Nachkommen fortgesetzt wurde, überschaubar. Wieviele es tatsächlich waren, ist ungewiß. Im Kirchenbuch ist nur bei 224 der genannten 470 Eheschließungen der Erwerb angegeben, d.h. in weniger als der Hälfte aller Fälle. Demnach kann die Zahl der Leineweber durchaus auch höher gewesen sein. Daß sie vermutlich nicht erheblich größer war, zeigen die späteren Einträge im Heiratsregister138, die nach 1747 zunehmend regelmäßig Angaben zum Beruf des Bräutigams sowie auch zu den in den Herkunftsfamilien der Eheleute ausgeübten Berufe einschließen.139 Auf dieser Grundlage ist zunächst offensichtlich, daß sich die Zahl der Leineweber seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Kaltensundheim rückläufig entwickelte. Zwischen 1748 und 1834 sind noch 13 Leineweber vermerkt, die hier eine Ehe schlossen. Zu beobachten sind während dieser Zeit, vor allem bis Ende des 18. Jahrhunderts, Umstellungsstrategien im Generationenwechsel: 18 Barchentweber, die heirateten, hatten einen Leineweber zum Vater.140 Die weitere Durchsicht der Kirchenbücher ergibt, daß, von einer einzigen Ausnahme abgesehen141, bis in die 1830er Jahre kein Bräutigam im Heiratsregister angegeben wurde, der Sohn eines Leinewebers war und selbst einen anderen Beruf als sein Vater oder die Barchentweberei ausübte. Das läßt den Rückschluß zu, daß die Leineweberei auch vor dem Aufkommen der Barchentweberei nicht stark vertreten war, es sei denn, es hätte im Laufe des 18. Jahrhundert in größerem Umfang Abwanderungen von Leinewebern gegeben. Zwar ist mit entsprechender Mobilität zu rechnen. In ihr ist aber kaum die ausschlaggebende Ursache für die schließlich geringe Zahl der kaltensundheimer Leineweber zu vermuten. Die Betriebsform, in der Leinwand im Dorf hergestellt wurde, ist nicht belegt. Zwar wurde die Produktion im Textilbereich “(...) schon im späten 18. Jahrhundert ganz 138 Vgl. Anhang 2 139 Mit diesem Kriterium zu begründen ist, daß die Aufstellung in Anhang 2 im Jahr 1748 beginnt. Sie endet 1834, weil anschließend die Spezialisierungen der Weber im Kirchenbuch sehr häufig nicht mehr genannt sind, so daß Leine-, Barchent- und später auch Plüschweber nicht unterschieden werden können. Da Anhang 2 vor allem darauf zielt, einen Eindruck von der Bedeutung zu schaffen, die Leine- und Barchentweberei im Verhältnis zueinander in Kaltensundheim hatten, ist auch nicht notwendig, spätere Zeiträume zu erfassen, von denen auf anderer Grundlage bekannt ist, daß dann vor allem die Plüschweberei bedeutsam war, während Barchent- und Leineweberei eine untergeordnete Rolle spielten. 140 In drei Fällen war der Vater als Leine- und Barchentweber angegeben, zwei Väter wurden unspezifisch nur als Weber verzeichnet. Zur sozialen Herkunft der Barchentweber vgl. Anhang 3. 141 Ende des 17. Jahrhunderts erlernte ein Leinewebersohn den Schmiedeberuf. 1825 wurde ein Webersohn dann Schuhmacher, wobei die Spezialisierung des Vaters nicht angegeben ist. 78 überwiegend als verlegtes Heimgewerbe betrieben (...)”.142 Kaufhold verweist aber ebenfalls darauf, daß Berufe wie der des Leinewebers “(...) um 1800 vielerorts noch handwerklich betrieben wurden”.143 Erst für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts, von der aus nicht auf die ältere Vergangenheit geschlossen werden kann, heißt es in einer Untersuchung des Vereins für Sozialpolitik im Eisenacher Oberland144: “Was die innere Organisation dieser Hausindustrie angelangt, so gilt bei der Leineweberei wohl als Regel, daß die kleinen Meister ihre leinenen und baumwollenen Erzeugnisse auf eigene Rechnung anfertigen und - bei verhältnismäßig sehr geringem Verdienst - in eigenen Läden oder auf den Märkten absetzen, wohl auch an Händler verkaufen.”145 Existieren konnten die Leinenweber in der Region zu diesem Zeitpunkt deshalb noch, “(...) weil die ländliche Bevölkerung der Umgegend insbesondere bei Bettzeug und Drill das Handgewebe dem Maschinenfabrikat vorzieht”.146 Aufgrund der geringen Beschäftigtenzahlen bei den kaltensundheimer Leinewebern scheint auch für das 17. und 18. Jahrhundert eher zu vermuten, daß die Produktion nicht für den überregionalen Markt bestimmt war. Der Rohstoff, Flachs, wurde in Kaltensundheim angebaut.147 Hingegen waren die Barchentweber auf den Bezug von Baumwolle angewiesen. Die Ausbreitung der Barchentweberei in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts deutet darauf, daß die Produkte dann von Verlegern vertrieben wurden, die schließlich vermutlich auch die Rohstoffe lieferten. 1.3.2. Die Barchentweberei Die Geschichte der Barchentweberei, die für Kaltensundheim seit dem 18. Jahrhundert in den Kirchenbüchern belegt ist, geht in Deutschland auf das 14. Jahr- 142 Lenger 1988, S.11. Vgl. entsprechend auch Kaufhold 1978, S.28f. Lenger (1988) klammert aus diesem Grund in seiner Sozialgeschichte deutscher Handwerker des 19. Jahrhunderts den Textilbereich aus. 143 Kaufhold 1978, S.29. Vgl. auch Reininghaus 1990, S.7 144 Vgl. Gau 1989 [1889], der “über die Geschichte und Entstehung der Weberei (...) ” im Eisenacher Oberland “(...) etwas Genaues nicht (...)” angeben kann. (Ebd., S.79) Für die Verbreitung der Leineweberei in Thüringen gibt von Hippel das 16. Jahrhundert an. In dieser Zeit “(...) kam die Leinenerzeugung in einer ausgedehnten Zone von Schlesien über Sachsen und Thüringen bis nach Westfalen und an den Niederrhein hinzu und weitete sich im 18. Jahrhundert u.a. auf die Oberlausitz, Böhmen und Mähren aus (...)”. (Von Hippel 1995, S.26) 145 Gau 1989 [1889], S.80f 146 Ebd., S.81 147 In welchem Umfang dies geschah, ist allerdings offen. Für das Jahr 1833 zumindest notierte die kaltensundheimer Chronik noch eine gute Flachsernte. (Vgl. Marschall/Marschall o.J., S.13) 79 hundert zurück. “Barchent und seine lateinische Bezeichnung ´fustaneus´ sind Lehnworte aus dem Arabischen. Dort bedeutet ´barrakán´ grober Stoff und ´fustân´ Gewand.”148 Die robuste Beschaffenheit des Gewebes war geeignet, “(...) Blaukittel und andere Arbeitskleidung (...)” zu fertigen, die Knopf unter dem Synonym der “´Jeans des Mittelalters´” anschaulich zusammenfaßt. 149 Dabei war Barchent in Deutschland zunächst aber kein ´Massenartikel´ wie die heimischen Leinen- und Wollprodukte150, sondern den privilegierten Bevölkerungsgruppen vorbehalten: “Kostbarere und anspruchsvollere Textilien, wie gefärbte Wolltuche, Seide und das Leinen-Baumwoll-Mischgewebe Barchent gelangten in die Läden der Städte und in die Haushalte von Adel, Klerus und gehobenem, städtischen Bürgertum fast nur durch den Fernhandel, aus der Mittelmeerwelt oder von Flandern-Brabant her (...).”151 Bereits Ende der 1330er Jahre war die Nachfrage nach Barchentprodukten, die vor allem aus der Lombardei kamen, in Mitteleuropa so weit gestiegen, daß der deutsche Markt von Mailand aus nicht mehr hinreichend beliefert werden konnte.152 “Irgendwann” in der Folgezeit “(...) vollzog sich in der oberdeutschen Textilindustrie binnen weniger Jahrzehnte eine tiefgreifende Umstrukturierung”.153 Städte wie Ulm, Augsburg, Biberach, Ravensburg und Memmingen, in denen bis dahin die Leinenindustrie dominierte, entwickelten sich bis zum Ende des 14. Jahrhunderts zugleich zu Standorten der Barchentproduktion, deren Umfang die Leinenherstellung noch übertraf. Der “(...) Wandlungsprozeß erfaßte Oberschwaben zwischen dem Schussen und der Riß im Westen, dem Lech im Osten, dem Bodensee und dem Vorland der Alpen im Süden und der Donau im Norden. Der dort erzeugte Barchent überschwemmte alsbald die Messen und Märkte Mitteleuropas. Die Baumwollweberei war seit der Wende vom 14. zum 15. Jahrhundert das wirtschaftlich bedeutendste 148 Von Stromer 1978, S.24 149 Knopf 1997 150 “Aus der Wolle einheimischer und wenig qualitätvoller Schafrassen wurden meist einfachere Wollgewebe hergestellt, wie Loden.” (Von Stromer 1978, S.11) 151 Ebd. 152 Ebd., S.27. Einen umfassenderen ´Abriss der Vorgeschichte der Baumwollweberei´ gibt von Stromer (ebd.) auf den Seiten 24ff. Vgl. auch ders. 1986, S.39ff (mit einer kritischen Diskussion zur Proto-Industrie). Vgl. außerdem Ebeling/Mager 1997, S.31ff 153 Ebd., S.11. Für Stromer geben die “(...) Umstände der Entstehung der mitteleuropäischen Baumwollindustrie (...)” insgesamt, “(...) ihre Produktions- und Vertriebsmethoden und ihre gesamtwirtschaftliche Bedeutung, ihre Auswirkung nicht nur für die unmittelbar beteiligten UnternehmerVerleger und Weber, sondern auch auf den Lebensstandard breiter Bevölkerungskreise (...) Anlaß und Berechtigung, von einer ´Industriellen Revolution des Spätmittelalters´ zu sprechen. (Stromer 1978, S.155, vgl. auch ebd., S.5 und S.17f) 80 Gewerbe im östlichen Oberschwaben (...).”154 In der Folgezeit konnte sich die “Massenware der oberdeutschen Produktion” neue Absatzgebiete vor allem auf der Iberischen Halbinsel und, über den Vertrieb in die Lombardei155 wie auch direkt von Deutschland aus, in England erschließen. Hingegen “(konnte) der einst so begehrte Mailänder Barchent (...) schließlich im nordalpinen Europa nur noch eine sekundäre, mancherorts fast marginale Position als Luxusgut behaupten (...)”.156 Für die relativ rasch, innerhalb nur “(...) einer halben Generation”157 gelingende Umstellung von der Leinen- auf die Barchentproduktion sieht von Stromer, unter den Voraussetzungen eines ´immobilen´ und ´innovationsfeindlichen´ Habitus “(...) der dickschädeligen schwäbischen und bayerischen Leineweber (...) vorläufig nur eine Erklärung”158: Die Pest, die “(...) seit 1347 (...) in mehreren Wellen (...) Mitteleuropa (überrollte)” und von der die Leineweber “überdurchschnittlich stark” betroffen waren.159 “Diese Katastrophe unterbrach weithin die übliche Weitergabe von handwerklichen Fertigkeiten und Gebräuchen, aber auch Vorurteilen von der Väterauf die Söhne-Generation (...).”160 Sie schuf damit zugleich Grundlagen für Innovationen. “Es war vermutlich eine neue Generation von Webern, die sich neuen 154 Ebd., S.15. In dieser Region fand die erste Gründungswelle mitteleuropäischer Baumwollindustrie statt, die von Stromer auf den Zeitraum von 1363/68 bis 1383 datiert. Dabei liegt die erste “direkte Nachricht” über Barchentweberei in Oberdeutschland für Nördlingen vor. (Vgl. ebd., S.30, insgesamt zu den Orten der ersten Gründungswelle ebd., S.29ff) Eine zweite Gründungswelle läßt sich zwischen dem Beginn des 15. Jahrhunderts und den 1430er Jahren feststellen. (Vgl. dazu ebd., S.92ff) Diese “(...) zweite Welle beruhte auf gut dokumentierten Akten einer quasi-merkantilistischen Gründungs- und Förderungspolitik im Zusammenspiel zwischen Landesherren, Stadtobrigkeiten und kaufmännischen Verlegern. Indizien und Analogien sprechen für entsprechende Gründungsvorgänge bei der ersten Welle.” (Von Stromer 1978, S.155. Vgl. auch das Beispiel der fränkischen Baumwollindustrie ebd., S.123ff) 155 “Obwohl die Zahl der Nachrichten über deutsche Kaufleute in der Lombardei vom 14. und 15. Jahrhundert erheblich ansteigt, fanden sich unter ihnen zum letztenmal deutsche Einkäufer Mailänder Barchents 1427/28 in den Hauptbüchern der Firma Borromei verzeichnet, die im lombardischen Barchent-Verlag führend war. Der nächste Band der Borromei-Bücher von 1438 zeigt ein völlig verwandeltes Bild: Die Borromei ließen nun systematisch, offenbar verlagsmäßig, oberdeutschen Barchent in Augsburg, Ulm und Frankfurt aufkaufen. Sie vertrieben ihn über ihre Filialen in Sevilla, in Brügge und in London.” (Von Stromer 1978, S.86) 156 Ebd. Ausführlicher zu den Absatzgebieten vgl. ebd., S.84ff. Bezogen wurde die Baumwolle in Oberdeutschland bevorzugt aus Venedig, dessen Markt und Konjunkturen “(...) schon im 14. Jahrhundert und spätestens im 15. Jahrhundert beeinflußt von der Nachfrage der Deutschen zunächst nach Barchent und dann nach Baumwolle” war. (Von Stromer, S.79, vgl. ausführlicher ebd., S.78ff) 157 Von Stromer 1978, S.139 158 Ebd., S.139f. Innovationsfeindlichkeit und Immobilität sind Zuschreibungen, die von Stromer vornimmt. (Vgl. ebd., S.139) Auch in ökonomischer Hinsicht waren die Leineweber vermutlich zur Umstellung auf die Barchentweberei nicht in der Lage. (Vgl. ebd.) 159 Ebd., S.140 160 Ebd. Vgl. zur Geringschätzung der Leineweber ebd., S.139 und Abschnitt 2.1.1.2. in diesem Kapitel 81 Arbeits- und Marktbedingungen zwangsläufig anpassen mußte, aber auch leichter anpassen konnte.”161 Die Umstellung von der Leinen- auf die Barchentweberei im Generationenwechsel hat sich auch für Kaltensundheim zeigen lassen.162 In den größeren Standorten schließlich wurden Barchentweber anfangs teilweise auch aus anderen Orten abgeworben. Dies beispielsweise im oberfränkischen Kulmbach, wo die Produktion im zweiten Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts verstärkt einzog.163 Kulmbach grenzt an den Süden Thüringens und liegt dem Eisenacher Oberland unter den Regionen, für die von Stromer die frühe Entstehung der Barchentindustrie belegt, noch am nächsten.164 Für das Fichtelgebirge und den Frankenwald führt Knopf dann den Betrieb von Barchentweberei ab dem 14. Jahrhundert an, der hier allerdings “(...) keine größere Bedeutung (erlangte)”.165 Bedeutsamer wurde das Gewerbe später im Osten des Eisenacher Oberlandes. Auf “das vielgestaltige Textilgewerbe” (...), das sich nach 1650 in den Randzonen rund um das Gebirge (...)” des Thüringer Waldes “ausbreitete”, weist auch Kaufhold: “Betriebsformen waren anscheinend Verlag und Heimgewerbe, wichtigste Produktionen Spitzenklöppelei und Wollweberei in und bei Ilmenau, Baumwollspinnnerei und -weberei in Suhl und Umgebung, Leinwand- und Drillichweberei, Tuch-, Zeug- und Raschmacherei mit den Schwerpunkten Friedrichsroda, Waltershausen, Stadtilm, Eisenach, Wasungen und Meiningen. Eine geschlossene Gewerbelandschaft stellten sie indes nicht dar.” 166 Das Eisenacher Oberland schließlich wird in den von Kaufhold skizzierten “Gewerbelandschaften” Thüringens nicht erwähnt. Sie festzustellen, wirft allerdings Probleme auf, weil sich “die territoriale Zerissenheit des Landes” in einem “(...) Forschungsstand (spiegelt), 161 Ebd. 162 Vgl. Anhang 3. Allmähliche Anpassungsprozesse einzelner Leineweber, die von Stromer ebenfalls anführt, zeigen sich in Kaltensundheim in den seltenen Fällen, in denen die Väter der Barchentweber als Leine- und Barchentweber ausgewiesen sind. 163 Vgl. Stromer 1978, S.92 164 Die oberfränkische Baumwollindustrie, die sich bis in die Gegenwart behaupten konnte, griff, “(...) ähnlich wie im engeren, schwäbischen Barchentrevier und dort besonders im Umfeld von Augsburg und im großen Landgebiet der Reichsstadt Ulm über die Städte auf “(...) ihr wirtschaftliches Umland aus. Damit hatte sie die Basis einer Massenproduktion mit lohngünstigen und durch den landwirtschaftlichen Nebenerwerb auch gegen Krisen und Konjunktureinbrüche einigermaßen abgesicherten Arbeitskräften. Sie waren in Regionalzünften organisiert, die Stadt und Land umfaßten. Vielleicht weil man mit dem schwäbischen Markenbarchent auf die Dauer nicht konkurrieren konnte, spezialisierte sich dieses Revier zunächst auf die Schleierweberei und, als die Schleier außer Mode kamen, auf (...) baumwollene bunte Halstücher. Der Schwerpunkt des Reviers verlagerte sich bald, wohl schon im 15. Jahrhundert, nach Hof (...).” (von Stromer 1978, S.124f) Hof war für den Vertrieb für den Fernhandel verkehrsgünstig gelegen. 165 Knopf 1997. Demnach wurde die Barchentweberei in dieser Region “nicht durch strenge Zunftsatzungen, sondern durch gewisse obrigkeitliche Ordnungen geregelt (...)”. (Ebd.) 166 Kaufhold 1986, S.134 82 der sich mit einer Fülle regionaler und lokaler Studien gegen eine Übersicht sperrt, während umfassendere Darstellungen fehlen”.167 Im Blick auf die Baumwollverarbeitung bezeichnet Adelmann schließlich Thüringen in einer nur kurzen Zusammenfassung, die der geringen Bedeutung im Vergleich mit anderen Regionen entspricht, als “(...) eine im Industrialisierungsprozeß schrumpfende, sich ´deindustrialisierende´ kleine Baumwollweberei-Region”.168 1846 war Thüringen mit 3,5% an den in den Grenzen von 1871 insgesamt in der Baumwollindustrie Beschäftigten beteiligt, 1895 mit 1,0 und 1907 mit 0,6%.169 Absolut ging die Zahl der Baumwollweber hier in diesem Zeitraum von 8.905 über 3.283 auf 2.185 zurück.170 Aus der Nähe der von Kaufhold zuvor genannten Stadt Suhl kamen auch Vorfahren von Richard Schmidt.171 Einer von ihnen ließ sich in den 1750er Jahren in Kaltensundheim nieder, in einer Zeit allmählich und stetig steigender Zahl von Eheschließungen in der Gemeinde, bei denen für den Bräutigam der Beruf des Barchentwebers im Heiratsregister verzeichnet ist. Bis Mitte des 18. Jahrhunderts weisen die noch vergleichsweise dürftigen Angaben in den Kirchenbüchern172 hingegen nur vereinzelt Barchentweber aus.173 Der erste von ihnen, er kam aus Suhl174, wurde im Jahr 1726 erwähnt. Der zweite Eintrag über eine Eheschließung zwischen einem Barchentweber und einer Kaltensundheimerin erfolgte drei Jahre später. In diesem Fall kam der Bräutigam aus der Nachbargemeinde Mittelsdorf. 1732 heiratete dann der erste gebürtige kaltensundheimer Barchentweber in seinem Heimatort. Erst 1744 und 1746 erfolgten weitere Nennungen im Heiratsregister. Zwischen 1748 und 1834 waren die Barchentweber dann zu insgesamt einem Drittel, in 163 Fällen, an den 481 Ehen beteiligt, die in diesem Zeitraum in Kaltensundheim geschlossen wurden.175 Innerhalb dieser Zeitspanne war ihr Anteil an den Eheschließungen unterschiedlich hoch. In den ersten 15 Jahren, zwischen 1748 und 1763, lag er noch bei weniger als 30%. Zwischen 1790 und 1805 betrug er knapp 45%, zwischen 1820 und 1830 etwa 40%. 167 Ebd., S.131. Entsprechend weist Kaufhold auch auf den “vorläufigen Charakter” seiner Ausführungen zu Thüringen. (Vgl. ebd.) 168 Adelmann 1986, S.306 169 Vgl. ebd. und ebd., S.298 170 Vgl. ebd. 171 Vgl. Abschnitt 2.2. in diesem Kapitel 172 Vgl. dazu vorangegangenen Abschnitt 3.1. 173 Vgl. Anhang 1 174 Das Kirchenbuch notierte “Suhla”. Vgl. ebd. 175 Vgl. Anhang 2 83 Der Grad der Selbstrekrutierung war unter den Barchentwebern hoch. In 124 Fällen, damit bei etwa drei Viertel der von Barchentwebern im Zeitraum von 1748 und 1834 geschlossenen Ehen, wurde der Beruf des Vaters im Kirchenbuch angegeben. Danach stammten etwa 75% von ihnen aus Weberfamilien, mehr als die Hälfte hatte einen Barchentweber zum Vater.176 Von 178 Webern, die in Kaltensundheim zwischen 1748 und 1834 heirateten, kamen 34, damit ungefähr ein Fünftel, aus einem anderen Ort.177 Die meisten stammten aus der Rhön, häufig kamen sie aus den umliegenden Gemeinden.178 Dies spricht zum einen dafür, daß es für Barchentweber zumindest eine zeitlang wohl durchaus lohnte, sich in Kaltensundheim niederzulassen. Zum anderen deutet die Zahl der Auswärtigen auf die Mobilität der Barchentweber, damit auch auf die begrenzte Aussagefähigkeit der eingetragenen Eheschließungen. Es kann nicht davon ausgegangen werden, daß alle Weber, die in Kaltensundheim heirateten, dort dauerhaft lebten. Bei den Vorfahren von Richard Schmidt, die Barchentweber waren, ist beispielsweise auch eine vorübergehende, mehrjährige Abwesenheit der Familie zu beobachten.179 Obwohl die Kirchenbücher nur vage Auskunft geben, bringen sie die Realität in Kaltensundheim doch insofern näher, als aus ihnen die Bedeutung der Barchentweberei im Dorf abzulesen ist. Sie, nicht die Leineweberei, war ausschlagend für die “Blüthe des Ortes”, an die die Kirchenchronik Mitte des 19. Jahrhunderts nur noch erinnern konnte. Die Situation der Kaltensundheimer hatte sich bis dahin deutlich verschlechtert: “(...) seit der Zeit (...) wo die Barchentweberei, der einzige Nahrungserwerb in Verfall gerieth (...) verarmten viele Familien.” Im Staatshandbuch für das Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach wurde sie zwar noch im Jahr 1846 als einzig nennenswertes Gewerbe für das Dorf ausgewiesen.180 Dieser Eintrag deutet aber eher auf einen Mangel an erwerbsmäßigen Alternativen als auf eine vorangegangenen ´Blütezeiten´ vergleichbare Barchentproduktion. 176 Vgl. Anhang 3 177 Vgl. zum folgenden Anhang 5. Dabei sind in dem Fall Barchent- und Leineweber einbezogen, wobei nur drei Leine- und ein Leine-/Barchentweber unter den Auswärtigen zu finden sind. 178 Ihre regionale war häufig mit beruflicher Mobilität verbunden. Für 23 der Weber, die von außerhalb kamen, ist im Kirchenbuch der Beruf des Vaters notiert. In 18 Fällen hatte es gegenüber dem Vater eine berufliche Umorientierung gegeben. Vgl. ebd. 179 Vgl. Abschnitt 2.2. in diesem Kapitel 180 Vgl. Staats-Handbuch 1846, S.217. 84 1.3.3. Die umliegenden Gemeinden um die Mitte des 19. Jahrhunderts Im Blick auf die Gewerbe- und Industrieansiedlungen gibt das Staatshandbuch des Großherzogtums für das Jahr 1846 auch Aufschluß über die umliegenden Gemeinden Kaltensundheims. Überwiegend gemeinsam war den Orten, daß sie über zumeist mehrere Mühlen verfügten.181 Vermutlich reichte auch die Differenzierung des Handwerks zur örtlichen Versorgung. Gewerbliche Ansiedlungen, die darüberhinaus und auch für überregionale Märkte produzierten, fanden sich kaum, höchstens in fünf der genannten 14 Amtsgemeinden:182 So erfolgte für Schafhausen, Gerthausen und Aschenhausen keine entsprechende Nennung, Wohlmuthausen war “an Feldfrüchten ergiebig”. In den weiter westlich gelegenen Orten Frankenheim, Birx, Unterweid, Kaltenwestheim und Mittelsdorf gab es ebenfalls keine Ansiedlungen. Erbenhausen hatte zwei Ziegelhütten und verfertigte Peitschenstöcke. In Helmershausen, Marktflecken mit fünf Jahrmärkten, wurde Barchentweberei betrieben. Der Ort hatte außerdem “gute Bau- und MühlSteine”. Im westlich gelegenen Oberweid gab es Leineweberei und eine Peitschenstock-Fabrikation”, letzteres auch in Reichenhausen. Der mit 1.630 Einwohnern größte Ort Kaltennordheim, Stadtflecken mit sechs Jahrmärkten, hatte eine Apotheke, verfügte über “Linnenfabrik”, Barchentweberei und “Messer-Fabrikation”. Über das ebenfalls noch genannte Braunkohlenwerk war bereits 1821 berichtet worden: “(...) am sogenannten Windberge trifft man ein sehr ergiebiges Braunkohlenwerk an, dem es nur an Absatz fehlt, um den möglichst größten Nutzen davon zu ziehen.”183 In dieser Gegend, südlich von Kaltennordheim, waren demnach Mitte des 19. Jahrhunderts vor allem die Weberei und die Herstellung von Peitschen bedeutsam. Daran änderte sich in der Folgezeit insofern wenig, als kein neues Gewerbe nennenswerten Umfang erreichte. Abgesehen von der Korkindustrie, galt dies auch insgesamt für das Eisenacher Oberland. Dabei nahmen die einzelnen Gewerbe unterschiedliche Entwicklungen. Ihre Überlebensfähigkeit hing von Möglichkeiten zur Spezialisierung und den Fortschritten in der Industrie ab. In diesem Prozeß 181 Für Kaltensundheim wurden “2 Mühlen und die Grimmelsbach- (Erbs-), die Lottenmühle” genannt. Vgl. ebd. - Aus Einträgen in den ältesten Kirchenbüchern der Gemeinde geht hervor, daß die Erbesmühle eine Ölmühle war. 182 Die genannten Gemeinden sind in der nachfolgenden Karte verzeichnet. Sie enthält darüber hinaus auch die Orte im Eisenacher Oberland, die in den nachfolgenden Abschnitten 1.3.4. und 1.3.4.1. genannt werden. 183 Mey 1821, o.S. (beigefügte Tabelle). Vgl. zu den vorstehenden Angaben Staats-Handbuch 1846, S.216f 85 1 Andenhausen 2 Arnshausen 3 Aschenhausen 4 Birx 5 Brunnhardtshausen 6 Dermbach 7 Empfertshausen 8 Erbenhausen 9 Fischbach 10 Frankenheim 11 Gerthausen 12 Helmershausen 13 Kaltenwestheim 14 Klings 15 Lengsfeld*) 16 Melpers 17 Mittelsdorf 18 Oberalba 19 Oberweid 20 Öchsen 21 Reichenhausen 22 Schafhausen 23 Unteralba 24 Unterweid 25 Weilar 26 Wiesenthal 27 Wohlmuthausen 28 Zella *) In Lengsfeld wurde in den 1880er Jahren die Weberei betrieben (vgl. Gau 1989 [1889], S.78, hier S.93f). Hier wird angenommen, daß es sich um Kaltenlengsfeld handelte. Möglich ist aber auch, daß Gau Stadtlengsfeld meinte. Stadtlengsfeld liegt im Nordwesten von Weilar. (Vgl. auch die Karte auf S.47, auf deren Vorlage obige Skizze entstand.) 86 konnte die Produktion in der Peitschenherstellung, dies zumindest in Kaltensundheim, und auch in der Weberei, die in einzelnen Gemeinden stärker als zuvor betrieben wurde, zunächst gesteigert werden. 1.3.4. Gewerbe und Spezialisierungen im Eisenacher Oberland während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Einen Überblick über die im Eisenacher Oberland gegen Ende der 1880er Jahre insgesamt betriebene “Hausindustrie” ermöglicht eine, auf Initiative des Vereins für Sozialpolitik durchgeführte, Untersuchung von Gau.183 Er teilte das Gewerbe der Region “(...) nach Bedeutung und Umfang in zwei Hauptgruppen” ein: “Die erste Gruppe umfaßt die Weberei, die Holzschnitzerei und die Korkindustrie, während wir zur zweiten Gruppe die weniger bedeutenden Gewerbe: die Herstellung von Schuhwaren, das Sattler- und Riemereigewerbe, die Anfertigung von Peitschen, die Korbwarenindustrie, die Anfertigung von Holzschuhen und Mulden sowie das Gewerbe der Messerschmiede rechnen.”184 Die Holzschnitzerei und die Korkindustrie, beides Gewerbe der bedeutenderen Kategorie, waren nördlich von Kaltensundheim angesiedelt. Empfertshausen war mit 30 Schnitzerwerkstätten der “Hauptsitz der oberländischen Schnitzer”. Auch in Dermbach gab es etwa zehn Werkstätten “und in den umliegenden Ortschaften einige zerstreut”. Die Produktion “der Holzteile von Pfeifen in glatter Faconware” gab es hier bereits seit Ende des 18. Jahrhunderts, “die Anfertigung feinerer Ware in verzierter Form (...) seit etwa 25 Jahren”.185 Produziert wurde überwiegend im Verlag186, in verschiedenen Formen, wobei scheinbar das Kaufsystem vorherrschte. Im Bezug der Rohstoffe gab es Unterschiede: Das hauptsächlich verwendete Nußholz bezogen die Schnitzer von Händlern vor allem aus dem Gebiet um Bischofsheim. Das sogenannte Maserholz beschafften sie sich häufig selbst aus der Gegend von Fulda und Kassel, was mit hohen Kosten verbunden war. Das “Bruyereholz” schließlich lieferten die Kaufleute selbst und zahlten dann nur den Schnitzerlohn. Abgenommen, fertiggestellt und weitervertrieben wurden die Pfeifenteile 183 Vgl. Gau 1989 [1889] 184 Ebd., S.78 185 Ebd., S.89. Die Bedeutung der Holzschnitzerei in Empfertshausen hebt auch Weber-Kellermann hervor. (Weber-Kellermann 1972, S.339) Vgl. zur Heimarbeit und Hausindustrie im Thüringer Wald ebd., S.331ff 186 Teilweise bemühten sich Schnitzer, wie auch die Händler, im Sommer ihre Waren in Badeorten und thüringischen Städten an ´Touristen´ abzusetzen. Vgl. Gau 1989 [1889], S.90 87 überwiegend von Händlern um Ruhla. “Seit den letzten Jahren” erfolgte der Absatz auch direkt in andere Orte Deutschlands, Österreichs und Schwedens.187 In den 1880er Jahre waren die Preise für einfache Pfeifen, die andernorts bereits maschinell hergestellt wurden, zunehmend gesunken, während “für gute, saubere und hübsch verzierte Arbeit (...) innerhalb gewisser Grenzen noch ein angemessen hoher Preis bezahlt” wurde.188 Entsprechend zielte die, auch von der Großherzoglichen Staatsregierung geförderte, fachliche Ausbildung der Pfeifenschnitzer unter anderem darauf, ihren “Kunstgeschmack” zu beleben und “dieselben zu feineren und stilvollen Arbeiten anderer Art anzuhalten”.189 Unter der Voraussetzung kontinuierlicher Bestrebungen dieser Art hielt Gau “das Gewerbe der Holzschnitzerei im Eisenacher Oberland für ein lebensfähiges und durchaus gesundes, und dürften die Aussichten für die Zukunft keine ungünstigen sein”.190 Zu dieser Bewertung trug auch die 1887 in Kaltennordheim gegründete “Fabrik stilisierter Holzschnitzerei” bei, die für die empfertshäuser Schnitzer und auch für eine “größere Anzahl Tischler in der Umgegend” weitere Einkommensquellen für die Zukunft versprach.191 Weniger günstig entwickelte sich zu diesem Zeitpunkt die Situation in der Korkindu- strie, die seit 1855, zuerst in Dermbach, angesiedelt war. Dabei hatte die Produktion bis Mitte der 1880er Jahre hier einen beträchtlichen Umfang erreicht und sich auch auf zahlreiche Orte um Dermbach ausgeweitet. Korkschneiderei gab es vor allem in Unter- und Oberalba, in Fischbach und Zella, außerdem, als winterlicher Nebenerwerb betrieben, in Wiesenthal, Arnshausen, Öchsen und Klings. Der Kork wurde vor allem aus Spanien und Portugal importiert und über Verleger bezogen, die die 187 Vgl. ebd., S.90f 188 Ebd., S.91. “Die Preise der fertigen Ware sind außerordentlich mannigfaltig und schwanken für das Dutzend Pfeifenteile zwischen 20 Pfennig und 15 Mark.” (Ebd.) 189 Ebd., S.93. Gau fügte hinzu, daß “das hohe Weimarische Fürstenhaus (...) wiederholt sein großes Interesse an der Entwickelung der Oberländer Holzschnitzerei insbesondere auch dadurch zu erkennen gegeben (hat), daß auf Kosten desselben junge Leute nach dem Ausland, Italien u.s.w., zu ihrer weiteren Ausbildung im Kunsthandwerk geschickt wurden”. (Ebd., S.94) 190 Ebd., S.95 191 “Diese Fabrik, welche z. Z. 19 Arbeiter beschäftigt, die Zahl derselben jedoch demnächst auf 30 zu erhöhen gedenkt, fabriziert alle in die Holzbearbeitung einschlagenden Artikel, als Specialitäten: altdeutsche Kassetten aller Art, Schmuck-, Brief-, Geld-, Handschuh-, Photographiekasten, Nipptische, Steh-, Wand-, Liqueur- und andere Schränkchen. Ferner werden ganze altdeutsche Wohnungseinrichtungen und Massenartikel in hölzernen Galanteriewaren besserer Gattung hergestellt.” (Ebd.) - Die “Leistungsfähigkeit” der “Landtischler” wird auch bei Lenger mit Belegen aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts betont. Vgl. Lenger 1988, S.47ff 88 fertige Ware anfangs “(...) nach Bayern, dem sächsischen Vogtlande” und “den thüringischen Herzogtümern” absetzten.192 Daß Ende der 1880er Jahre “die Aussichten für die Zukunft der Oberländer hausindustriellen Korkarbeiter (...) unter den obwaltenden Verhältnissen keine günstigen zu sein”193 schienen, hing mit zweierlei Modernisierungen zusammen. Zum einen wurde die Herstellung von Korken in Heimarbeit durch beginnende maschinelle Produktion, hier vor allem in einer Fabrik im östlich gelegenen Geisa, gefährdet. Auch wenn die dermbacher Handarbeiter von den dadurch verursachten Lohneinbußen noch nicht betroffen waren, wirkte sich für sie eine andere Neuerung, der sogenannte “Patentverschluß”, doch bereits in rückläufiger Beschäftigung aus.194 In der Gruppe der weniger bedeutenden Gewerbe wurden Körbe, Holzschuhe und Mulden ebenfalls im Norden von Kaltensundheim hergestellt. Die Produktion, die hauptsächlich in Andenhausen, Brunnhardtshausen sowie in einzelnen anderen Ortschaften erfolgte, diente vergleichsweise wenigen Familien zum Unterhalt und fand auch keine besondere Förderung.195 Für die Messerschmiede, die “in einem geringen Umfange und wohl nur noch in Kaltennordheim betrieben” wurde, prognostizierte Gau, daß “(...) im Eisenacher Oberland der Betrieb (...) in absehbarer Zeit gänzlich aufhören (dürfte)”. Seit Einführung der Gewerbefreiheit im Jahr 1863196 war hier ein “steter Rückgang” zu verzeichnen. Dem entstandenen Druck der Kon192 Vgl. Gau 1989 [1889], S.97f. Gau zitiert unter anderem aus der 1884 von Emanuel Sax verfaßten Arbeit über “Die Hausindustrie in Thüringen, wirtschaftlich-geschichtliche Studien. II. Teil”. 193 Gau 1989 [1889], S.101 194 Vgl. ebd., S.101f 195 Vgl. ebd., S.108ff 196 Vgl. ebd., S.79. “Die Gewerbeordnungen der thüringischen Staaten waren nach dem Entwurf des Gothaer Staatsministeriums von 1861 (...) in den Jahren zwischen 1861 und 1865 erlassen worden. Nur Reuß ä. L. folgte erst 1868. Die Gewerbeordnungen bekannten sich zum Grundsatz der vollen Gewerbefreiheit (...). Deren endgültige Festigung wurde im Rahmen des Norddeutschen Bundes durch die, später vom Deutschen Reich übernommene, Bundesgewerbeordnung vom 21. Juni 1869 erreicht, wodurch auch in den preußischen Gebieten Thüringens die volle Gewerbefreiheit eingeführt wurde.” (Hess 1991, S.96) Daß Thüringen “trotz seiner staatlichen Zerrissenheit” doch “zu einem wichtigen deutschen Industriegebiet” werden konnte, lag daran, “daß die staatlichen Grenzen in Thüringen schon vor 1867 keinen Einfluß mehr auf die wirtschaftliche Entwicklung ausübten. Seit 1833 gehörten die thüringischen Staaten zum Deutschen Zollverein und waren fest in das sich allmählich immer weiter ausdehnende einheitliche deutsche Wirtschaftsgebiet eingefügt. Innerhalb des Deutschen Zollvereins bildeten die thüringischen Staaten, die schwarzburgischen Unterherrschaften bis 1890 ausgenommen, zusammen mit den preußischen Exklaven einen engeren Bund, den Thüringischen Zoll- und Handelsverein. (...) Seit dem Zollvertrag vom 8. Juli 1867 sank der Thüringische Zoll- und Handelsverein auf die Stufe einer bloßen regionalen Verwaltung der indirekten Steuern für die Bundes- und Reichskasse herab und wurde seit 1890 als Thüringischer Zoll- und Steuerverein bis zur Errichtung eines eigenen Unterbaus als Reichsfinanzverwaltung 1920 fortgeführt.” Ebd., S.97. Vgl. auch Facius 1978, S.28ff. Zu der dem Thüringischen Zollverein vorausgegangenen Zoll- und Handelspolitik sowie den Problemen mit Preußen vgl. ebd., S.17ff 89 kurrenz und der “Herstellung von Messern und Gabeln unter Anwendung von Maschinen” hatten bis Ende der 1880er Jahre in Kaltennordheim noch 15 Messerschmiede standgehalten, “welche nicht einmal das ganze Jahr hindurch beschäftigt sind (...)”.197 Ebenfalls in Kaltennordheim, aber auch in geringerem Umfang, waren die Schuhmacher angesiedelt. Sie hatten ihren Sitz schwerpunktmäßig weiter südlich, in der Stadt Ostheim. Die Zukunft dieser “hausindustriell” tätigen Schuhmacher beurteilte Gau vor allem aufgrund der “Konkurrenz der großen Schuhfabriken” ungünstig.198 Zwar erhielten auch die Sattler und Riemer sowie die Peitschenherstellung in der Hausindustrie des Eisenacher Oberlandes nur einen untergeordneten Stellenwert. Für die Kaltensundheimer allerdings war das Gewerbe, selbst wenn es im Dorf ebenfalls nur an zweiter Stelle, hinter der Weberei, rangierte, zu diesem Zeitpunkt von großer Bedeutung. Anfang der 1860er Jahre hatte die Ortschronik das “Riemerhandwerk” noch als “im Moment nicht so gewinnbringend” bezeichnet.199 1881 gründete dann der Kaltensundheimer Carl Ludwig Heim im Ort die ´Thüringische Peitschenfabrik´. Hergestellt wurden geflochtene Peitschenriemen.200 Hauptsächlich wurde das Sattler- und Riemergewerbe, vor allem die Anfertigung von Peitschen, in Kaltennordheim, Kaltensundheim und in “einigen anderen Ortschaften betrieben”. Die Sattlerei und Peitschenflechterei gab es hier “(...) seit undenklichen Zeiten; in Kaltennordheim wohnen 20 Sattler und Riemer, in Kaltensundheim wird die Peitschenfabrikation in 24 Haushaltungen mit ungefähr 70 Personen betrieben und werden vielfach neben den Familienangehörigen noch Gehülfen beschäftigt”.201 Ihre Rohstoffe (Roß-, Fohlen-, Schweine-, Schaf-, Ziegenund Hundeleder) bezogen Sattler und Peitschenflechter, häufig vermittelt über Zwischenhändler, unter anderem aus Leipzig, Frankfurt und Kassel, teilweise auch aus näher gelegenen Ortschaften wie Tann. Das Material wurde auf eigene Rechnung beschafft, die Fertigung erfolgte auf “direkte Bestellung größerer Geschäftsleute”.202 Die “Absatzverhältnisse” bezeichnete Gau als “günstige, (...) doch (sind) die Preise infolge der Konkurrenz gedrückt und zurückgegangen”. In den Sommer197 Gau 1989 [1889], S.111 198 Vgl. umfassender ebd., S.102ff. Ausführlicher zu den Schuhmachern und anderen Gewerben in Ostheim vgl. auch Schmidt o.J. 199 Vgl. Marschall/Marschall o.J., S.16 200 Vgl. Gemeinde Kaltensundheim 1995, S.67 201 Gau 1989 [1889], S.106. “Insbesondere bei dem Flechten der Peitschen beteiligen sich auch die Frauen und Kinder.” Ebd., S.107 202 Vgl. ebd. 90 monaten, “wo die Geschäfte an sich schlecht gehen”, betrieben die Handwerker, die überwiegend “mehr oder weniger Land” besaßen, die Landwirtschaft.203 “Der Lohn für Peitschenarbeiter stellt sich auf 6 bis 8 Mark in der Woche, bezw. erhalten die in Lohn flechtenden Riemer für das Schock 1 M. 20 Pf. und können dieselben bei größerem Fleiß in einem Tag höchstens ein Schock flechten.”204 Dauerhaft, bis weit ins 20. Jahrhundert, hielt sich die Peitschenflechterei in Kaltennordheim.205 Nachweislich seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts wurden im Eisenacher Oberland auch Peitschenstöcke hergestellt. Ihre Produktion, die in den 1880er Jahren in Frankenheim und Melpers erfolgte, wurde anfangs “dadurch begünstigt, daß die dazu erforderlichen besonderen Holzarten in den nahen Wäldern leicht zu erlangen waren”.206 Nach Verwertung der vorhandenen Ressourcen, die nicht immer “in rechtlicher zulässiger Weise” beschafft wurden, sorgte die Großherzogliche Forstverwaltung zwar für Neuanpflanzungen geeigneter Hölzer. Da sie aber vorläufig noch nicht genutzt werden konnten, mußten die Peitschenstockmacher ihr Rohmaterial in den 1880er Jahren aus Waldungen unter anderem der Gegend von Hünfeld, Fulda und Bischofsheim beziehen.207 Die Herstellung der Peitschenstöcke geschah “(...) auf Rechnung und Gefahr der einzelnen Arbeiter, welche ihre fertigen Waren an Händler in den benachbarten Orten Kaltensundheim, Reichenhausen, Kaltennordheim verkaufen. Die Peitschenstöcke werden den Händlern bis zum Überzug fertig geliefert und werden die Peitschen entweder in den Wohnorten der Händler oder auch erst nach weiterem Verkauf fertig gemacht. Gegenwärtig wird die Ware gut bezahlt (...) Bei einer täglichen Arbeitszeit von durchschnittlich 11-13 Stunden wird der Verdienst, je nach dem Alter der Arbeiter und nach der Güte der Ware, 1-2 Mark betragen (...).”208 Allerdings ist zu berücksichtigen, daß auch an der Herstellung von Peitschenstöcken Familienangehörige beteiligt waren und ein Auskommen, wie bei den Peitschenflechtern, nur mit landwirtschaftlichem Nebenerwerb möglich war. 203 Ebd. 204 Ebd. 205 Wähler berichtet noch 1940, daß sich die Peitschenflechterei dort “festgesetzt” habe. (Vgl. Wähler 1940, S.92) 206 Gau 1989 [1889], S.107 207 Vgl ebd., S.107f 208 Ebd., S.108 91 1.3.4.1. Die Plüschweberei Daß in Thüringen der Schwerpunkt der Textilindustrie nicht im Westen liegen würde, hatte sich schon in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts abgezeichnet. Den regional unterschiedlichen Entwicklungstendenzen des Landes entsprach dann auch die weitere Ausdifferenzierung in dieser Branche während der zweiten Hälfte des Jahrhunderts. Wirtschaftlicher Aufschwung und zahlreiche Großbetriebe in der Textilindustrie entstanden primär in Ostthüringen. Hier vollzog sich zwischen 1860 und 1875 “der Übergang vom Hausgewerbe zum Fabrikbetrieb (...) besonders schnell”.209 Die schon sehr früh in Fabriken betriebene Kammgarnspinnerei in Westthüringen, vor allem in Eisenach, Niederschmalkalden und Langensalza, konnte sich zwar behaupten.210 “Der Konkurrenz der mechanisierten Produktion” hingegen erlag “(...) besonders im Vorland des Thüringer Waldes und in der Vorderrhön (...) die hausgewerblich betriebene Textilherstellung, besonders die Leineweberei (...)”.211 Im Eisenacher Oberland bestand Ende der 1880er Jahre die Handweberei in Baumwolle und Leinen “(...) zwar immer noch in einzelnen Ortschaften, jedoch in verhältnismäßig geringem Umfang”.212 “Mehr oder weniger verdrängt( )” wurden diese “(...) nicht mehr lohnenden Leinenund Baumwollwebereien”213 hier auch von einer Neuerung innerhalb der Region: “Seit dem Beginn der fünfziger Jahre - in Kaltensundheim seit dem Jahre 1854 durch den Fabrikanten B. Müller aus Fulda veranlaßt - ist nun in dem Betriebe der Weberei insofern eine bedeutsame Veränderung eingetreten, als die Plüschwebe- 209 Zu nennen ist vor allem die Kammgarnweberei in Gera, Greiz und Weida. Außerdem die Streichwollweberei mit Pößneck als Mittelpunkt. In Gera wuchs die Zahl der Fabriken zwischen 1884 und 1891 von 26 auf 62, die Zahl der Arbeiter verdoppelte sich auf knapp 11.000. In Greiz verlief ein ähnlicher Aufschwung, nachdem die Leinen- und Baumwollweberei etwa 1860 durch die Kammgarnweberei ersetzt worden war. (Vgl. Hess 1991, S.101f) Zur Bedeutung der Kammgarnindustrie für das “mittelsächsisch-vogtländisch-ostthüringische” Gebiet (unter anderem im Vergleich mit der Aachener Industrie) vgl. auch Zunkel 1986, S.266f. Zunkel relativiert allerdings im Blick auf den Zuwachs, den die Wollindustrie hier bis 1875 verzeichnete, im Vergleich mit anderen Gebieten (Niederlausitz, Kreise Sorau, Spremberg und Cottbus): “Der Anteil der (mittelsächsischvogtländisch-ostthüringischen, A. L.-V.) Region an den Erwerbstätigen des ganzen Industriezweiges, deren Zahl etwa um 25% gegenüber 1846 zunahm, blieb ungefähr auf gleicher Höhe.” (Ebd., S.267) 210 Vgl. ebd., S.102 211 Hess 1991, S.101. Auch im Eichsfeld und im Kreis Mühlhausen verlief der Übergang vom Hausgewerbe zur Fabrik schwierig. Dies gelang schließlich für die Baumwollweberei, während die Leineweberei ganz unterging. Vgl. ebd., S.102. Vgl. zur wirtschaftlichen Entwicklung Thüringens insgesamt: Ebd., S.95ff, vgl. auch Kühnert 1921, Rothe 1986, Sieber/Muschwitz 1983, S.15ff, Mühlfriedel 1994 212 Gau 1989 [1889], S.79 213 Ebd 92 rei, insbesondere die Herstellung von glatten und gemusterten Wollplüschgeweben, - welche zur Zeit noch beinahe ausschließlich Produkte der hausindustriellen Handweberei sind - fast überall eingeführt wurde (...).”214 Mit der Plüschweberei erfuhr die Handweberei im Eisenacher Oberland in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts einen Aufschwung, durch den der Stellenwert der Weberei, der hier vor allem in den südlich gelegenen Gemeinden hoch war, in einigen Dörfern vermutlich sogar stieg: Zu den Ortschaften, in denen die “Weberei als Hausindustrie (...) insbesondere” betrieben wurde, zählte Gau unter anderem Gerthausen, Frankenheim, Birx, Unterweid, Kaltenwestheim und Mittelsdorf, für die im Staatshandbuch von 1846 noch keine nennenswerten gewerblichen Ansiedlungen verzeichnet waren.215 Die anderen bei Gau genannten Weberorte waren: Kaltensundheim, Oberweid, Ostheim, Kaltennordheim, Helmershausen, Melpers sowie, im Norden von Kaltennordheim, Klings, Weilar und Lengsfeld.216 Erhebungen vom Winter 1887/88 zufolge standen den “ungefähr”217 705 Plüschwebern im Eisenacher Oberland noch 230 “sonstige Weber bez. Webstühle” gegenüber, von denen allein 90 im Amtsgerichtsbezirk Kaltennordheim in Betrieb waren.218 Auch die 705 Plüschweber waren überwiegend in diesem Amtsgerichtsbezirk konzentriert. Ihre Zahl betrug hier 600, während im Bezirk Ostheim, und dort “(...) fast ausschließlich in der Stadt Ostheim (...)”, 100 und schließlich im Bezirk Lengsfeld noch fünf Plüschweber ansässig waren. Gaus Auflistung der Ortschaften, in denen die Plüschweberei “am bedeutendsten” war, zeigt Kaltensundheim in führender Position: 214 Ebd. 215 Vgl. hier S.85 216 Vgl. Gau 1989 [1889], S.78 217 Die Zahl der Weber ließ sich nur ungefähr ermitteln. “(...) sie ändert sich je nach der Möglichkeit Beschäftigung zu erhalten, nach der Jahreszeit, der Behinderung durch landwirtschaftliche Arbeiten oder den Betrieb eines anderen Handwerks, als Maurer, Tüncher u., während des Sommers.” (Ebd., S.80f) 218 Vgl. ebd., S.80. Auf die anderen Amtsgerichtsbezirke verteilten sich die Leinen- und sonstigen Weber wie folgt: Ostheim mit 30, Lengsfeld mit 60, Vacha mit 30 und Geisa mit 20 Webern bzw. Webstühlen. Für Vacha und Geisa vermerkte Gau, daß “nur wenige, vielleicht die Hälfte, (...) ständig (arbeiten).” (Ebd.) - Bei den Zahlen ist zu berücksichtigen, daß Kaltennordheim der von den fünf Amtsgerichtsbezirken des Eisenacher Oberlandes sowohl hinsichtlich der Zahl der ihm zugehörigen Gemeinden (26) als auch hinsichtlich seiner Einwohnerzahl (11.570) stärkste Bezirk war. Zum Vergleich die Zahlen der anderen Amtsgerichtsbezirke: Geisa: 23 Gemeinden, 7.008 Einwohner; Lengsfeld: 14 Gemeinden, 7.654 Einwohner; Ostheim: 5 Gemeinden, 3.857 Einwohner; Vacha: 13 Gemeinden, 8.175 Einwohner. Vgl. Gau 1989 [1889], S.77. Die genannten Einwohnerzahlen entsprachen dem Stand vom 1. Dezember 1885. 93 “Kaltensundheim Oberweid Stadt Ostheim Klings FrankenheimBirx Unterweid Mittelsdorf Gerthausen Kaltenwestheim mit “ “ “ “ “ “ “ “ 132 Stühlen 130 “ 100 “ 90 “ 57 42 35 26 19 “ “ “ “ “ (...).”219 Die Plüschweberei wurde im Verlagssystem betrieben. Anders als bei den Leinenund Baumwollwebern, war sie häufiger noch “alleiniges Gewerbe”, wurde “teils aber auch in Verbindung mit etwas Landwirtschaft oder nur als Nebengewerbe bez. Winterarbeit betrieben”.220 Die Wolle und vor allem das zur Produktion benötigte “sogenannte( ) Mohairgarn” wurden “in größeren Quantitäten” aus England bezogen.221 Die “Fabrikanten” wohnten hauptsächlich in Fulda, Elberfeld, Köln, Berlin, Chemnitz und Eisenberg. Die Ansiedlung der Produktion im Eisenacher Oberland verschaffte ihnen den Vorteil von “billigeren Arbeitskräften”, zu denen sie zugleich kaum direkte Beziehungen unterhalten konnten. Üblich war deshalb “(...) die Beschäftigung der Weber durch Vermittlung von Faktoren (...)”, die teilweise “mehrere Fabriken” vertraten: “(...) in Kaltensundheim z.B. wird für 9 Fabriken mit 6 Faktoren gearbeitet”.222 Die Weber wurden von den Faktoren mit Rohstoffen versorgt, von ihnen kontrolliert und auch bezahlt.223 Die Löhne der Plüschweber, die noch weitestgehend außerhalb der Konkurrenz von Maschinenbetrieben arbeiteten, lagen “bei weitem” höher als die der Baumwoll- und Leinenweber. Während zum Beispiel in Ostheim ein Lohnweber der “Leinen- und Baumwollbranche” bei einer, ohne die Mitarbeit der Familienangehörigen berechneten, Arbeitszeit von 15 Stunden zwischen 60 Pf. und 1 M. 20 Pf. am Tag verdiente, konnte ein Plüschweber bei 12stündiger Arbeitszeit mit 1 M. 70 Pf. bis 2 M. “und darüber” rechnen. In Kaltensundheim betrug der Lohn der Plüschweber “8 bis 15 M 219 Ebd., S.80. Hier ist wiederum zu berücksichtigen, daß, obwohl für die genannten Gemeinden konkrete Zahlen nur für das Jahr 1846 vorliegen, Kaltensundheim im Hinblick auf die Einwohner doch zu den größeren unter den genannten Orten gehörte. 220 Ebd., S.83 221 Vgl. ebd., S.81 222 Ebd. 223 Vgl. ebd., S.81f 94 durchschnittlich in der Woche (...)”.224 Der Verdienst, der unter anderem “nach der Breite und Qualität der Ware” bemessen war, variierte offensichtlich auch mit der jeweiligen Lage der Gemeinden, in denen die Plüschweber ansässig waren.225 “Im großen und ganzen” stellte Gau fest, daß ihre Löhne “(...) ziemlich ständig geblieben und eher höher als niedrig geworden” waren.226 Entsprechend fiel auch seine abschließende Bewertung insoweit positiv aus, als sich “(...) bis jetzt und hoffentlich noch für lange Zeit die Weberei im Eisenacher Oberland (...) als ein vollständig lebensfähiger Industriezweig bewährt hat und die Aussichten insbesondere der Plüschweberei für die nächste Zukunft noch keine ungünstigen sind (...)”.227 Aber selbst bei zunächst noch günstigen Prognosen deutete sich in den 1880er Jahren ebenfalls bereits an, daß, “(...) auch nach Ansicht mehrerer Fabrikanten (...), (...) früher oder später einmal auch Plüsch für Möbel auf Maschinenstühlen hergestellt werden dürfte, da schon heute die ersten Anfänge hierzu gemacht worden sind”.228 Aus dem letzten, Mitte der 1890er Jahre vorgenommenen, Eintrag, der sich in der kaltensundheimer Chronik zur Weberei findet, geht hervor, daß der Verdienst der Plüschweber dann kaum ausreichte, um den Lebensunterhalt zu bestreiten.229 Insgesamt war in Thüringen im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts der Textilbereich vom Rückgang des Handwerks “am schwersten (...) betroffen, das Weberhandwerk wurde fast vollkommen vernichtet”.230 Die Zahl der selbständigen Weber ging hier zwischen 1864 und 1907 um mehr als 88% zurück, sie sank von 9.641 auf 1.023.231 Die kaltensundheimer Kirchenbücher weisen zwar noch für das 20. Jahrhundert beschäftigte Faktoren sowie einige Weber aus, deren Zahl dann allerdings erheblich reduziert war. In der, während des 224 Vgl. ebd., S.86 225 Der Lohn fiel in den größeren Orten Ostheim und Kaltennordheim höher aus als in Kaltensundheim. Hier wiederum wurde mit der Plüschweberei mehr verdient als in Frankenheim, einem “auf der hohen Rhön über 760 m hoch gelegenen Dorfe” (ebd.), das Gau zum Beginn der 1880er Jahre vor allem noch zur Darstellung eines extremen wirschaftlichen Niedergangs gedient hatte. Vgl. Gau 1883, S.36ff 226 Gau 1989 [1889], S.87. “Verglichen mit dem Verdienst von anderen Handwerkern, Maurern, Zimmerleuten, und von Tagelöhnern, mögen dieselben hier und da - insbesondere die Bauhandwerker im Sommer - mehr verdienen als die Weber (...), jedoch treten im Winter oftmals große Pausen oder vollständige Beschäftigungslosigkeit ein, während die geschicken Weber auch im Winter voll beschäftigt sind.” (Ebd.) 227 Ebd., S.89 228 Ebd. 229 Vgl. Abschnitt 2.1.1.1. in diesem Kapitel 230 Hess 1981, S.112. Zur Entwicklung der Textilindustrie in Thüringen am Beginn des 20. Jahrhunderts vgl. ebd., S.318f und S.331 231 Vgl. ebd., S.113 95 Nationalsozialismus verfaßten ´Thüringischen Volkskunde´ Wählers findet sich dann entsprechend auch der Hinweis, daß “(...) die alte Handweberei um Kaltennordheim herum (...) im Aussterben begriffen (ist)”.233 Eine erfolgreiche Umstellung auf wieder neue Produkte im Rahmen der nicht mechanisierten Weberei gelang demnach im Eisenacher Oberland nur noch in Oberweid.234 1.4. Handlungsspielräume, Handlungsziele, Handlungsstrategien: Umstellungen und ´angespannte´ Beziehungen von Habitus und Feld Der Versuch, die Bedürfnisse der Rhöner und ihre dazu vorhandenen Ressourcen aufeinander abzustimmen, mußte zunehmend an Grenzen geraten. Die Bevölkerung war langfristig auf Ackerbau und Gewerbe angewiesen. Das Gewicht, das diesen beiden Erwerbsstrategien beigemessen wurde, wechselte im Rahmen jeweils gegebener Notwendigkeiten und Möglichkeiten. Die im 17. Jahrhundert noch vorherrschende Bedeutung des Ackerbaus übernahm in Kaltensundheim im 18. Jahrhundert vor allem die Weberei. Die Kirchenchronik vermerkt für die “(...) Zeit der Blüthe des Ortes durch die Weberei (...)”, daß “(...) der Ackerbau vernachlässigt, die Wiesen verkauft wurden (...).” Mit dem Rückgang des Gewerbes ging im 19. Jahrhundert wiederum eine Umstellung und verstärkte Aufmerksamkeit für die Landwirtschaft einher: “Mehr als früher wird jetzt das Feld bebaut,” berichtet die Kirchenchronik um die Jahrhundertmitte. Daß zuvor Weideflächen aufgegeben worden waren, machte sich dann in der Konsequenz bemerkbar, daß “(...) der nöthige Viehstand zur Erzeugung des Düngers nicht gehalten werden kann (...) so wird das Anspannvieh, das man haben muß, den ganzen Sommer über, meistentheils von Kindern zur Weide getrieben, in Wald und Feld, und dadurch derart vielfach geschadet und gefrevelt.” Der “Vorgang massenhafter Verelendung”, den Conze für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts insgesamt konstatiert235, ließ sich mit dieser verstärkten Hinwendung zum Ackerbau zunächst und auch allein nicht lösen. Die sozialen Probleme wuchsen. Für das Jahr 1847 ist in der kaltensundheimer Chronik festgehalten: “Wegen 233 Wähler 1940, S.92 234 Hier hatte sich “(...) die kunsthandwerkliche Teppich-, Gobelin- und Fahnenweberei entwickelt. (...) Oberweider Gobelins schmücken z.B. die Wandflächen der Reichskanzlei und des Reichsluftfahrtministeriums in Berlin; Oberweider Fahnen zieren das Haus der deutschen Kunst in München”. (Ebd.) 235 Conze 1984, S.18. Dabei ist von einer “(...) regional und berufsgruppenmäßig verschieden stark ausgeprägten (Pauperisierung) auszugehen. (Ebd.) Vgl. auch ders. 1970, S.123f 96 der vorjährigen schlechten Ernte herrscht jetzt eine große Teuerung. Nachdem die Not ihren größten Stand erreicht hat, wird das Erntedankfest mit großer Rührung gefeiert. Viele Menschen gehen jetzt müßig, andere suchen Arbeit und Verdienst bei Bahn- und Festungsbauten sowie mit Steineklopfen. Justizrat Haberfeld läßt die Straße nach Aschenhausen sowie den Marienhof bauen, wodurch Geld ins Dorf kommt. Die Weberei stockt vollständig, Bettelei und Dieberei erreichen eine bedenkliche Höhe. Man fürchtet Aufruhr und Empörung.”236 Politische Mißstände, Bevormundungen und existentielle Probleme führten in Thüringen, wie überall, während der Revolution “obenan” zu einer langen “(...) Reihe gewichtiger Forderungen, die gesetzlich garantiert werden sollten (...)”237 sowie zu zahlreich vorgetragenen “regionalen und lokalen Sorgen” von “durchweg wirtschaftlicher und sozialer Art.”238 In der Rhön “erhob sich” im März 1848 “(...) sofort die gesamt Schicht der kleinstädtischen und ländlichen Handwerker und Lohnarbeiter (...).” Bei den Unruhen “(standen) Stadt und Land Eisenach, das eisenachische Oberland und die Exklave Ostheim (...) nicht zurück. Im Armutsgebiet der Rhön (...) tobte sich der aufgestaute Ingrimm auch an ortsansässigen Juden aus, die durch ihren Hausier- und Viehhandel, ihre Wucherzinsen viel Haß auf sich gezogen hatten (...).”239 Die Bauern und Landarbeiter Thüringens schlossen sich ebenfalls rasch zusammen. “Hauptziele ihrer heftigen Forderungen waren die Belastung mit Dienstbarkeiten, Abhängigkeiten, Geld- und Sachabgaben, die Bedrückung mit ritterschaftlichen Privilegien in der Gerichtsbarkeit, der übersetzte Wildbestand mit seinen verheerenden Folgen in Feld und Flur, die nur den Landesfürsten, dem Adel und einigen Privilegierten vorbehaltene Jagd.”240 Die Gemeinde von Kaltensundheim wurde 1848 “(...) unter Kantor Nix beim Großherzog vorstellig und verlangt Arbeit für ihre Arbeitslosen, eine gerechtere Bonitierung des Grundbesitzes, Verminderung des stehenden Heeres, der Steuer und Erbzinsen (...).” Daraufhin wurde “die Jagd gerechtsam freigegeben. Der Jagdschein kostet 5 236 Marschall/Marschall o.J., S.15 237 “Wahl eines deutschen Volksparlaments, öffentliches und mündliches Gerichtsverfahren, Schwurgerichte, Pressefreiheit, freies Versammlungs- und Petitionsrecht, Verringerung des Militärs, dafür allgemeine Volksbewaffnung, Vereidigung der Beamten und des Militärs auf die Verfassung. (...) in vielerlei Abstufungen (tauchte) alles auf, was sonst noch fehlte oder verbessert werden sollte: Konstitutionelle Landesverfassung, öffentliche Landtagsverhandlungen, Vereinfachung der Landesverwaltung, Regulierung des Eigentums an den Domänen (Kammergütern) und Dominialforsten zugunsten des Staates (Landschaftsvermögen), Zivilliste für das regierende Fürstenhaus, öffentliche Stadtratssitzungen, erweiterte kommunale Selbstverwaltung, Aufhebung des Salzregals.” (Facius 1978, S.54) 238 Facius 1978, S.55 239 Ebd., S.56f 240 Ebd., S.57f 97 Silbergroschen. Tag für Tag, auch sonntags, geht man auf die Jagd bis eine bessere Regelung der Verhältnisse eintritt.”241 Auch in der Folgezeit regte sich Widerstand in der Rhön. Die Entwicklungen im gesellschaftlichen Feld veränderten die Handlungsspielräume im Untersuchungsgebiet dahingehend, daß sich im Gewerbe die Erwerbsmöglichkeiten rückläufig entwickelten und insbesondere durch Spezialisierungen erhalten blieben. Wie in der Landwirtschaft, waren auch hier Umstellungen gefordert. Von der Landwirtschaft wurden vor allem Ertragssteigerungen erwartet. Modernisierungsmaßnahmen sollten die Handlungsspielräume in diesem Bereich erweitern. Das gelang nur zögernd. Als ein ´Reformhindernis´ geriet dabei zunehmend die Widerständigkeit und Beharrlichkeit der bäuerlichen Bevölkerung in den Blick. Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts wies Riehl auf den sogenannten Traditionalismus der Bauern als eine Ursache mangelnder landwirtschaftlicher Modernisierung und Erfolge. Ihren "Conservatismus" machte er unter anderem im "ganz mittelalterlich" betriebenen, am Prinzip der Nahrung orientierten, Ackerbau fest. "Sie sollten die raffiniertesten, die rationellsten Landwirte seyn, denn die Natur schenkt ihnen nichts, und sind doch meist die verstocktesten ökonomischen Reaktionäre (...) Darum bleiben sie bei allem Fleiß, bei aller Entsagung doch immer im alten Elend stecken."242 Dieser Blickrichtung hat Hohmann in seiner Untersuchung eine Perspektive entgegengesetzt, die zwar Beharrlichkeit, aber nicht die Rückständigkeit der Rhöner bestätigt, sondern umgekehrt problematisiert, daß die Politik die Eigenheiten und Besonderheiten der Bewohner und ihrer Lebensführung häufig nicht ernst nahm.243 Daß Gemeinden und bäuerliche Bevölkerung in der Rhön auf bestimmte Veränderungen skeptisch reagierten, mußte nicht bedeuten, daß sie sich gegenüber Neuerungen grundsätzlich verschlossen zeigten. Die Gegenbeispiele bringen aber den Zusammenhang zwischen veränderten Praktiken und Akzeptanz als deren Voraussetzung zum Ausdruck. So berichtet für Kaltensundheim die Kirchenchronik, daß “neue Einrichtungen und Anordnungen, Wegebau u. dergl. (...) geneigte Aufnahme finden, sobald sie (die Sundheimer, A. L.-V.) den Vortheil für sich eingesehen haben (...).” Die Kaltensundheimer werden einerseits als “(...) sehr fleißige, muntere und ruhige Menschen” beschrieben. “Da wo nur einiger Gewinn lockt, scheuen sie keine Anstrengung und Mühe, so groß und schwer sie auch sein mag.” Andererseits setzten sie Bevormundungen und mit Einschränkungen verbundenen 241 Marschall/Marschall o.J., S.15 242 Riehl 1854, S.217 243 Vgl. Hohmann 1992, S.52ff 98 Neuerungen offenbar auch Widerstand entgegen. “Aber sie sind auch heftigen, nicht selten schnell aufbrausenden und wilden Charakters, besonders, wenn sie sich gedrückt, in ihrer Ehre angegriffen oder in irgendeiner Noth sehen.” Über die Haltung der Kaltensundheimer “gegen die Obrigkeit” führt die Kirchenchronik dann im weiteren entsprechendes an: “Glauben sie sich jedoch in ihren Rechten gekränkt oder gedrückt, so sind sie nicht selten hartnäckig und widerspenstig.” (...) aus heutiger Sicht (...)”, so Hohmann, “erscheint (...) nur verständlich”, daß sich die Bevölkerung “(...) gegen Nachteile und Bevormundung zur Wehr setzte.”244 Dies geschah beispielsweise in Zusammenhang mit den Aufforstungsmaßnahmen in der Rhön während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.245 Mit diesem Vorhaben sollten kaum ergiebige Flächen zum Schutz vor widrigen klimatischen Einflüssen genutzt werden. Dagegen regte sich bei den Gemeinden unter anderem deshalb Widerstand, weil ihnen diese Flächen zur Hutung dienten.246 Es gab zwar auch Politiker, die für daraus resultierende Klagen der Bevölkerung Verständnis zeigten.247 Die Rhön und vor allem ihre bäuerlichen Bewohner gerieten aber dennoch seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend in die Kritik. “Fast hat es den Anschein, daß nach der endgültigen Herausbildung des Deutschen Reiches als Nationalstaat und der rasanten Industrialisierung vieler Zentren ein gewisser Unwillen darüber entstand, daß es noch immer ´rückständige´ Regionen gebe, in denen der ´Fortschritt´ bislang ausgeblieben war.”248 Bis in die Zeit des Nationalsozialismus im 20. Jahrhundert verschärfte sich dieser Unmut systematisch.249 Bereits in den 1850er Jahren hatte es, im Sinne eines “´Kulturzwangs´” die Forderung gegeben, auf gesetzlicher Grundlage gesteigerte landwirtschaftliche Erträge ein- 244 Ebd., S.57 245 Vgl. ebd., S.56ff. Hohmann bezieht sich hier auf Teile der Hohen Rhön, die bis 1866 bayerisch waren und nach dem Krieg an Preußen gingen. 246 Vgl. Hohmann 1992, S.56 247 Vgl. ebd., S.57 248 Hohmann 1993, S.56 249 “Selbstverständlich unterscheiden sich die Ideen des vorigen Jahrhunderts von denen, die im NS-Staat entwickelt wurden, in einigen wesentlichen Punkten. Man könnte sagen, der Dr. HellmutPlan stellte eine radikalisierte, biologistisch legitimierte und mit den Mitteln des autoritären Führerstaates durchgeführte Variante jener Ideen und Zielsetzungen dar, die offenbar bereits im vorigen Jahrhundert diskutiert wurden. In beiden Fällen erscheint der typische Rhönbauer als unfähig, sich der jeweils als unumgänglich geschilderten Fortschrittlichkeit anzuschließen; ´indolent´, wie er nun einmal sei, müsse er durch staatliche Verfügungsgewalt dazu gebracht werden, sich den eigenen Wohlstand zu erarbeiten. Dabei wird niemals berücksichtigt, unter welchen Lebensbedingungen die bäuerliche Bevölkerung damals Landwirtschaft betreibt und andere Rhönbewohner in den vorwiegenden Industriezweigen des holzverarbeitenden Gewerbes und der Fabrikation von Garnen und Stoffen ihr Auskommen findet.” (Hohmann 1993, S.55). Dr. Otto Hellmuth entwickelte in den 1930er Jahren als unterfränkischer Gauleiter einen “´Rhönaufbauplan´”. (Vgl. ebd., S.81ff) 99 zuklagen und auf diese Weise die Rhöner eines Besseren zu belehren.250 Auch wenn es Stimmen gab, die “(...) entschieden dem Vorwurf” widersprachen, “der Rhöner sei ´unfleißig, träg und apathisch, durch sein Elend abgestumpft´” 251, prägten die mit der Kritik verbundenen Zuschreibungen dauerhaft das Bild von “´Indolenz´” und Unproduktivität “´(...) in dem ganzen Volksschlage (...).´”252 Dessen Armut galt schließlich nicht durch widrige Lebensumstände und natürliche Gegebenheiten der Region verursacht, sondern als selbstverschuldet.253 Die Auseinandersetzungen weisen nicht nur auf Konflikte um die agrarische Entwicklung in der Rhön seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Sie deuten auch auf einen Gegensatz zwischer ländlicher Gemeinde und Obrigkeit, der bei von Friedeburg zu einem Beleg dafür wird, daß sich der soziale Wandel auf dem Land während dieser Zeit in Grenzen hielt.254 “Zwei zentrale Thesen” seiner Untersuchung über Gemeindeprotest im Gebiet des Oberrheinischen und Fränkischen Rechtskreises sind, “(...) daß erst der Gegensatz von Landgemeinde und Obrigkeit den Gemeinden ihre Handlungsfähigkeit zur gemeinsamen Aktion gab und daß die industrielle Revolution und die Reformen des 19. Jahrhunderts diesen Gegensatz nicht verschwinden ließen.”255 In ihrer Beziehung zur Herrschaft festigte sich, über soziale Unterschiede hinweg, eine gemeinsame Haltung der Dorfbewohner, die ihre Voraussetzungen noch Ende des 19. Jahrhunderts überdauerte und “(...) tatsächlich zu einem Teil der ländlichen Mentalität geworden war (...).”256 Wilhelm Heinrich Riehl, der am Beispiel der Bauern im Untersuchungsgebiet einerseits vertane Chancen infolge mangelnder Bereitschaft zur Umstellung beklagte, brachte in seinen Beobachtungen zum Gewerbe andererseits zugleich auch die ´objektiven Grenzen´ zum Ausdruck, auf die individuelles Bemühen stieß. Riehl sah hier den "in diesen Gebirgen (...) merkwürdigen Widerspruch, daß die Leute oft 250 Vgl. ebd., S.53f 251 Ebd., S.56. Hohmann zitiert hier die 1892 erschienene zweite Auflage des “Rhönspiegel” von Leopold Höhl. 252 Ebd., S.53. Hohmann zitiert hier den 1859 in der Würzburger “Gemeinnützigen Wochenschrift” erschienenen Aufsatz “Über die wirtschaftlichen Zustände in den Rhöngegenden”. 253 Vgl. ebd., z.B. S.54 254 Vgl. von Friedeburg 1997 255 Ebd., S.284 256 Ebd. Die innergemeindlichen Konfliktlinien werden bei von Friedeburg ausdrücklich betont. Übereinstimmungen zwischen den sozialen Gruppen sieht er nur in zweifacher Hinsicht: “Der einzige Bereich, in dem Bauern und Landarme allgemeinere Überzeugungen und Werte teilten, die sich nicht allein aus der Abwehr gegen die Obrigkeit schöpften, waren die Gebote des für alle verbindlichen christlichen Glaubens.” (Ebd., S.287) 100 einen unbestreitbaren inneren Beruf zur Gewerbsthätigkeit haben, während ihnen die Lage des Landes ihre industriellen Talente, ihren Eifer zum Fluch werden läßt (...)."257 Eine "große Geschicklichkeit für Handarbeit" stellte Gau auch Ende der 1880er Jahre im Eisenacher Oberland fest.258 Er hielt, “bei der geringen Wohlhabenheit und bei dem Mangel anderer ausreichender Beschäftigungsmöglichkeiten (...) die Hausindustrie und deren thunlichste Förderung (...)” für “(...) eine Lebensfrage für den Bezirk.”259 Mit der Industrialisierung wurden Qualifikation und Flexibilität der Heimarbeiter zunehmend bedeutsam. Die Weberei hatte sich nicht zuletzt durch Umstellung auf andere Gewebearten überlebensfähig halten können. Für “die Arbeiter” bedeutete dies langfristig die Herausforderung, sich “bei Schwankungen in der Industrie” und “bei Einführung neuer Artikel, durch welche die bisher gearbeiteten ganz oder teilweise verdrängt werden,” auf deren Herstellung “thunlichst rasch” umzustellen.260 Wie in der Landwirtschaft, war auch hier die Frage, inwieweit dies durch individuelle Selbsthilfe oder staatliche Förderung zu gewährleisten war.261 Gau, der vor allem die Anforderungen an den Staat in den Blick rückte, stärker in entsprechende Fachschulen zu investieren262, stellte in den 1880er Jahre in dieser Hinsicht noch erhebliche Defizite fest: “In Beziehung auf die Ausbildung der gewerblichen Arbei- 257 Riehl 1854, S.210 258 Er bezeichnete sie als "angeborene". Gau 1989 [1889], S.78. 259 Gau 1989 [1889], S.115. Die bescheidenen Voraussetzungen bringt auch sein Nachsatz zum Ausdruck: “Besser einen wenn auch geringen Verdienst oder Nebenverdienst als wirtschaftlichen Notstand!” (Ebd.) - Hess (1991) verweist darauf, daß sich das Verlagssystem in Thüringen “(...) trotz der allgemeinen Konzentration der Produktion (...) zäh behauptete.” (S.325) Auf das Textilgewerbe geht er in diesem Zusammenhang allerdings nicht ein. Bestimmend sei “die Hausindustrie” langfristig vor allem “(...) in der Spielzeug-, Wirkwaren-, Korbwaren- und auch in Teilen der Glasindustrie” gewesen. “In der hausgewerblichen Betätigung lag Thüringen auch nach der Jahrhundertwende weit über dem Reichsdurchschnitt. Sachsen-Meiningen und die Herzogtümer Coburg und Gotha hielten überhaupt die Spitze unter den deutschen Staaten. Dabei zeigte eine Gegenüberstellung der Gewerbezählungen von 1895 und 1907 eher eine Zu- als Abnahme der Hausindustrie (...).” (Ebd.) In Sachsen-Meiningen war die Hausindustrie vor allem in der Gegend um Sonneberg (Spielwarenherstellung ) stark vertreten. In Sachsen-Weimar-Eisenach gab es 1895 2.350 hausgewerbliche Betriebe mit 4.024 Beschäftigten (6,8% der im Gewerbe insgesamt Beschäftigten). 1907 waren es 2.557 Betrieb mit 5.049 Personen (5,5% der im Gewerbe insgesamt Beschäftigten). (Vgl. ebd.) 260 Vgl. Gau 1989 [1889], S.88 261 Zur Diskussion in der Landwirtschaft vgl. Hohmann 1992, S.52ff 262 In der bei Gau zitierten, “von sehr sachverständiger Seite” formulierten, Gegenposition heißt es unter anderem: “Die persönliche Anlage des einzelnen Arbeiters bedingt Selbsthülfe; Staatshülfe, selbst wenn möglich, würde doch nur schablonisierend eintreten können und einseitig gedrillte Arbeiter schaffen, mit denen die jeden Tag, ja jede Stunde Neues schaffende Industrie sehr bald nichts mehr anfangen könnte. Nur wenn der Arbeiter aus sich heraus sich weiter bildet und namentlich nicht heute Konditorlehrling, morgen Kellnergehülfe und übermorgen selbständiger Weber wird, wie wir den Fall selbst erlebt haben, ist der Hand- und Hausindustrie die Möglichkeit längeren Bestandes gesichert.” (Gau 1989 [1889], S.88) 101 ter im allgemeinen ist zu erwähnen, daß überall im Großherzogtum obligatorische Fortbildungsschulen bestehen, welche von den Lehrlingen zwei Jahre lang zu besuchen sind. Für die eigentliche fachliche Ausbildung der Weber wird jedoch unseres Wissens nur in Ostheim und Lengsfeld etwas gethan.”263 Die Gewerbetreibenden wurden in den Untersuchungen nicht als rück- oder widerständig klassifiziert. Daß sie sich auf veränderte Anforderungen eventuell eher umstellen konnten als die Bauern, ist aufgrund der verschiedenartigen Voraussetzungen und Erfahrungen im Erwerbsleben der beiden Gruppen denkbar. Der Ertrag des Bauern war, besonders in der Untersuchungsregion, von Witterungsverhältnissen und Bedingungen abhängig, die von ihm nicht zu beeinflussen waren. Hingegen entstanden die Produkte der Handwerker und Gewerbetreibenden, abgesehen von der Qualität der zu verarbeitenden Rohstoffe, ausschließlich unter Wirkung ihrer individuellen Leistung und Fertigkeit. Das Verhältnis von geforderter Leistung und geleisteter, symbolischer wie materieller, Anerkennung allerdings war gering. Dafür sprechen Diskreditierungen vor allem der Bauern und geringe Löhne der handwerklich-gewerblich Tätigen und der Tagelöhner in der Region. Dabei ist, zumindest "für das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts", für Thüringen insgesamt festzuhalten, daß "das Lohnniveau (...) beträchtlich unter dem deutschen Durchschnitt (lag). Die thüringische Industrie war vorwiegend arbeitsorientiert und kaum standortbedingt. Für den kapitalistischen Unternehmer standen also in Thüringen billige Arbeitskräfte bereit.” Daß im Eisenacher Oberland die "billigen Arbeitslöhne"264 der Hausindustriellen in dieser Zeit, abgesehen vom jeweils betriebenen Gewerbe, auch mit der Lage des Ortes variierten, belegt die Untersuchung von Gau.265 Ähnlich fiel der Verdienst der Tagelöhner in den nördlicheren, den Städten näher gelegenen, Teilen des Eisenacher Oberlandes höher aus als im abgelegenen Süden der Region.266 Revolution, Reformen und industrielle Entwicklung brachten der Region im 19. Jahrhundert zahlreiche Veränderungen, aber keinen grundlegenden Wandel. 263 Ebd., S.84. Vgl. auch ebd., S.88 und zu den in Ostheim und Lengsfeld errichteten Fachschulen ausführlicher S.85. Zum Fortbildungsunterricht führte Gau weiter aus, daß er “nach dem Volksschulgesetz (...) wenigstens im Winterhalbjahr und zwar wöchentlich in 4 Stunden erteilt werden (muß). Eine Vermehrung der wöchentlichen Unterrichtsstunden ist nur bis zu 6 gestattet (...).” (Ebd., S.84) Vgl. auch Frankenstein (1892): “Der Besuch von Fortbildungsunterricht, der meist an Werktagen abends erteilt wird, ist für Knaben bis zum 16. Lebensjahr obligatorisch.” (S.92) 264 Gau 1989 [1889], S.78 265 Vgl. Gau 1989 [1889] und Abschnitt 1.3.4.1. in diesem Kapitel 266 Vgl. Frankenstein 1892 102 Darauf, daß die Industrialisierung keine völlige Neuordnung der langfristig entstandenen sozialen und Erbwerbsstrukturen in den ländlichen Gemeinden erforderte, verweist auch von Friedeburg. Für die seit dem 17. Jahrhundert ausdifferenzierten Unterschichten waren “Wander- und Pendelarbeit und gewerblicher Verdienst (...) keine neuen Formen der Beschäftigung (...).” Von daher “(...) führte auch die industrielle Revolution zu keinem so schroffen Bruch mit den bereits vorhandenen dörflichen Normen und Machtverhältnissen, wie bis heute häufig angenommen.” Im Eisenacher Oberland behielt das Handlungsfeld, in dem zwar Umstellungen und Spezialisierungen verlangt waren, mit Ackerbau und Gewerbe seinen traditierten Existenzrahmen. Daß diese Umstellungen vor allem im Generationenwechsel vollzogen wurden, zeigt sich am Beispiel der kaltensundheimer Weber.267 Im Untersuchungsgebiet überdauerten für die allgemeinen Lebensverhältnisse zentrale Voraussetzungen, unter denen sich die Gegend im Prozeß der Industrialisierung zunehmend zu einer Randregion entwickelte. In der Konsequenz, so Hess, "(führten) in der weimarischen Vorderrhön (...) der vom Kapitalismus hervorgerufene Untergang der heimischen Gewerbe und die ungünstige Bodenbeschaffenheit zur Verelendung der Bevölkerung und zu einem unverhüllten Pauperismus mit allen sozialen Nöten (...). Erst am Ende des Jahrhunderts drang, angelockt durch die billige Arbeitskraft und zum Teil durch staatliche Förderung gelenkt, allmählich auch hier die Industrie ein."268 Neue Handlungsspielräume eröffneten sich hier nur langsam. Fortschritte und Modernisierungen, die es gleichwohl gab, hielten entsprechend verzögerten Einzug. Die Eisenbahn, deren "Streckenführung (...) über den Aufstieg und Niedergang mancher Kleinstadt und über die wirtschaftliche Entwicklung ganzer Landstriche (entschied)"269, kam 1880 verhältnismäßig spät zum Einsatz. Teile der Vorderrhön waren noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts "verkehrsmäßig zu erschließen."270 Die Elektrifizierung, die in Thüringen Anfang der 1890er Jahre begann, erreichte um die Jahrhundertwende zahlreiche kleinere Städte und dehnte sich durch die Überlandwerke seit 1910 auch auf dem Land aus. 1914 waren die Städte und zur Hälfte 267 Vgl. die Abschnitte 1.3.1. und 1.3.2. in diesem Kapitel 268 Hess 1991, S.98. 1898 wertete Scobel “(...) die ziemlich lebhafte Auswanderung der Bevölkerung” als “ein Zeichen von wirtschaftlicher Schwäche” im Eisenacher Oberland. (Scobel 1898, S.144) 269 Hess 1991, S.115 270 Ebd., S.333. Die erste Eisenbahn fuhr in Thüringen 1842; sie verband Leipzig und Nürnberg. (Vgl. Facius 1978, S.48) Zwischen Nürnberg und Fürth war 1835 die erste Eisenbahn in Deutschland gefahren. 103 auch die Landgemeinden elektrifiziert.271 In Kaltensundheim wurden die Petroleumund Karbidlampen "erst 1920" durch die Stromversorgung abgelöst.272 Kaltensundheim 1936 (Foto: Reinhold Spiegel) In Hinsicht auf die allgemeinen Lebensverhältnisse ist für die Untersuchungsregion einerseits festzuhalten, daß, ungeachtet der sozialen Differenzierung273, die Notwendigkeit zur Sicherung des Lebensunterhalts auch am Ende des 19. Jahrhunderts vielfach noch im Vordergrund stand. Auf der anderen Seite ist zu berücksichtigen, daß andernorts, im Umland274 und in der Stadt, häufig gleichfalls unzumutbare Lebensbedingungen herrschten. Diese Relativierung verbesserte zwar nicht die 271 Vgl. Hess 1991, S.311ff. Schon früh, 1891, wurde Eisenach elektrifiert. (Vgl. ebd., S.312) 272 Vgl. Marschall/Marschall o.J., S.165 273 Zur sozialen Differenzierung der ländlichen Gesellschaft und innerhalb der Unterschichten vgl. die anschließende Bearbeitung der Familiengeschichte. 274 Innerhalb der näheren Umgebung stand Kaltensundheim, nach Kaltennordheim immerhin die zweitgrößte unter den benachbarten Gemeinden, in der Entwicklung der Lebensverhältnisse nicht zurück. Mit der um die Wende zum 20. Jahrhundert gelegten Wasserleitung bewegte sich der Ort hier beispielsweise auch in führender Position. (Vgl. Marschall/Marschall o.J., S.165) Auch waren die im Gewerbe gezahlten Löhne in abgelegeneren Gemeinden wie Frankenheim und Birx noch geringer. 104 faktische Lage der Kaltensundheimer, ist aber bedeutsam im Blick auf ihre Handlungsstrategien und die zur Verfügung stehenden Alternativen. Im Feld des Möglichen lag die Entscheidung, den Heimatort zu verlassen. Sie war im wesentlichen keine, “an die sich eine irgendwelche Förderung des kapitalistischen Geistes anknüpft (...).”275 Anlaß zur Abwanderung gaben vor allem die notdürftigen Verhältnisse bei gleichzeitig unsicheren Zukunftsperspektiven vor Ort. Die Flucht daraus blieb aber eine riskante Strategie. Immerhin verfügten in den Landgemeinden von Sachsen-Weimar-Eisenach während der 1860er Jahre noch etwa 86% der Familien über Grundbesitz, während es in den Städten nur gut 43% waren. 276 Auch Ende des 19. Jahrhunderts herrschten in der Stadt noch problematische Lebensverhältnisse. Im Vergleich dazu bezeichnete Gau beispielsweise die Gesundheitsverhältnisse der Hausindustriellen im Eisenacher Oberland am Ende der 1880er Jahre “im ganzen als normal”. Einerseits war ihre Ernährung zwar so “mangel- und fehlerhaft”, daß Gau "zur Beseitigung dieser Mißstände (...) die möglichst billige Beschaffung eiweißhaltiger Nahrung, Hülsenfrüchte u. Fleisch, ferner eine bessere Belehrung über den Wert der einzelnen Nahrungsmittel in den oberen Klassen der Volksschulen - Kochschulen -, die Errichtung von Pferdeschlächtereien in den ärmsten Orten des Bezirks sowie eine entsprechende Fleischbeschau (...)" empfahl.277 Und ebenfalls liessen die “sehr dürftig(en)” Wohnverhältnisse der Hausindustriellen "manches zu wünschen übrig"278, wie in der thüringischen Rhön insgesamt auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch entsprechend "ungünstige Verhältnisse (...) anzutreffen" waren.279 Andererseits aber waren die Wohnverhältnisse der Arbeiter in den Städten häufig nicht weniger unzumutbar, sondern eher noch unzulänglicher als die der 'kleinen Leute' auf dem Land. In den Ballungsgebieten erreichte die Wohnungsnot nach 1870 besondere Ausmaße.280 Entsprechend fiel Ende der 1880er Jahre auch der abschließende Vergleich von Gau aus: “Auch können wir uns der Ansicht nicht verschließen, daß die äußeren Verhältnisse der meisten Hausindustriellen (...) mindestens nicht schlechtere sind als die äußeren Lebensbedingungen, unter denen die in den großen Städten in düsteren ungesunden Arbeitervierteln wohnenden Fabrikarbeiter und deren Familien vielfach existieren 275 Sombart 1987 [1913], S.381 276 Vgl. ebd., S.142 277 Gau 1989 [1889], S.113. Vgl. auch Frankenstein 1893, S.39 278 Gau 1989 [1889], S.112 279 Hess 1991, S.364 280 Allgemein wurde in den thüringischen Industriestädten zu Beginn des 20. Jahrhunderts "über hohe Mieten für ärmere Familien mit großer Kinderzahl geklagt." Ebd., S.364. Vgl. insgesamt für Thüringen ebd., S.142f und S.364ff 105 müssen.”281 Gegenüber diesen Aussichten konnte die Entscheidung, innerhalb der Region das Beste aus dem Leben zu machen, auch ein realistisches Arrangement bedeuten. Für Handlungs- und Bewältigungsstrategien waren Erfahrungen der Vergangenheit und Zukunftsperspektiven, beide zusammen, bedeutsam. Diejenigen, die ihre Heimat nicht verliessen, wiesen durch den erfahrenen Gegensatz von Gemeinde und Obrigkeit, durch die Erfahrung regional bedingter Mängel und Erschwernisse sowie durch die Unsicherheit über künftige Lebenschancen in der Region durchaus Gemeinsamkeiten in Haltung und Praxis auf. Diese Verbundenheit äußerte sich im Widerstand gegen Herrschaft und in der im allgemeinen anspruchslosen und bescheidenen Lebensführung. Es gab aber nicht nur das ´kollektive Schicksal´ und einheitliche Handlungsstrategien. Das ´körpereigene´ Vermögen, mangels anderer Ressourcen die hauptsächliche Überlebensgrundlage für die Mehrheit der Rhönbewohner, scheint von den verschiedenen sozialen Gruppen beispielsweise nicht gleichermaßen mobilisiert worden zu sein. “Fleiß” und “Eifer” (Riehl) wurden vor allem den Gewerbetreibenden zugeschrieben. Für die Tagelöhner im Eisenacher Oberland stellte Gau hingegen während der 1880er Jahre fest: “Leider giebt es jedoch eine große Anzahl Arbeiter, welche sich nie mit Ernst der landwirthschaftlichen Arbeiten angenommen, aber auch kein Handwerk ordentlich erlernt haben. Sie arbeiten nur ungern, nicht gut und nur dann, wenn der Sonntags zuvor ausgezahlte Lohn zu Ende gegangen ist.”282 Die verschiedenen sozialen Gruppen knüpften demnach auch während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an tradierte Praktiken und Prinzipien der Lebensführung. Die gruppenspezifischen Unterschiede im Habitus, auf die die Untersuchungen deuten, waren nicht neu entstanden, sondern Resultat dauerhafter und längst inkorporierter Erfahrungen vergangener Lebenschancen und Handlungsspielräume. Das bestätigt sich auch in der Familie von Richard Schmidt. Die Kontinuität der Praxis, die sich abzeichnet, war allerdings nicht in jedem Fall ungebrochen: Verstärkte Aufmerksamkeit fanden in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts diejenigen Praktiken, die einen sogenannten Sittenverfall symbolisierten und die sich scheinbar mehrten. Obwohl die “Bevölkerung der Rhöndistricte im Allgemeinen 281 Gau 1989 [1889], S.115 282 Gau 1883, S.27 106 arbeitsam, sparsam und gutwillig ist (...)”, stellte beispielsweise Gau zu Beginn der 1880er Jahre einen Rückgang der wirtschaftlichen Verhältnisse vor allem in den Orten des Eisenacher Oberlandes fest, in denen ihm der “sittliche Niedergang” und “Branntweingenuß” besonders ausgeprägt schien.283 ´Sittlichen Niedergang´ brachten dabei unter anderem “(...) die oftmals viel zu früh geschlossenen Ehen ohne jeden Nachweis eines einigermaßen ausreichenden Existenzmittels, ja oftmals ohne den nothwendigsten Hausrath” in Verbindung mit einem “großen Kinderreichthum” zum Ausdruck.284 Entsprechende Verhältnisse zählte Gau mit zu den “Hauptursachen”285 wirtschaftlichen Rückgangs, sah aber zumindest den ´Branntweingenuß´ auch als Folge vorherrschender Lebensverhältnisse: “So kommt die Bevölkerung leicht zum Genusse des Alkohols, welcher meist in der schlechtesten Beschaffenheit des Kartoffelfusels konsumiert wird und die Würze bildet, welche das Deficit der Ernährung verdecken muß.”286 Ähnlich deutet Hess die Entwicklung der Lebensverhältnisse im übrigen Thüringen. Im Zusammenhang mit “Not und Elend” der Arbeiter spricht er von einem “erschreckenden Tiefstand”, den gegen Ende des Jahrhunderts “auch die Sittlichkeit im engeren Sinne in den Industrieorten (erreichte). (...) Folgt man den Berichten der Gewerbeinspektoren in den beiden letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, so bestimmten weithin ´Verbitterung und Verdrossenheit´ das Leben der Arbeiterklasse. Sie führten zu einem Leben für den Augenblick, zu Sinnlosigkeiten und Alkoholismus und zu einem oft erschreckenden Niedergang im persönlichen und sittlichen Verhalten.”287 In der Deutung der Beobachtungen ist zu berücksichtigen, daß ´Sittenverfall´ einen bestimmten gesellschaftlichen Standpunkt impliziert, von dem aus die Praktiken der Unterschichten hier bewertet wurden. Kritik an deren, in Beziehung zu herrschenden Vorstellungen von Moral und Vernunft, unangepaßten Verhalten gab es auch 283 Gau 1883, S.38. Extremen wirtschaftlichen Niedergang stellte Gau nur in wenigen Gemeinden im Eisenacher Oberland fest. Die von ihm angeführten Orte waren Frankenheim im Amtsgerichtsbezirk Kaltennordheim und Wiesenthal im Bezirk Lengsfeld. Übermäßige Alkoholkonsumenten waren demnach in Wiesenthal die Bauern: “Nach den eingezogenen Erkundigungen ist z.B. Wiesenthal, trotz seiner großen Armuth, der einzige Ort des Gerichtsbezirks Lengsfeld, in welchem die dort nicht sehr großen Bauern den Schnaps in Fässern und fast immer auf Credit kaufen. Nach Ablauf der Zahlungsfrist wird der Kaufpreis im Proceßweg beigetrieben und es ist uns bekannt, daß von einer einzigen den Branntwein liefernden Firma auf einmal 20 Zahlungsbefehle auf je ein Faß Branntwein gegen dortige Einwohner beantragt worden sind.” (Ebd., S.39) 284 Ebd., S.39. Ähnlich hatte sich auch bereits Riehl (1854) geäußert. 285 Gau 1883, S.36 286 Gau 1989 [1889], S.113 287 Hess 1991, S.146 107 zuvor. Für Kaltensundheim ist sie auch für das 17. Jahrhundert belegt.288 Zu berücksichtigen sind ebenfalls Unterschiede in den sozialen Gruppen. Gau deutete dazu für das Eisenacher Oberland an, daß “(...) in einzelnen Orten insbesondere von der Arbeiterbevölkerung viel Branntwein getrunken (wird).”289 Bei den Hausindustriellen bezeichnete er am Ende der 1880er Jahre hingegen die “Moralitätsverhältnisse” als “keine ungünstigen. Uneheliche Geburten sind selten, auch hat - von einzelnen Ausnahmen abgesehen - die Trunksucht sehr nachgelassen.”290 Trotz Einschränkungen, die aufgrund der jeweiligen Standpunkte zu machen sind, sprechen die angeführten Beobachtungen aber doch für Zuspitzungen, die in entsprechenden Zahlen und Statistiken bestätigt werden: Am Ende des 19. Jahrhunderts standen die thüringischen Staaten nicht nur “(...) in der Kriminalstatistik (...) im allgemeinen über dem deutschen Durchschnitt.” 291 Auch “die Selbstmordziffer (war) in Thüringen besonders hoch (...) und (wurde) in Deutschland nur durch Sachsen übertroffen (...).”292 Dauerhafte Prekarität und materielle Nöte in Verbindung mit mangelhaften Zukunftsperspektiven führten langfristig zu resignativen oder anomischen Tendenzen. Auch im Untersuchungsgebiet wurden die Handlungsspielräume der unterprivilegierten sozialen Gruppen durch die Veränderungen in den Erwerbsstrukturen zunehmend begrenzt. In der allgemein “gedrückten Lage” sah Thüngen-Roßbach 1883 “die Arbeitskraft und körperliche Frische (...) bedroht und in den ärmsten und wenigst fruchtbaren Orten bereits Schwinden.” 293 Die Bevölkerung der Region galt, ungeachtet der Unterschiede in den sozialen Gruppen, als im allgemeinen bescheiden und anspruchslos. Diese Haltung konnte auch ihr entsprechende Soziallagen überdauern. So beobachtete Gau bei den Hausindustriellen eine “(...) Bedürfnislosigkeit, welche oft nur den Eindruck übergroßer Armut macht (...).”294 Mit Durkheim liesse sich vermuten, daß Krisen hier zunächst eher in Form eines Arrangements als durch Anomie bewältigt wurden: “Wenn er (der Mensch, A. L.-V.) gewohnt ist, sich zurückzuhalten und sich zu bescheiden, dann wird es ihm verhält- 288 Vgl. Abschnitt 2.3. in diesem Kapitel 289 Gau 1883, S.58 290 Gau 1989 [1889], S.114 291 Hess 1991, S.146. “Diebstahl, Körperverletzung, aber auch Beleidigung, Hausfriedensbruch und Widerstand gegen die Staatsgewalt nahmen einen breiten Raum ein.” (Ebd.) 292 Als eine Ursache nennt Hess “die allgemeinen wirtschaftlichen Verhältnisse (...).” Ebd., S.142. Vgl. auch ebd. S.358f 293 Thüngen-Roßbach 1883, S.179 294 Gau 1989 [1889], S.115 108 nismäßig leicht werden, sich noch etwas mehr Beschränkung aufzuerlegen.”295 Daß Krisenverarbeitungen an Erfahrungen und Haltungen der Vergangenheit anknüpfen, belegen auch empirische Studien aus dem 20. Jahrhundert.296 Die MarienthalStudie weist dabei ebenfalls auf die Bedeutung dauerhafter Krisen und Perspektivmängel für die “Widerstandskraft” der Menschen: “Zwar haben wir verschiedene Haltungstypen unterschieden: eine aktivere, zuversichtlichere als die charakteristische Gruppe der Resignierten, zwei andere darüber hinaus gebrochen und hoffnungslos. Aber jetzt zum Schluß haben wir erkannt, daß hier vermutlich nur verschiedene Stadien eines psychischen Abgleitens vorliegen, das der Reduktion der Zuschüsse und der Abnutzung des Inventars parallel geht. Am Ende dieser Reihe stehen Verzweiflung und Verfall.”297 In der an diesen Zusammenhang anschließenden Frage nach dem Verhältnis von Zeit und Habitus gehen die Meinungen auseinander.298 Ob und inwieweit in der konkreten Untersuchungsregion mit andauernder Prekarität und Begrenzung von Handlungsspielräumen auch Veränderungen im Habitus einhergingen, ist offen. Resignation und ´unangepaßtes´ Verhalten deuten zunächst nur auf veränderte Praktiken, wobei im Einzelfall noch zu fragen wäre, inwieweit es sich tatsächlich um neue oder um Variationen typischer Verhaltensmuster der Vergangenheit handelt. Die Beobachtungen in der Untersuchungsregion während der letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts lassen sich teilweise als Ausdruck einer zunehmend angespannten Beziehung von Habitus und Feld verstehen. Das materielle Auskommen ist dabei nur ein, wenn auch zwangsläufig bedeutsamer, Aspekt. Für die Bewohner des Eisenacher Oberlandes standen unter sich verändernden Handlungsmöglichkeiten auch tradierte Gewohnheiten, eigene Handlungsziele und strategien zur Disposition. Daß sie auf Dauer mit dem gesellschaftlichen Feld und seinen Handlungsspielräumen nicht vereinbar waren, führte dazu, daß vorangegangene Arrangements zwischen eigenen Zielen und vorhandenen Möglichkeiten, letztlich auch Arrangements mit der Gesellschaft und ihren Normen, aufgekündigt 295 Durkheim 1983 [1897], S.293. Als durch Krisen stärker anomiegefährdet umreißt er folgenden Typus: “Wer aber immer alles von der Zukunft erwartet hat, wer sein Leben lang die Augen nur auf die Zukunft gerichtet hat, findet in seinem vergangenen Leben nichts, was ihm bei den Mißgeschikken der Gegenwart helfen könnte; denn die Vergangenheit war für ihn nichts als eine Reihe von Etappen, die mit Ungeduld durcheilt wurden. Er konnte sich ständig über sich selbst im Irrtum befinden, weil er immer hoffte, das Glück, das er noch nicht erjagt hatte, in der Zukunft zu finden. Jetzt aber ist sein Streben zu Ende. Es ist weder im Vergangenen noch im Kommenden ein fester Punkt, an den er sich halten könnte. Die Müdigkeit allein kann schon die Entzauberung bringen, denn auf die Dauer muß die Nutzlosigkeit dieser Jagd ohne Ende offenkundig werden.” (Ebd.) 296 Vgl. Abschnitt 4. in Kapitel I. 297 Jahoda/Lazarsfeld/Zeisel 1975 [1933], S.101f 298 Vgl. Kapitel I. 109 wurden. Dieser Fall trat nicht erst am Ende des 19. Jahrhunderts auf. Als Sittenverfall bewertete Erscheinungen, die analytisch auf habitusspezifische Perspektiven und auf Diskrepanzen in der Beziehung von Habitus und Feld zurückzuführen sind, gab es in den verschiedenen Herkunftslinien der kaltensundheimer Vorfahren von Richard Schmidt bereits früher. Bei einem der Angehörigen scheint die “Trunksucht” recht ausgeprägt gewesen zu sein. In anderer Linie gab es über mehrere Generationen jeweils uneheliche Kinder. Während der Alkoholismus im konkreten Fall als Ausnahme innerhalb der Herkunftslinie und eher als resignative oder anomische Tendenz im Feld möglicher Handlungsstrategien erscheint, deutet die andere Linie auf eine langfristig von herrschenden Vorstellungen abgegrenzte Lebensführung. Beide Familienlinien erwiesen sich auf unterschiedliche Weise beharrlich; in einem Fall wurde Umstellung abgelehnt, im anderen Fall gehörte sie gewissermaßen zur Alltagserfahrung. 110 2. Die Familie Grob klassifiziert, führten die direkten kaltensundheimer Vorfahren von Richard Schmidt, zumindest seit dem 18. Jahrhundert, eine unterbäuerliche Existenz. In den beiden Herkunftslinien seiner Großeltern waren vor allem zwei Berufe über Generationen tradiert: In der Familie Porz, aus der die Mutter von Mathilde Rauch stammte, überwogen die Weber. Der Vater von Mathilde Rauch kam aus einer Familie, die etwa zweihundert Jahre lang die Schmiede im Dorf gestellt hatte.299 Für das Leben der ´einfachen Menschen´ galt nach 1800 noch “(...) als Leitformel schlicht das Prinzip der ´Nahrung´ (...). Familiäres Überleben zu gewährleisten durch Sicherung der gemeinsamen Nahrungsgrundlage, durch Selbstbegrenzung der Ansprüche, durch Aufrechterhaltung der gemeinsamen Arbeitstätigkeit wie der gewohnten Formen von Erholung und Geselligkeit: Das sind die vorrangigen Ziele einer Lebensführung, die auf ´Auskommen´ und auf die Bewahrung eines festgeschriebenen sozialen Status hin orientiert ist, nicht auf ökonomischen Zugewinn oder sozialen Aufstieg.”300 Soziale Ungleichheit wurde noch als gegeben hingenommen, und die eigene Handlungsorientierung unterlag weiterhin wesentlich den Prinzipien einer “moralischen Ökonomie”.301 Bei von Hippel, der zwar ebenfalls die Wirksamkeit der “Mechanismen der ´peasant society´” betont, geraten daneben auch “die vorhandenen Konfliktpotentiale und Konflikte zwischen dörflichen Schichten und ´Klassen´” stärker in den Blick.302 Er geht davon aus, daß infolge anwachsender unterbäuerlicher Schichten bereits seit Mitte des 18. Jahrhunderts “vermehrte und verschärfte (...) Verteilungskämpfe um knappe Ressourcen, vor allem auch um die meist schlecht genutzten Landreserven der Gemeindeländereien (...)” stattfanden.303 299 Zur Erinnerung: Mathilde Rauch war die Mutter von Richard Schmidt. Zur weiteren Orientierung über die direkten kaltensundheimer Vorfahren von Richard Schmidt vgl. Überblick I auf S.113f 300 Kaschuba 1990, S.6f. 301 Vgl. zur Moralökonomie Thompson 1980; vgl. auch Kaschuba 1990, S.7f. 302 Von Hippel 1995, S.17 303 Ebd. Vgl. auch Wehler (1987), der gegen Ende des 18. Jahrhunderts sogar von einem “Zustand unaufhaltsamer Desintegration” für die Dorfgesellschaft ausgeht. (S.172). Nach Sieder (1987) “(darf) die dörfliche Gesellschaft des 18. und 19. Jahrhunderts keineswegs mehr als ´closed peasant society´ gedacht werden (...).” (S.15) Jacobeit (1988) sprechen von “notwendigerweise” verschärften Gegensätzen zwischen einerseits vollberechtigten Gemeindemitgliedern und Landarmen/Landlosen andererseits, die keine Mitsprache- und Besitzrechte hatten. Vgl. ebd., S.58 Für von Hippel (1995) gilt für die frühe Neuzeit insgesamt, daß “von einer kohärenten ´Unterschicht´, gar mit einem Mindestmaß an ´Zusammengehörigkeitsgefühl´, (...) damals angesichts einer lokal und sozial, rechtlich und mental stark segmentierten und hierarchisierten Gesellschaft nicht gesprochen werden (kann).” (S.5) 111 Die Linien der Familien Rauch und Porz, denen Richard Schmidt entstammte, gehörten im 19. Jahrhundert dieser breiten Schicht “unterhalb der ständischen Ehre”304 an, deren Binnendifferenzierung zunächst hinter den zahlreichen Gemeinsamkeiten zurückstand, die die Lebensführung dieser gesellschaftlichen Großgruppe entscheidend bestimmten: “Mangel an Möglichkeiten zur rechtlichen, politischen und wirtschaftlichen Teilhabe an der Bürgergemeinde (u.a. mittels Bürgerrecht und daraus abzuleitenden Ansprüchen an das Gemeindeeigentum und notfalls auf Gemeindehilfe), Mangel an Vermögen (vor allem hinsichtlich Haus- und Grundbesitzes als wichtigster Vermögensform in einer agrarischen Gesellschaft), Mangel an Einkommen und Ausbildung, an Selbständigkeit der wirtschaftlichen (Familien) Existenz, ein bestenfalls beschränktes Kapital an sozialer ´Ehre´, das nicht zuletzt von Herkunft und angemessenem Lebensstil abhing. Daraus ergeben sich als Merkmale der Unterschichtenexistenz: Unsicherheit der Lebenslage, Unmöglichkeit zu langfristiger Lebensplanung, die Erfahrung von eigener sozialer Unterlegenheit und von der (periodischen oder ständigen) Bedrohung, in die unterstützungsbedürftige Armut abzusinken.”305 Innerhalb der Unterschicht wirkten dann aber auch “Unterschiede im Rechtsstatus (etwa bei Gesinde oder Handwerksgesellen, hinsichtlich des Bürgerrechts innerhalb von Stadt- oder Dorfgemeinde oder im Geflecht obrigkeitlicher Herrschaftsbeziehungen), Unterschiede hinsichtlich der Verfügung über - wenngleich nur bescheidene - Produktionsmittel und Unterschiede hinsichtlich berufs- und gruppenspezifischer Lebensführung und Ehrvorstellungen auf die (...) Fragmentierung und Segmentierung (...) hin.”306 Wegen der überwiegend fließenden Übergänge waren 304 Conze 1970, S.113. Diese Schicht wurde mit dem Begriff “Pöbel”, später abgelöst durch den Begriff des “Proletariats”, erfaßt. Sie war angesiedelt “unterhalb der Vollbauern und zünftigen Handwerksmeister”, bezeichnete “gleichsam die Unterständischen, die aber doch ständisch gebändigt waren (...).” (Ebd.) Zur ständischen Ordnung und zum “fünften, untersten Stand” vgl. Kocka 1990, S.112ff. - Die Verwendung des Schichtbegriffs folgt der Argumentation von Hippels, wonach der Standesbegriff zur Differenzierung sozialer Gruppen am ´unteren Ende´ der Gesellschaft nicht ausreicht. (Vgl. von Hippel 1995, S.4f; vgl. hier auch Abschnitt 6. im I. Kapitel)- Vgl. zur historischen Analyse sozialer Ungleichheit auch gleichlautenden Abschnitt bei Wehler 1987, S.125ff. Vgl. zur Differenzierung der ländlichen Unterschichten unter anderem ebd., S.170ff, Hippel 1995, S.15ff, Sieder 1987, S.14ff, Kocka 1990, S.83ff, S.112ff. Vgl. außerdem die Problematisierung bei Meyer-Palmedo (1985), die auf semantische und inhaltliche Wandlungen des Schichtbegriffs eingeht (S.16ff) und vor allem auch die Bedeutung betont, die den verwandtschaftlichen Netzen in einem Dorf bei der Analyse sozialer Zugehörigkeiten zukommt (S.65ff, S.72ff). 305 Von Hippel 1995, S.5. Vgl. auch Kaschuba 1990, S.6ff. Vgl. insgesamt zur Analyse sozialer Lokalstruktur und der Bedeutung von Bodenbesitz auch Kaschuba/Lipp 1982, S.87ff. - Die rechtliche Lage der Unterschichten im 19. Jahrhundert und damit verbundene Konsequenzen untersucht Kraus (1981). 306 Von Hippel 1995, S.5. Vgl. auch Wehler 1987, S.174 und Kocka 1990, S.114 112 Überblick I: Direkte Vorfahren von Richard Schmidt: Ahnentafel mütterlicherseits, aus Kaltensundheim stammende Linie der Familie Casper Walter Schreiner in Wohlmuthausen Hanß Buhl * .... Kaltensundh. A 1635 Kaltensundh. Schmied 1634 –– Magdalena Walter * 1607 Wohlmuthausen A 1681 Kaltensundheim Johannes Rauch sen. * 1654 Kaltensundh. A 1705 Kaltensundh. Schmied sechs weitere Kinder 1677 – – ~ 1640 –– Conrad (Cuntz) Rauch * 1616 Kaltensundh. A 1687 Kaltensundh. Schmied/Ackerbauer Hanß Wirth * 1627 Erbenhausen A 1687 Kaltensundh. Ackerbauer Georg Greifzu * 1665 Kaltensundh. A 1735 Kaltensundh. Gerichtsschöpf Dorothea Wirth * 1656 Kaltensundh. A 1723 Kaltensundh. 1651 –– 1692 –– Anna Bauß * 1626 Kaltensundh. A 1690 Kaltensundh. Margaretha Weigand *1676 Kaltensundh. A 1749 Kaltensundh. vier weitere Kinder Hanß Rauch II 1724 Eva Greifzu * 1681 Kaltensundh. * 1704 K.-sundh. A 1759 Kaltensundh. A 1775 K.-sundh. Huf- u.Waffenschmiedemstr.  1720 Caspar Bach * 1695 Kaltensundh. A 1758 Kaltensundh. Sattler  Anna Maria Witzel * 1699 K.-sundh. A 1758 K.-sundh. Joh. Georg Porz * .... A vor 1775 Albrechts/ Suhl Barchentwebermeister  Ottilia ... * 1718 .... A 1775 K.-sundh. Joh. Friedrich Marckert * 1696 Kaltensundh. A 1759 Kaltensundh.  Regina Christ. ... * 1706 .... A 1762 K.-sundh. zwei weitere Söhne Johann Georg Rauch II * 1726 Kaltensundh. 1749 A 1796 Kaltensundh. Hufschmiedemeister  sechs weitere Kinder Anna Catharina Bach * 1727 Kaltensundh. A 1781 Kaltensundh. Joh. Georg Bach * 1721 Kaltensundh. A 1789 Kaltensundh. Leinenwebermeister 1746  Kilian Porz * ~ 1737Albrechts/Suhl A 1800 Kaltensundh. Barchentwebermeister vier weitere Kinder Anna Catharina Bauß * 1724 Kaltensundh. A 1777 Kaltensundh. 1759  Sophia Magdalena Marckert * 1735 Kaltensundh. A 1803 Kaltensundh. Joh. Georg Gernlein Maurer zu Gehaus 113 Johannes Rauch jr. * 1759 Kaltensundh. A 1832 Kaltensundh. Huf- u. Waffenschmiedemeister Joh. Valentin Opfermann * 1780 Kaltensundh. A 1846 Kaltensundh. Barchentwebermeister 1787 –– Anna Barbara Bach * 1767 Kaltensundh. A 1837 Kaltensundh. Johann Adam Rauch * 1794 Kaltensundh. A 1863 Kaltensundh. Schmied u. Ölhändler sieben weitere Kinder 1823 –– acht weitere Kinder –– Catharina Elisabetha Röll * 1781 Günters/Tann A 1854 Kaltensundh. Anna Elisabetha Opfermann * 1802 Kaltensundh. A 1864 Kaltensundh. Tobias Rauch * 1827 Kaltensundh. A 1916 Kaltensundh. Weber, Hirte (1882), Nachtwächter (1897) vier weitere Kinder 1800 1863 –– sieben weitere Kinder 1805 –– Vorfahren vgl. Überblick VII fünf weitere Kinder 1890 –– Christian Ferdinand Schmidt * 1863 Unterkatz A 1936 Eisenach Handarbeiter/Stadtarbeiter Richard Schmidt * 1890 Unterkatz A 1933 Eisenach Arbeiter/Wartburgführer Anna Maria Gernlein * 1782 Gehaus A 1853 K.-sundh. Regina Elisabetha Porz * 1811 Schwallungen A 1891 Kaltensundh. vier weitere Kinder Anna Maria Porz II * 1837 Kaltensundh. A 1917 Kaltensundh. Mathilde Rauch * 1870 Kaltensundheim A 1932 Eisenach Dienstmagd/Hausierhändlerin Joh. Christoph Porz * 1772 Kaltensundh. A 1843 Kaltensundh. Barchentwebermeister und Tagelöhner –– Vorfahren vgl. Überblick VIII, IX Emma Auguste Illert * 1890 Staßfurt A 1934 Eisenach Arbeiterin/Näherin 114 die Unterschichten aber kaum trennscharf zu unterscheiden. Selbst die Unterscheidung von Mittel- und Unterschichten war kaum eindeutig vorzunehmen.307 Zur Differenzierung des gesellschaftlichen Feldes, das hier umrissen ist, versucht die Untersuchung der kaltensundheimer Vorfahren von Richard Schmidt beizutragen. Die Schmiedefamilie Rauch und die Weberfamilie Porz waren im 19. Jahrhundert in ähnlichen sozialen Positionen, und beide waren auch abgestiegen. Dennoch lassen sich für beide Familien unterschiedliche Habitusmuster herausarbeiten. Die Differenzen erklären sich aus der Geschichte der Schmiede und der Weber, für die jeweils andere Ressourcen und Erfahrungen grundlegend waren. 2.1. Die Schmiedefamilie Rauch Die Geschichte der Schmiedefamilie Rauch läßt sich bis zum 30jährigen Krieg zurückverfolgen. Am Anfang stand der Tod von Hanß Buhl, der 1635 an der Pest starb. In seiner Chronik der kaltensundheimer Familien schreibt Reinhold Spiegel: “(...) Dem Schmied Hanß Buhl und seiner Ehefrau Ottilia wurden von 1621 bis 1633 sieben Kinder (...) geboren. Ein Sohn starb kurz nach der Geburt. Die Ehefrau starb im Dezember 1633, worauf Hanß Buhl im Februar 1634 die im Januar 1607 geborene Magdalena Walter aus Wohlmuthausen, Tochter des dortigen Schreiners Caspar Walter, heiratete. Aus dieser Ehe ist ein Sohn, Valentin, bekannt. Im Jahre 1635 starben kurz nacheinander zwei Töchter aus der ersten Ehe, der Meister Buhl selbst sowie sein vierjähriger Sohn Jörg. Die Magdalena war nun mit ihrem Sohn, zwei Stiefsöhnen und, wie anzunehmen ist, mit dem damals etwa 20jährigen Schmiedegesellen Konrad Rauch allein in der Schmiede. Dieser Konrad (Cuntz) Rauch (...) heiratete um 1640 seine um neun Jahre ältere Meisterin, und es wurde, wie uns das Seelenregister von 1667 bestätigt, eine friedliche Ehe. (...) Von diesem Ehepaar Konrad Rauch und Magdalena geb. Walter stammen die meisten aller jetzt in Kaltensundheim lebenden Rauch-Familien ab.”308 Konrad (Cuntz) Rauch wurde im Kirchenbuch der Gemeinde Kaltensundheim als Schmied und Ackerbauer angegeben. Das bewirtschaftete Land stammte allerdings nicht aus seiner Herkunftsfamilie. Cuntz Rauch kam von außerhalb, nicht aus Kaltensundheim. Sein Geburtsort und seine soziale Herkunft sind unbekannt. 307 Vgl. von Hippel 1995, S.15, für mangelnde Trennschärfe bei den Unterschichten auch Wehler 1987, S.173f und Kaschuba 1990, S.9 308 Spiegel o.J., o.S. 115 Die Schmiedefamilie Rauch betrieb eines der ältesten Dorfhandwerke.309 Im 16. Jahrhundert war die gesellschaftliche Arbeitsteilung allgemein noch vergleichsweise unentwickelt.310 Zu Lebzeiten von Cuntz Rauch war die Arbeit der Dorfschmiede, auch gegenüber dem spezialisierteren städtischen Schmiedehandwerk, ebenfalls noch verhältnismäßig wenig differenziert. “Auf dem Lande (...) blieben die Schmiede weiterhin Universalhandwerker, die sich wie die (...) Hirten auch als Heilkundige und Tierärzte (...) betätigten.”311 Ihr Handwerk umfaßte “Hufeisenverfertigung und beschlag, Eisenarbeit am Wagen (besonders am Rad), Werkzeugherstellung (Pflugschar, Axt, Hacken, Nägel), Reparaturarbeit wie Schärfen und Schleifen der Werkzeuge und Waffen.”312 Spezialisierungen wie Huf- und Waffenschmied oder Schlosser waren eher selten.313 Sie gab es in Kaltensundheim auch erst ungefähr seit der Wende zum 18. Jahrhundert. Die gesellschaftliche Arbeitsteilung war hier zuvor aber vermutlich so weit fortgeschrittten, daß Cuntz Rauch auch die, im 16. Jahrhundert im allgemeinen noch vom Bauern selbst getätigten, leichteren Schmiedearbeiten314 übernahm. Die Familie von Cuntz Rauch und Magdalena Walter betrieb Schmiede und Ackerbau zeitweilig mit Unterstützung einer zusätzlichen Hilfskraft. Dabei ist zu berücksichtigen, daß allein die Ausübung des Schmiedehandwerks zwei Arbeitskräfte erforderte.315 Die Familie beschäftige unter anderem einen Knecht, der 1647 Taufpate bei ihrem Sohn Mathäus wurde. Im kaltensundheimer Seelenregister wurde 309 Helga Schultz nennt Müller und Schmiede als älteste Dorfhandwerke. (Vgl. Schultz 1984, S.24) Skalweit vermutet, daß “(sich) auf dem Gebiete der Eisenverarbeitung (...) die sonst so stark betriebene hauswirtschaftliche Eigenerzeugung so gut wie hilflos (erwies). Das Schmieden kann daher wahrscheinlich als das älteste Dorfhandwerk angesprochen werden (...).” (Skalweit 1942, S.25) 310 Vgl. Schultz 1984, S.24 311 Pies 1997, S.132. Vgl. auch Skalweit 1942, S.25 312 Schultz 1984, S.24 313 Vgl. ebd., S.23ff. Zur Entwicklung der Schmiede vgl. auch Sombart 1987 [1916], S.50f. Sombart bezeichnet Schmiede und Stellmacher als die “beiden Urtypen des ländlichen Handwerks”. (Ebd., S.51) 314 Vgl. Schultz ebd., S.23ff 315 Vgl. Lenger 1988, S.20, Jacobeit 1988: “Grundlage für ihr Tätigsein war die einfache Arbeitsteilung, und auf wen das Sprichwort zutraf ´Ein Schmied ist kein Schmied´, der mußte wohl die Ehefrau zum Halten des glühenden Eisens auf dem Amboß oder zum Ziehen des Blasebalgs für das Anfachen eines hellen Schmiedefeuers, und was es sonst an Arbeiten für den notwendigen ´zweiten Mann´ gab, herbeirufen.” (Ebd., S.143) Aufgrund dieser spezifischen Erfordernisse wurde den Grobschmieden, die im Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach auf dem Land lebten, auch im Gesetz über die Innungen und Zünfte von 1821 die Beschäftigung von Gesellen ausdrücklich erlaubt. (Vgl. Gesetz über die Innungen und Zünfte 1821, § 16). - Lediglich Grießinger (1981) führt in seiner Untersuchung zur sozialen Lage der Schlosser und Schmiede im 18. Jahrhundert aus, daß “(...) beide Handwerke unter technischen Gesichtspunkten auch ohne Hilfskräfte durchgeführt werden können”. (S.201) 116 Land war zwar schon einmal unter dessen Kindern geteilt worden. Mit Dorothea Wirth kam aber neuer Landbesitz in die Familie. Für die beiden Söhne Hanß II und Heinrich werden in den Kirchenbüchern erstmals berufliche Spezialisierungen und der Meistertitel genannt: beiden wurden Hufschmiedemeister, Hanß II, der drei Jahre ältere Bruder, außerdem Waffenschmiedemeister.316 Zwischen den Arbeiten der Hufschmiede und der Waffenschmiede, die “als die ältesten Vertreter dieses Handwerks anzusehen sind”317, gab es teilweise Überschneidungen. Dabei fiel dem Hufschmied der weiter oben schon genannte, traditionelle Aufgabenbereich zu.318 Unter der Bezeichnung Waffenschmiede waren unter anderem Klingen- und Messerschmiede zusammengefaßt.319 Sie “(...) bezogen ihr Rohmaterial von den Eisenschmelzen und -hämmern der Förderungsgebiete. Das im ursprünglichen Zustand relativ weiche Eisen erhielt erst beim eigentlichen Schmiedevorgang das angemessene Verhältnis von Kohle- und Stickstoff und wurde dadurch zu Stahl. Unter dem Hammer auf dem Amboß wurde die Klinge geformt und erhielt durch erneutes Glühen und Hämmern immer mehr Dichte, Festigkeit und Elastizität. Der als Schwert-, Degen-, Dolch- oder Messerklinge geschmiedete Stahl wurde in erhitztem Zustand gehärtet, in dem er in kaltes Wasser, Blut, Talg oder Urin getaucht wurde, wobei die Temperatur der Klinge, die Art der Flüssigkeit und die Dauer des Abschreckens die Qualität des Produktes bestimmte. Die Art der Herstellung gehörte zu den gut gehüteten Geheimnissen der großen Meisterfamilien, die ihre Namen, Zeichen und Marken durch Einschlagen 316 Vermutlich waren die Schmiede der beiden älteren Generationen ebenfalls Meister; die Kirchenbücher unterschieden zu ihren Lebzeiten noch kaum zwischen Meistern und Gesellen. 317 Pies 1997, S.133. Als allgemeine Rahmenbedingungen ihrer Ausbildung nennt Pies eine “(...) mit zwei bis drei Jahren verhältnismäßig kurz(e) (Lehrzeit) ohne überregionalen Wanderzwang für die Gesellen (...)”. (Ebd., S.134) Letzteres sei auch Ursache dafür gewesen, daß “(...) sich das Schmiedehandwerk (...) nicht zu einem geschenkten Handwerk entwickelte”. (Ebd.) Anderslautende Hinweise finden sich bei Wissell (1971). Vgl. dort auch die Erläuterungen zum geschenkten/ungeschenkten Handwerk auf S.330f, S.342 318 Vgl. auch bei Pies 1997, S.133: “Das Arbeitsgebiet des Hufschmieds umfaßte neben dem eigentlichen Hufbeschlag von Pferden und dem Wagenbau auch die Herstellung von Zimmeräxten, Beilen, Sensen, Sicheln und von grobem Eisenzeug.” 319 “Klinger” und “Messerer” gab es bereits seit dem 13. Jahrhundert. “Doch erst in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts gelang es den Messerschmieden, sich von der großen Bruderschaft der Klingenschmiede zu trennen und sich eine eigene Handwerksordnung zu schaffen, wobei sich jedoch die Schwert- und Degenschmiede vorbehielten, auch Messer herstellen zu dürfen. (...) Zur Zunft der Waffenschmiede gehörten auch zahlreiche andere Spezialisten von Angriffswaffen wie z.B. von Hellabarden, Spießen, Pfeilen und sogenannten Morgensternen, aber auch die Sporer (= Sporenmacher) und die Hersteller von Abwehrwaffen, d.h. von Harnischen, beweglichen Panzern für Roß und Reiter, Helmen und Kettenhemden: die Blattner (Plattner) und Panzerschmiede, die Eisenhuter und Halsberger, die Etzmaler und Rinker.” (Pies 1997, S.136f, Hervorhebungen im Original) Zur Spezialisierung im Metallgewerbe Thüringens vom 13. bis zum 16. Jahrhundert vgl. die Hinweise bei Helbig 1973, S.27f 118 2.1.1. Der soziale Abstieg Wie ist diese Entwicklung zu erklären? Das Schmiedehandwerk war nicht überflüssig geworden und wurde auch durch maschinelle oder fabrikmäßige Produktion nicht verdrängt. Der Prozeß, in dem die städtische Industrie kostengünstigere Produkte als der im Dorf ansässige Schmied lieferte, setzte erst nach 1870/71, nach dem Tod von Johann Adam Rauch, ein. 326 Was hinderte Johann Adam Rauch daran, wie seine Vorfahren ein Leben lang als Schmied zu existieren? Waren es allein Entwicklungen innerhalb seiner Generation, auf denen die “soziale Abwärtsbewegung”327 beruhte oder wurde bei ihm eine Krise offenkundig, in die die Familie bereits längerfristig geraten war? Und welche Bedeutung hatte der soziale Abstieg für die Nachkommen der Familie? Gab es für Tobias und Johann Nikolaus Rauch noch Motive und Möglichkeiten, an die Schmiedetradition anzuknüpfen? Die Alternative, als Weber nur geringe Einkünfte zu erzielen, deutet darauf, daß der Schmiedeberuf für die beiden Brüder, unabhängig von ihren persönlichen Motiven, wenig Erfolg versprach und sie von daher gezwungen waren, sich beruflich anders zu orientieren. Bedeutung hatte die Abwärtsbewegung in einem weitläufigen Feld von Beziehungen und Kräfteverhältnissen, das in unterschiedlichen Lebens- und Handlungsbereichen der Familie zum Tragen kam. Der Abstieg betraf ihre Stellung im Dorf insgesamt, die auf der komplexen Verbindung unterschiedlicher Vermögensarten beruhte: auf ökonomischem, kulturellem und sozialem bzw. symbolischem Kapital.328 Materieller Besitz und fachliches Können waren mit einem bestimmten Ansehen im Dorf verbunden, das unter anderem in Formen politischer und wirtschaftlicher Teilhabe sowie in konkreten Beziehungen, zum Beispiel durch Heiraten, zum Ausdruck kam. Dieses soziale Kapital war auch danach bemessen, inwieweit die Lebensführung den herrschenden Regeln von Integrität und Moral entsprach. Bei Familie Rauch deuten alle entsprechenden Hinweise auf eine anfangs gut integrierte und anerkannte Stellung im Dorf. Im sozialen Abstieg änderte sich dann auch die Stellung innerhalb der engeren Verwandtschaft der Familie, auf die hier am Beispiel der männlichen Nachkommen der ´Großfamilie´ Rauch eingegangen wird. 326 Vgl. Jacobeit/Jacobeit 1987, S.53. Von 1864 bis 1907 sank in Thüringen, bei einer Bevölkerungszunahme von 45%, die Zahl der Grobschmiede um knapp 25%, von 2.587 auf 1.948. Vgl. Hess 1991, S.112f 327 Rürup 1984, S.94 328 Vgl. Abschnitt 2. in Kapitel I. 122 Erklärungen für die Geschichte der Familie und ihren sozialen Abstieg finden sich in der Entwicklung der Beziehung zwischen gesellschaftlichem Feld und Habitus. Entsprechend zielt die anschließende Analyse darauf, die Beziehung zwischen den Handlungsspielräumen der Familie und den Handlungszielen und -strategien ihrer Angehörigen im Verlauf der Generationen herauszuarbeiten.329 Damit ist zugleich gesagt, daß es bei dem Versuch, die Ereignisse in der Familie zu verstehen, nicht darum geht, den sozialen Abstieg von Johann Adam Rauch und seinen Nachkommen auf eine ´letzte Ursache´ zurückzuführen. Daß sich einzelne Merkmale und Erscheinungen nicht auf die Frage danach reduzieren lassen, ob sie letztlich direkter Anlaß für Veränderungen oder nur deren Folge waren, belegt beispielhaft schon die “Trunksucht” von Johann Adam Rauch: Sie kann die Folge einer verzweifelten Lage gewesen sein, deren Fortsetzung sie zugleich verursacht haben kann. 2.1.1.1. Wirtschaftliche Entwicklungen: Landbesitz als schwindende, aber bleibende Ressource Die wirtschaftlichen Verhältnisse der Familie Rauch und ihre Entwicklung seit dem 17. Jahrhundert sind nicht konkret belegt, lassen sich aber tendenziell erschließen. Die Familie bezog ihre Einkünfte aus der Schmiede und dem eigenen Ackerbau. Beide Versorgungsquellen waren eng mit der Landwirtschaft verknüpft. Die Erträge aus dem eigenen Anbau entschieden darüber, ob und wieviel die Familie an landwirtschaftlichen Erzeugnissen zukaufen mußte. Dies hing unter anderem ab von Ernteausfällen, mit denen auch Preisschwankungen für landwirtschaftliche Produkte einhergingen. Im Blick auf kurzfristige Entwicklungen war bei guter Ernte der zusätzliche Bedarf geringer und auch zu verhältnismäßig niedrigen Preisen zu befriedigen, während Ernteausfälle einen erhöhten zusätzlichen Bedarf und steigende Preise für landwirtschaftliche Produkte zur Folge hatten. Auf die Häufigkeit dieser “akuten Hungerkrisen”330 während der frühen Neuzeit und auf ihre Konsequenzen weist von 329 Vgl. ausführlicher dazu das I. Kapitel 330 Von Hippel 1995, S.8ff. Vgl. auch Nipperdey 1994, S.147. Diese Krisen “´alten Typs´” wurzelten nach “Ursachen, Verlauf und Auswirkungen in vorindustriellen Produktions- und Wirtschaftsformen”. Sie “traten (...) häufiger und mit härteren Folgen (auf), als man sich heute gewöhnlich vorstellt, denn die Lebensmittelproduktion in Form des Getreideanbaus trug bis ins späte 18. Jahrhundert weithin monokulturartige Züge; ungünstige Witterungsbedingungen konnten sich daher intensiver auswirken als bei stärker diversifiziertem Anbau, zumal ein rascher und preiswerter überregionaler Ausgleich wegen der Unzulänglichkeit des Transportsystems zumindest auf dem Landweg nicht möglich war”. (Ebd., S.8f) In Deutschland relativ verbreitet war eine entsprechende “´Lebensmittelpolitik´” der Vorratshaltung (“Magazinierungspolitik”), mit der die Obrigkeit “Marktgeschehen und Marktpreis im Sinne sozial ausgleichender ´Gerechtigkeit´” beeinflußte. Diese, auch der “Armenpolitik” zuzurechnenden, Maßnahmen konnten die Not zwar nicht wirklich beheben, die Untergebenen aber beruhigen. Anders als in England und Frankreich hat “die reale Not im Gebiet des Deut- 123 Hippel hin: “Minder- und Mißernten wirkten sich infolge schrumpfenden Angebots und sprunghaft steigender Lebensmittelpreise mit systemimmanenter ´Logik´ für Produzenten und Verbraucher in gruppen- und schichtenspezifisch unterschiedlicher Weise aus: Wer in normalen Zeiten zu den agrarischen Selbstversorgern rechnete, war in Notjahren selbst auf kostspieligen Zukauf angewiesen; der kleine Überschußproduzent durfte froh sein, wenn er nicht unter die Selbstversorgergrenze abrutschte; nur für die Gruppen der großen Überschußproduzenten und Empfangsberechtigten von Naturalabgaben (Gülten, Zehnten) konnte sich die Notsituation gewinnreich gestalten, weil ihre Produkte selbst bei geringem Volumen größeren Gewinn abwarfen. (...) erzwungener Konsumverzicht (...) verschlechterte die Lage der betreffenden Bevölkerungsschichten zusätzlich, weil das dadurch bedingte Sinken der Nachfrage nach den entsprechenden Gütern und Dienstleistungen wiederum ihre eigenen Einnahmen minderte: Für Ernte-, Dresch- und Feldarbeiten wurde weniger Arbeit benötigt; (...) Handwerker erhielten weniger Aufträge und mußten etwa vorhandenen Gesellen kündigen. Und soweit Arbeit und gewerbliche Produkte dennoch Abnehmer fanden, konnten die Anbieter, wenn überhaupt, nur Preissteigerungen durchsetzen, die weit unter den Steigerungen der Lebensmittelpreise lagen. Minder- und Mißernten senkten also die Armutsschwelle deutlich ab und drohten die vorhandene beträchtliche Spannweite zwischen Arm und Reich zu vergrößern.”331 Schon aufgrund der klimatischen Bedingungen in der Region ist davon auszugehen, daß auch die Kaltensundheimer entsprechenden Hungerkrisen während der frühen Neuzeit ausgesetzt waren.332 Im Amt Lichtenberg, zu dem das Dorf gehörte, gab es im Jahr 1692 eine “(...) große Teuerung (...), die noch vermehrt worden war durch die ´continuirliche Kriegesmarchs´ verschiedener Armeen, besonders der kursächsischen, durch welche ´die conservirte frucht erst folgents consumiret und aufgefressen´ wurde.”333 Es kam hinzu, daß die eisenachische Regierung, nach “(...) schen Reiches bis zum Ende des 18. Jahrhunderts erstaunlich selten zu sozialen Unruhen geführt”. (Von Hippel 1995, S.11) Für Kaltensundheim ist eine entsprechende Magazinierungspolitik für das Jahr 1846 belegt. Vgl. Walter o.J., S.121 331 Von Hippel 1995, S.9 332 “Für Deutschland sind zwei ´kleinere´ (1660 und 1680) und fünf größere, in ganz Europa spürbare Hungerkrisen festgestellt worden: 1691-1693; 1696-1699; 1709-1711; 1739-1741; 1770-1774.” (Trossbach 1993, S.6) 333 Binder 1982 [1896], S.134. Auf die Bedeutung von Kriegen im Zusammenhang mit Teuerungen und Hungerkrisen verweist auch von Hippel (1995, S.12). Die “Erfordernis der Kriegsfinanzierung” (ebd.) führte 1692 auch dazu, daß sich “(...) Joh. Georg II., genötigt (sah), die für damalige Verhältnisse sehr große Summe von 75400 Thlr. bei Heinrich v. d. Tann, Ritterhauptmann des Ritterorts Rhön-Werra, später Direktor des ganzen fränkischen Ritterkreises, auf 12 Jahre zu leihen, wofür er ihm außer anderen Einkünften die Orte Kaltensundheim, Mittelsdorf, Westheim, Erben- und Reichenhausen, Ober- und Unterweid überließ.” (Binder 1982 [1896], S.135)- Daß den Gemeinden 124 unaufhörlichen Klagen” seitens der “Geistlichkeit des Amtes” über die Nachteile (...) für das kirchliche und sittliche Leben”, im Jahr 1692 auch die Abschaffung der Sonntagsmärkte in den sächsischen Grenzgegenden anordnete. Sie wurden auf Wochentage verlegt. Weil aber auf würzburgischem Gebiet die Sonntagsmärkte “nun erst recht” erhalten blieben, “(haben) die Märkte Ostheims, Sondheims, Kaltensundheims und Helmershausen (...) dadurch viel verloren (...).”334 Für Familie Rauch ist von zeitweiligen Versorgungsengpässen auszugehen, die durch die akuten Hungerkrisen verursacht wurden. Eventuell gab es auch längerfristige Einbußen aufgrund der Verlegung des Marktes. Gegen eine dauerhafte Beeinträchtigung durch vereinzelte Mißernten und Teuerungen sprechen die zunächst noch verhältnismäßig umfangreichen Landressourcen, mit denen die Familie ausgestattet war. Durch anschließende ertragreichere Ernten konnten zumindest kurzfristige Krisen vermutlich aufgefangen werden. 335 Langfristig war das Einkommen, das die Vorfahren von Johann Adam Rauch aus der Subsistenzwirtschaft erzielten, aber doch rückläufig. Das hing einmal mit Erbteilungen in der eigenen Familie zusammen. Gleichzeitig führte die Realteilung dazu, daß sich auch der jeweils angeheiratete Besitz verringerte. Der Großvater und der Vater von Johann Adam Rauch heirateten in Familien ein, deren Angehörige im 17. Jahr noch den Bauern im Dorf gehört hatten und die auch im 18. Jahrhundert noch über Land verfügten; zugleich waren sie dann aber auf handwerklich-gewerbliche Tätigkeiten angewiesen. Gegenüber den behandelten kurzfristigen Krisen waren Preise und auch Löhne im “Langzeittrend” vor allem durch “(...) das Spannungsverhältnis zwischen Bevölkerungsentwicklung und Nahrungsspielraum (...)” bestimmt.336 Nach dem 30jährigen in Kriegszeiten immer wiede hohen Kosten entstanden, belegen verschiedene Quellen. Zu den Folgen des siebenjährigen Krieges im Amt Lichtenberg führt zum Beispiel Binder aus: “Wieder, wie nach dem 30-jährigen Kriege, wurden die Kriegskosten-Rechnungen der einzelnen Amtsortschaften untereinander ausgeglichen. Ostheim brachte eine erstaunlich große Rechnung - hier hatten erst noch in den letzten Tagen Franzosen geplündert; ihren Offizieren hatte man, um sie im guten zu erhalten, reichliche Geschenke in Dukatons (franz. Laubthalern) gemacht, so daß alle Amtsorte noch viel dahin zahlen mußten. Helmershausen hatte 20 Jahre lang mit Abtragung der Kosten zu thun; es wurden dazu Gemeindegrundstücke verpfändet, das Haimbachgehölz zweimal abgehauen und verkauft etc. Das schlechte preußische Geld wurde nach dem Frieden auf die Hälfte seines Nominalwertes herabgesetzt, was große Verluste und viele Prozesse zur Folge hatte.” (Binder 1982 [1896], S.149) 334 Binder 1982 [1896], S.133 335 Folgten mehrere schlechte Ernten aufeinander, “(...) dann war damit zu rechnen, daß Armut und Not selbst bis weit hinauf in die Mittelschichten griffen (...).” (Von Hippel 1995, S.10) 336 Von Hippel 1995, S.12 125 Krieg, mit dem auch die Aufzeichnungen der Familie Rauch beginnen, stieg infolge der Bevölkerungsverluste und der knapper gewordenen Arbeitskraft zum einen das Lohnniveau. Zum anderen bedeutete die über dem Bevölkerungszuwachs liegende landwirtschaftliche Produktivität vergleichsweise niedrige Preise für die Verbraucher.337 Das “Lohn-Preis-Gefüge”338 wirkte demnach in dieser Phase, die sich bis in die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts erstreckte, für die Mehrheit der Bevölkerung positiv. Vor allem für Handarbeiter und damit für Angehörige der Unterschichten waren die Bedingungen für ein auskömmliches Leben relativ günstig.339 Zu den Unterschichten war Familie Rauch während dieser Zeit noch nicht zu zählen. “(...) die kleinen Handwerker (...) in Stadt und Land, die Klein- und Kleinstbauern auf dem Land” waren, so von Hippel für die frühe Neuzeit, “am Übergang von der Mittel- zu den Unterschichten plaziert (...): Sie verfügten zumindest formal über eine selbständige Familiennahrung, zählten üblicherweise zur Bürger- und Dorfgemeinde (...) und konnten sich mit ihren Familien in ´Normalzeiten´ aus eigener Kraft erhalten, glitten aber angesichts ihrer schmalen Existenzgrundlage sehr rasch wenigstens auf Zeit von der Dürftigkeit in Hilfsbedürftigkeit ab; elementare Armut bildete für sie weithin eine alltägliche Erfahrung.”340 Der Zeitpunkt, mit dem für Familie Rauch eine spürbare Verschlechterung ihrer wirtschaftlichen Situation einsetzte, läßt sich nicht genau datieren. Sie vollzog sich in einem längerfristigen Prozeß. Hinsichtlich ihrer Besitzverhältnisse und der eher günstigen Preise zumindest für Agrarprodukte scheinen ihre Existenzgrundlagen aber zumindest bis um die Mitte des 18. Jahrhunderts nicht so schmal gewesen zu sein. Hinzu kam schließlich noch das Einkommen aus der Schmiede: Die Erträge der Schmiede hingen ebenfalls überwiegend mit der Landwirtschaft341, zum Teil mit der konkreten Lage der Bauern und auch mit deren Anzahl zusammen. Dabei bleibt ungeklärt, ob und seit wann Familie Rauch im Besitz der Schmiede war.342 Skalweit geht davon aus, daß, “wie aber auch immer die Eigentumsrechte an 337 Ebd., S.13. Zu den, seit dem 14. Jahrhundert, vorausgegangenen “Wellenbewegungen” in der Entwicklung der Bevölkerung, der Löhne und Preise in Mitteleuropa vgl. ebd. Für Thüringen vgl. entsprechend Helbig 1973, S.14f 338 Von Hippel 1995, S.13 339 Vgl. ebd. 340 Ebd., S.6 341 Zur Abhängigkeit des Handwerks insgesamt von dem, auch nach 1800 noch, “gesamtwirtschaftlich wichtigstem Sektor” der Landwirtschaft vgl. Lenger 1988, S.40 342 Nach Auskunft der kaltensundheimer Chronistin Helga Witzel gibt es darüber keine Belege. Die heute lebenden Angehörigen der Rauchs sind der Meinung, daß die Familie im Besitz der Schmiede gewesen sei, was vermutlich aber nicht seit Beginn ihrer beruflichen Tradtion der Fall war. (Vgl. 126 der Schmiede beschaffen sein mögen, die ländlichen Lebensbedingungen (...) es zur Regel (machen), daß der Schmied, auf dessen guten (sic!) Dienste die Landbewohnerschaft angewiesen ist, mit Landnutzungen und Deputaten ausgestattet wird.”343 Endres hingegen nimmt an, daß “die Angehörigen des Dorfgewerbes (...) keine Anteile an der Gemein (hatten), sondern (...) unterschiedlich von den Dorfbewohnern für ihre Dienste entlohnt (wurden) (...).”344 Als “Gemeindebeamter” bezog der Schmied einen Teil seines Einkommes vermutlich in Naturalien, deren Menge festgelegt und damit unabhängig von Ernteausfällen war. Zusätzlich wurde er von den Bauern mit bestimmten Geldbeträgen für konkrete Schmiedearbeiten entlohnt.345 Dadurch hing sein Einkommen auch von den wirtschaftlichen Verhältnissen der Bauern ab. Für die Bauern als Produzenten landwirtschaftlicher Erzeugnisse folgte der Lang- dazu Abschnitt 5.1.1.5.2. in diesem Kapitel) - “Die ´eigene´ Schmiede stellt nicht den Normaltypus dar. Daneben gibt es die Gemeindeschmiede und die Gutsschmiede. Häufig treten die drei Typen in Vermischung miteinander auf. (...).” (Skalweit 1942, S.25, vgl. auch Hähnsen 1923, S.204) Für Kaltensundheim geben die verfügbaren Quellen keinen Aufschluß. Allgemein ist die Quellenlage hier eher dürftig. Auch in den bei Grimm nachgewiesenen Weistümern sind Rechte, Pflichten und Arbeiten der Schmiede relativ selten ein Gegenstand. Gleichzeitig ist die Frage, “wie sich die Ablösung von der öffentlich-rechtlichen Stellung des Schmiedes in der Dorfgemeinschaft zum selbständigen Handwerk vollzog” (Hähnsen 1923, S.204), in den Forschungen auch kaum von Interesse gewesen. Hähnsen, der am Beispiel von Gemeindeschmiedeverträgen aus Alsen und dem Sundewitt (Schleswig-Holstein) unterschiedliche Rechtsformen des Dorfschmiedeamts diskutiert, bildet hier eine Ausnahme. (Vgl. ebd., S.206ff) Auf seine Arbeit stützt sich auch Skalweit. 343 Skalweit 1942, S.25. Vgl. entsprechend auch von Maurer 1961 [1865-66], S.147 344 Endres 1977, S.170. Dabei geht er davon aus, daß Schmiede, Müller usw. zumeist in “gemeindeeigenen Betriebsstätten” lebten. (Ebd.) 345 Diese Konstellation ist zumindest im Blick auf die verfügbaren Quellen wahrscheinlich. Entsprechendes geht auch aus den bei Hähnsen belegten Gemeindeschmiedeverträgen hervor. (Vgl. Hähnsen 1923, S.206ff) Ähnlich heißt es auch in dem bei Grimm überlieferten “Schönfelder Ehhaftsrecht” im eichstädtischen Pflegamt Tollnstein (Bayern): “Item auch so haben sie ein erbschmidstat, wenn die mäng leicht, dem soll ein jegliches lehen geben ein metzen dängelkorn und ein jeder baur ein dängllaib. der lehen seind sechs u. zwanzig, und ein jeder schmid soll jedem baurn ein schar machen und soll ihnen allen treulich schmiden und ihnen embsiglich warten mit seiner arbeit. er soll ihnen aufschlagen eine neue schinn umb zwei pfennig, eine alte umb ein pfennig, ein neu eisen umb zwei pfennig und ein altes umb ein pfennig, und sollen die bauren das eisen selber haben, und ein pflugeisen erlegen um vier pfennig u. ein säg um drei pfennig.” (Grimm 1842, S.628) Allgemeiner führt Skalweit aus: Wo die Schmiede der Dorfgenossenschaft gehört, arbeitet der Schmied in seiner eigentlichen Grobschmiedetätigkeit als reiner Lohnwerker. Eisen und Kohlen empfängt er von dem jeweiligen Besteller. (...) Aber auch wo dem Dorfschmied die Werkstatt zu eigen gehört, womit er fraglos an wirtschaftlicher Selbständigkeit gewinnt, und womit sich der Übergang vom Lohnwerk zum Preiswerk anbahnt, löst sich damit nicht völlig die Abhängigkeit von der Dorfgenossenschaft. (...) Der Schmied bleibt Gemeindebeamter. Nur wo (...) sich die alte Hufenverfassung auflöst, nimmt auch die Arbeit des Schmieds rein erwerbswirtschaftlichen Charakter an. Wo aber (...) die Hufenverfassung ihre Gestalt bewahrt und die infolge des Flurzwanges gleichmäßige Bewirtschaftung der Ackerländereien eine Abgabe jedes einzelnen Bauern an den Schmied als Teil seines Naturaleinkommens ermöglicht, bleibt es bis zur Vornahme der Verkoppelung und der Gemeinheitsteilung auch bei der alten Einrichtung. (...).” (Skalweit 1942, S.25f. Vgl. auch Hähnsen 1923, S.209ff) 127 zeittrend einer anderen, eher umgekehrten, Logik als für die Verbraucher. Aus ihrer Sicht war die Phase nach dem 30jährigen Krieg, bei vergleichsweise geringeren Abnehmerzahlen, niedrigen Preisen und hohen Lohnkosten für Hilfskräfte, weniger ertragreich.346 Als eine Folge sind auch Auftragseinbußen für die Schmiede denkbar, die die Familie Rauch auf der Grundlage ihres eigenen Ackerbaus aber vermutlich verkraften konnte. Zudem lag die Zahl der kaltensundheimer Bauern und damit der wesentliche Kundenkreis für die Schmiede im 17. Jahrhundert noch doppelt so hoch wie Mitte des 19. Jahrhunderts.347 Im 18. Jahrhundert verschoben sich allmählich die Gewichte. Familie Rauch hatte weniger Land und war auf Einnahmen aus der Schmiede stärker angewiesen. Gleichzeitig schlugen Mitte des Jahrhunderts auch die Verhältnisse im “Langzeittrend” um. Das anhaltende Bevölkerungswachstum führte bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts zu Preissteigerungen, die für Lebensmittel stärker als für gewerbliche Erzeugnisse ausfielen und hinter denen auch das Lohnniveau zurückblieb.348 Daneben gab es auch weiterhin kurzfristige Krisen. Für das Amt Lichtenberg ist eine “große Teuerung” für das Jahr 1771 belegt. “Man mußte sich an Haferbrot halten. Heidelbeeren und Kirschen wenigstens waren gut geraten. Brennessel- und ähnlichen Kohl aß man sich zum Ekel. Auch im folgenden Jahre währte die Teuerung noch fort.”349 Später, während der Revolutionskriege standen dann, “(...) besonders 1795, (...) die Viehpreise auf einer nie erlebten Höhe.”350 Für Familie Rauch hatten die Entwicklungen im Langzeittrend verschiedene Konsequenzen: Die insgesamt steigenden Lebenshaltungskosten erforderten im Zusammenhang mit abnehmenden eigenen Bewirtschaftungsflächen einerseits vor allem zusätzliche Ausgaben für landwirtschaftliche Produkte. Da die Bauern von der allgemeinen Entwicklung eher profitierten, kann andererseits auch von durchaus positiven Rückwirkungen auf die Ertragslage der Schmiede ausgegangen werden. Allerdings ist zu berücksichtigen, daß im Untersuchungsgebiet die Kleinbauern überwogen, die überwiegend für den Eigenbedarf und weniger für den Markt produzierten. Das bedeutet, daß ihr Einkommen aus Überschüssen verhältnismäßig gering war. 346 Vgl. auch Trossbach 1993, S.5. “Erst im Laufe des 18. Jahrhunderts wurde die kriegsbedingte Stagnation überwunden (...).” (Ebd.) 347 Die Schmiedefamilie war sicher auch in der eingepfarrten Nachbargemeinde Mittelsdorf tätig, die keine eigene Schmiede hatte. 348 Vgl. Kaufhold 1978, S.61ff, von Hippel 1995, S.12 349 Binder 1982 [1896], S.149 350 Ebd., S.150 128 Zwar gerieten die Handwerker aufgrund der vergleichsweise niedrigen Preise, die sie für ihre Produkte erzielten, in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verstärkt in die Krise. Von ihr aber blieben offenbar die Schmiede wiederum noch am ehesten verschont. Zumindest für das städtische Handwerk des 18. Jahrhunderts stellt Grießinger fest: “Die Verschärfung der Krisen vom ´type ancien´ seit den 40er Jahren zeitigt im Schmiede- und Schlosserhandwerk keine vergleichbaren Wirkungen wie im Schuhmachergewerbe, wo der krisenhafte Übersetzungsprozeß zu einem deutlichen sozialen Abstieg für Meister und Gesellen führt. Den Schmieden und Schlossern gelingt es nämlich offenkundig, trotz der sich öffnenden Schere zwischen den Preisen der landwirtschaftlichen Erzeugnisse einerseits und der gewerblichen Produkte andererseits relativ engen Anschluß an die Getreidepreisbewegung zu halten (...).”351 Im Verhältnis zum Schuhmachergewerbe verlief die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts für das Schmiedehandwerk auch in Kaltensundheim scheinbar noch glimpflich.352 Dennoch ist anzunehmen, daß faktisch auch die Rauchs Einbußen hinnehmen mußten. Der Aufschwung der Protoindustrie führte zu einer ´Vernachlässigung´ der Landwirtschaft und zu einer relativen Dominanz der Gewerbetätigkeit im Dorf. In diesem Prozeß verlor die Schmiede an Bedeutung. Der Nebenverdienst für Kleinschmiedearbeiten353 wie Sensen, Schmiedemesser und Türschlösser hielt sich vermutlich trotz steigender Zahl der Dorfbewohner in Grenzen. Hohe Preise vor allem für agrarische Produkte verringerten den Ausgabenspielraum der Bevölkerung und damit “tendenziell” die Nachfrage nach handwerklichen Produkten.354 Zudem gab es seit etwa 1800 eine Schlosserfamilie im Dorf. Die Folgen des Langzeittrends und kurzfristiger Krisen belasteten zahlreiche Bewohner Kaltensundheims vermutlich schwerer als Familie Rauch. 1795, im Jahr nach der Geburt von Johann Adam Rauch, brach im Ort eine Ruhrepidemie aus, an der 18 der erkrankten Dorfbewohner starben. 355 Als Zeichen von Mangelerscheinun- 351 Grießinger 1981, S.199 352 Darauf deuten jedenfalls die Schuhmacherfamilien, mit denen die Weberfamilie Porz in Beziehung stand. Vgl. die Abschnitt unter 2.2. in diesem Kapitel 353 Skalweit 1942, S.25. Vgl. auch Hähnsen 1923, S.209, S.212 354 Ausgenommen waren Nahrungsmittel, vor allem Brot. (Die eher “prekäre” wirtschaftliche Lage der Handwerker traf außerdem auf die Bauberufe weniger zu.) (Vgl. Kaufhold 1978, S.62f) Zur Entwicklung der Löhne im handwerklichen Bereich vgl. Saalfeld 1978. Abel (1978) setzt die Handwerkerlöhne ab dem Ende des 18. Jahrhunderts in Beziehung zur Entlohnung im Spätmittelalter. Vgl. ebd., S.22ff 355 Vgl. Marschall/Marschall o.J., S.12 129 gen und einer eventuellen Hungerkrise356 weist die Krankheit auf die demzufolge teilweise ausgesprochen prekäre Versorgungslage der Kaltensundheimer um die Wende zum 19. Jahrhundert hin. Unter den Opfern dieser Epidemie war niemand aus der Familie Rauch. Eine, dem Beginn ihrer Geschichte in Kaltensundheim vergleichbare, positive Bilanz ihrer wirtschaftlichen Verhältnisse läßt sich für diesen Zeitpunkt dennoch nicht mehr ziehen. Zwar gab es um 1800 “(...) auch eine Minderheit von wohlhabenden Landhandwerkern (...): einige Müller, viele Bäcker, Küfer und Metzger (oft zugleich Wirte), oftmals auch Schmiede (...).” 357 Familie Rauch scheint sich zumindest tendenziell eher im Kreis der Mehrheit der Dorfschmiede bewegt zu haben, die zu diesem Zeitpunkt “(...) zu den ärmeren (...) Kategorien der Landbevölkerung (gehörten) (...).”358 Bevor die Krise bei Johann Adam Rauch im Verlust seiner beruflichen Existenz offenkundig wurde, war sie schon bei seinen Eltern, noch im 18. Jahrhundert, nachhaltiger wirksam. Gegen “Wohlstand”359 und “hohen Lebensstandard”360 spricht zum einen das Heiratsalter, das nicht erst in der Generation von Johann Adam Rauch mit 29 Jahren relativ hoch war. Auch sein Vater, Johannes Rauch, war zum Zeitpunkt seiner Eheschließung im Jahr 1787 bereits 28 Jahre alt. In den vorangegangenen Generationen hatten die Männer der Familie jeweils mit 23 Jahren erstmals geheiratet, mit Ausnahme des ältesten Vertreters, Konrad (Cuntz) Rauch, der seine Ehe mit Magdalena Walter als 24jähriger einging.361 Das Heiratsalter kann als ein Indiz für die wirtschaftliche Situation der Angehörigen genommen werden. Es bestätigt für die älteren Generationen zunächst eine auskömmliche Lage. Für Johannes und seinen Sohn Johann Adam Rauch deutet es dann auf Probleme, eine eigene Familie und einen eigenen Haushalt selbständig unterhalten zu können. 356 Vgl. von Hippel 1995, S.10 357 Kocka 1990, S.93. Vgl. auch Rürup 1984, S.87. Positiv bilanziert Grießinger: “Insgesamt deuten (...) alle Daten darauf hin, daß das Schmiede- und Schlosserhandwerk die Krise des ausgehenden 18. Jahrhunderts - im Gegensatz zum Schuhmacherhandwerk - relativ gut gemeistert hat.” (Grießinger 1981, S.203) Das Schmiedehandwerk produzierte “indirekt” für den Grundbedarf an Nahrung. (Vgl. Kaufhold 1978, S.43). Für den Beginn des 19. Jahrhunderts vermuten auch Jacobeit/Jacobeit (1987) gerade bei den für die Grundbedürfnisse produzierenden Handwerkszweigen vergleichsweise geringe Einbußen. (S.59) 358 Kocka 1990, S.93 359 Grießinger 1981, S.203 360 Ebd., S.199 361 Magdalena Walter war zu diesem Zeitpunkt bereits 33 Jahre alt, allerdings schon einmal verheiratet gewesen. Die Ehefrauen der nachfolgenden Generationen heirateten alle im Alter zwischen 20 und 22 Jahren. 130 Weniger deutliche Hinweise gibt die Kindersterblichkeit. Sie war im allgemeinen recht hoch, und in der Familie Rauch blieb ebenfalls keine Generation von ihr verschont. Allerdings war auch hier die Familie von Johannes Rauch gegenüber den anderen Generationen häufiger betroffen. Von acht Kindern starben drei im Kleinkindalter, ein Sohn 14jährig und eine Tochter mit 19 Jahren. Demgegenüber erreichten von sieben Kindern der vorangegangenen Generation fünf das Erwachsenenalter. Ebenfalls sieben gemeinsame Kinder hatten Konrad (Cuntz) Rauch und Magdalena Walter, von denen vier überlebten. Die Kindersterblichkeit kann auf Versorgungsmängel hinweisen. Zwischen den Jahren 1804 und 1811 starben fünf Geschwister von Johann Adam Rauch. 1808, etwa zu der Zeit, als für ihn selbst das Berufsleben begann, starb einjährig sein Bruder Johannes. Als Todesursache weist das kaltensundheimer Sterbebuch eine Ruhrkrankheit aus. In der Landwirtschaft “(war) die Zeit um 1800 (...), speziell für Norddeutschland, eine Zeit guter Konjunktur, die Getreidepreise stiegen (zwischen 1730/1740 und 1800/1810, zumal seit 1790, um 110%) infolge der Bevölkerungsvermehrung und der englischen Exporte, ohne daß Löhne und gewerbliche Produkte sich wesentlich verteuerten.”362 Selbst wenn die Schmiedefamilie noch Anschluß an die Entwicklung der Getreidepreise halten konnte, bestand doch kaum Aussicht auf wirtschaftlich stabile Verhältnisse. Die weitere Entwicklung gab im Gegenteil immer wieder Anlaß, bereits vorhandene Krisen zu verstärken. Für Kaltensundheim sind mit dem Tagebuch von Cyriax Walter, der 1848 zum “Schultzen” des Ortes und 1850, nach der Einführung der neuen Gemeindeordnung363, zum Bürgermeister gewählt wurde, zunächst Erinnerungen an die Agrarkrise 1816/17 überliefert: 364 “Durch die anhaltenden Kriegsjahre, wo von dem Heere alles aufgezehrt und verwüstet, und der anhaltenden Regen im Jahre 1816, wo es vom Monat April bis im Monat October täglich regnete, entstandt im Jahre 1817 eine furchtbare Hungersnoth, ein Maas Korn kostet 5 fl., ein Pfund Brod 240 Kr., ein Pfund Fleisch 36 Kr., dabei war alles Backwerk durch die verdorbenen Körner so schlecht, daß es fast nicht zu genießen war, an Sättigung war nicht zu gedenken. Wie Schatten 362 Vgl. Nipperdey 1994, S.146f. Achilles, S.3, oben zitieren 363 1850 trat die Reform der, zuerst 1840 verabschiedeten, Allgemeinen Landgemeindeordnung in Kraft. Vgl. Abschnitt 2.1.1.3. in diesem Kapitel 364 In den voraufgegangenen Kriegsjahren waren der Gemeinde wiederholt erhebliche “Lasten und Lieferungen” auferlegt worden. Noch Anfang 1814 waren “(...) zur Aufbringung der unerschwinglichen Kriegsbedürfnisse 4 außerordentiche Kriegs-Steuern (...) nötig.” (Heimatglocken 1913, o.S.) 131 gingen die Menschen umher, das Gras der Wiesen diente zur Nahrung, Knotten und geschnittenes Stroh wurden gemahlen und zu Brot verwendet: die Noth kann ich hier nicht genug beschreiben.”365 Im Anschluß an diese erste große Agrarkrise bewirkten sinkende Getreidepreise infolge guter Ernten und der englischen Kornzölle in Deutschland allgemein einen Abwärtstrend der Bauern. Bis gegen Ende der 1820er Jahre eine erneute Konjunktur einsetzte, hatten viele von ihnen ihren Betrieb aufgeben müssen.366 Die in Kaltensundheim um die Mitte des 19. Jahrhunderts gegenüber 1667 etwa halbierte Zahl der Bauern kam vermutlich vor allem langfristig, durch Erbteilungen, zustande. Denkbar ist hier ebenfalls noch ein konjunkturbedingter Einbruch. Ohnehin aber drückte die problematische Lage der Bauern das Einkommen der Schmiede. Daß in Kaltensundheim, anders als allgemein angegeben, auf die Agrarkrise nicht nur gute landwirtschaftliche Erträge folgten, änderte diese Konstellation nicht. Die 1819 durch ein Unwetter vernichtete Ernte entzog auch den Bauern ihre Einkommensgrundlage. Für Familie Rauch bedeutete sie außerdem einen weiteren Versorgungsengpaß bei vermutlich hohen Preisen: “(...) alles, was die ganze Flur an Getreiten, Graas ec enthielt, wurde in 1 1/4 Stunden vernichtet. (...) Fenstern und alles waren zertrümmert, die Fluthen des Wasser brachten das Wild auf dem Felde mitgeführt, die Vögel fand man auf den Nestern zerschlagen, mehr noch als die Vernichtung der Gewächse war der Schaden, welchen die Wasserfluthen an den Feldern auf Jahrzehnte hinaus verübt hatten, manches Land war ganz und gar verschwunden, manche Wiese mit Schutt 3 Fuß hoch überschüttet. Das Korn auf dem Felde wurde abgemeht und nach Hause gebracht und mit dem Vieh gefüttert, an Heuernde war nicht zu gedenken; Hafer und Sommergetreite erholten sich noch etwas - was aber leider zum Bedarfe der Nothdurft nicht zum zehntentheile hinreichte, und so entstandt für den hiesigen Orte ein Jahr des Hungers und Kummers. Die jetzigen Nachkömmlinge leiden noch an dem Druck der Schulden, welche jenes Jahr vererbt hatte.”367 In den 1820er Jahren kam es allgemein zu einem erheblichen Preissturz. Es sanken die Preise für gewerbliche Produkte, aber ebenfalls die für Nahrungsmittel.368 Immerhin gingen damit auch für Familie Rauch die für ihren Lebensunterhalt erforderlichen Ausgaben zurück. Daß Johann Adam Rauch und Anna Elisabetha Opfermann 1823 heirateten, ist vielleicht Ausdruck einer, gegenüber den vorangegangenen Jahren der Agrarkrise, besseren Lage. Aber selbst bei vorübergehender Erholung bewegte sich die Familie insgesamt vermutlich auf einem wirt- 365 Walter o.J., S.113f 366 Vgl. Nipperdey 1994, S.146f 367 Ebd., S.114 368 Vgl. Saalfeld 1978, S.68f 132 schaftlich nur noch bescheidenen Niveau ohne die erforderlichen Ressourcen, um weitere Krisen abzufangen.369 Es gibt für Kaltensundheim nur wenige Hinweise auf die Entwicklungen der 1820er und 1830er Jahre.370 Im allgemeinen verzeichnete das Handwerk seit den 1830er Jahren einen Aufschwung,371 der sich unter anderem in einer deutlichen Zunahme der beschäftigten Gehilfen und Lehrlinge bemerkbar machte.372 Dabei gibt die allgemein gestiegene Zahl der Beschäftigten im Handwerk, die auch Ausdruck des Bevölkerungswachstums war, allerdings noch keinen Aufschluß über deren Lage.373 In den 1830er Jahren wuchs zugleich der Pauperismus. Die Löhne waren wegen des Überangebots an Arbeitskräften niedrig. Den in Deutschland in den dreißiger und vierziger Jahren allgemein steigenden Preisen für Grundnahrungsmittel standen bis Mitte des 19. Jahrhunderts weiterhin niedrige Preise für gewerbliche Produkte gegenüber, die in den 1840er Jahren noch einmal absanken.374 In Kalten- 369 Die Mehrheit der Landhandwerker war während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts von Armut betroffen. Vgl. Lenger 1988, S.49, auch Rürup 1984, S.94f, S.161f 370 Die wenigen Hinweise für die 1830er Jahre deuten eher auf eine allgemein schwierige Lage. Belegt sind die bei Riehl “sporadisch” genannten Versuche im Erwerbsleben: 1834 machten in Kaltensundheim “zwei Eisenacher Kaufleute die aufsehenerregende Entdeckung, daß auf den Basaltsteinen ein Moos wächst, welches für die Zubereitung einer braunen Farbe wertvoll ist. Man kann das Moos auch züchten. Das Pfund wird mit 3, später mit 2 Groschen bezahlt. Insgesamt werden in Kaltensundheim 500 Reichstaler verdient. Das ist bei dem sonst recht kärglichen Erwerbe eine Wohltat.” (Marschall/Marschall o.J., S.13) Ähnlich vielversprechend wurde 1840 auch der Versuch bewertet, Torf zu stechen. (Vgl. ebd., S.14) - Mit Ausnahme der Weberei geht die kaltensundheimer Chronik auf die Situation in den einzelnen Gewerben und Handwerken nicht ein. Schmoller (1975 [1870]) klammert in seiner Untersuchung der deutschen Kleingewerbe im 19. Jahrhundert Thüringen aus: “Die thüringische Gewerbestatistik, soweit sie mir bekannt ist, geht über das Jahr 1861 nur durch ein paar Mittheilungen aus Gotha und Koburg zurück; in der Hauptsache beschränkt sie sich auf 1861. (...) auf Thüringen und die anderen kleinen Staaten beabsichtige ich nicht näher einzugehen; auf allzukleinem Raume können zu leicht besondere exzeptionelle Ursachen einwirken, die das Resultat trüben.” (Ebd., S.6) Die Untersuchung von Lenger, der in der Diskussion über die Entwicklungen im Handwerk in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor allem auf deren regionale Unterschiede hinweist, geht zwar auf das Landhandwerk, hier aber vor allem auf Preußen ein. (Vgl. Lenger 1988, S.41ff, S.44ff) Da in Preußen die Gewerbefreiheit bereits 1810 eingeführt wurde, verlief dort die Entwicklung auf dem Land in der Folgezeit anders als in Thüringen, wo es Gewerbefreiheit erst 1863 gab. In Sachsen-Weimar-Eisenach wurde noch 1821 gesetzlich verfügt, daß, “ausgehend davon, daß die Handwerke und Gewerbe vorzüglich den Städten angehören (...),” nur denjenigen Handwerksmeistern “(...) die Niederlassung in den Dörfern gestattet” sei, “(...) deren Nähe auch dem platten Lande nicht wohl entbehrlich ist (...).” (Gesetz über die Innungen und Zünfte 1821, § 15) 371 Vgl. Lenger 1988, S.90 372 Vgl. ebd., S. 40f. Lenger unterscheidet für den Zeitraum von 1816 bis 1846 zwei Phasen. Bis 1831 stiegen die Beschäftigtenzahlen im Handwerk “in etwa im Einklang mit der Bevölkerungsentwicklung”. Während in dieser Phase “die Meister einerseits und die Gehilfen und Lehrlinge andererseits sehr gleichmäßig (...)” zunahmen, stiegen nach 1831 vor allem die Zahlen der beschäftigten Gehilfen und Lehrlinge. (Vgl. ebd.) 373 Vgl. dazu die Diskussion bei Lenger 1988, S.41ff 374 Vgl. Rürup 1984, S.161ff, Saalfeld 1978, S.69 133 sundheim “stockte” mit der Weberei bis dahin längst die früher für viele Familien im Dorf vorherrschende Erwerbsquelle. Auch die ansteigende Einwohnerzahl Kaltensundheims, die seit 1833 belegt ist,375 führte wohl kaum zu verstärkter Nachfrage nach Produkten der Schmiede. Die “Schulchronik” des Ortes hält vielmehr für das Jahr 1836 fest, daß “(...) viele Kinder den Unterricht (versäumten), weil sie von den Eltern zum Betteln geschickt wurden.”376 Zu berücksichtigen ist zwar, daß sich die Lage der Bauern seit Ende der 1820er Jahre im allgemeinen stabilisiert hatte. Dieser für die Schmiede wichtige Kundenkreis war in Kaltensundheim allerdings inzwischen doch erheblich geschrumpft. Obwohl die Preise für landwirtschaftliche Produkte in Kaltensundheim am Beginn der 1830er und ebenfalls am Anfang der 1840er Jahre noch einmal niedrig waren,377 stiegen die Ausgaben für Johann Adam Rauch und Anna Elisabetha Opfermann. Dies hing nicht nur mit den Preisen, sondern auch mit dem steigenden Bedarf ihrer Familie zusammen. Gegen eine Verbesserung der wirtschaftlichen Verhältnisse sprechen allein ihre fünf Kinder, die zwischen 1824 und 1840, in Abständen von drei bis immerhin fünf Jahren, geboren wurden. Wie sich die wirtschaftlichen Verhältnisse der Familie konkret entwickelten, ist unklar. Recht eindeutig erkennbar ist aber, daß kein plötzlicher wirtschaftlicher Einbruch in der Generation von Johann Adam Rauch, zumindest nicht allein, ausschlaggebend für den Abstieg war. Der vollzog sich offenbar eher in einem längerfristigen Prozeß, der noch im 18. Jahrhundert eingesetzt hatte. Johann Adam Rauch war demnach bereits unter, für seine Familie, vergleichsweise schwierigen Verhältnissen aufgewachsen. Möglicherweise war auch seine berufliche Existenz schon früh gefährdet. Daß er Schmied wurde, legt den Schluß nahe, daß mit diesem Beruf am Beginn des 19. Jahrhunderts immerhin noch Zukunftsperspektiven verbunden waren, die Lage zumindest nicht völlig aussichtslos war. Ebenfalls denkbar sind Umstellungsprobleme, auch angesichts der langen Schmiedetradition der Familie. Sicher jedenfalls scheint, daß Johann Adam Rauch seit 1836 nicht mehr in seinem gelernten Beruf gearbeitet hat. Das Kirchenbuch verzeichnet ihn noch für die Jahre 1824 und 1827, in denen die Söhne Georg Ernst und Tobias geboren wurden, als Schmied. Bei der Geburt des dritten Sohnes, Johann Nikolaus, im Jahre 1831, erfolgte für den Vater keine Berufsangabe. 1836, im Geburtsjahr der 375 Vgl. Abschnitt 1.1. in diesem Kapitel 376 Gemeinde Kaltensundheim 1995, S.45 377 Die Ernte war 1832 gut, die Preise niedrig. 1833 gab es, bei einer geringen Getreideernte, “reichlich Kartoffeln, Flachs und Obst”. (Vgl. Marschall/Marschall o.J., S.13) - Für die 1840er Jahre vgl. die anschließenden Ausführungen im Text. 134 Tochter Eva Elisabetha, wurde Johann Adam Rauch schließlich als Ölhändler notiert. Der Ölhandel war demnach keine Erwerbsquelle neben dem Schmiedeberuf, sondern es hatte sich ein dauerhafter beruflicher Wechsel vollzogen. Dies bestätigen die nachfolgenden Einträge im Kirchenbuch: Beim Tod der Tochter im Jahr 1837 wie auch dem des Sohnes Johannes im Jahr 1852 war Johann Adam Rauch nicht mehr als Schmied, sondern jeweils nur als Ölhändler angegeben. Die Hinweise stützten die Vermutung, daß die Familie im Hinblick auf ihr Einkommen auf jeden Fall noch vor der zweiten großen Agrarkrise der Unterschicht angehörte. Für die Söhne Tobias und Johann Nicolaus begann Anfang bis Mitte der 1840er Jahre das Erwerbsleben. “Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung bzw. sehr unregelmäßige Beschäftigung waren die Kernprobleme der sozialen Frage des Vormärz.”378 Daß die beiden Brüder Weber wurden, kann als deutlicher Hinweis darauf verstanden werden, daß sowohl der Schmiedeberuf als auch der Ölhandel weder Perspektiven noch hinreichendes Auskommen boten. Eine entsprechende Chance hätten sie, unter den gegebenen Lebensumständen, sicherlich genutzt. Die Weberei gehörte schon während der Zeit ihres Berufseinstiegs zu den “stockenden” Gewerben und blieb auch später, trotz ihres neuerlichen Aufschwungs Mitte der 1850er Jahre, grundsätzlich krisenanfällig. Zunächst bewirkte die zweite große Agrarkrise 1846/47 erneut Preissteigerungen und Hungerkrisen. Für Kaltensundheim ist für die 1840er Jahre folgende Entwicklung überliefert: Das Jahr 1840 war “ein sehr fruchtbares, alles war im Überfluß gerathen, das Maas Korn kostet 4550 Kr., Gerste 27-30 Kr., Fleisch billig. Das Jahr 1841 ein noch gesegneteres und alles zu billigen Preisen.” Trotz “drückender Hitze” gab es im darauffolgenden Jahr “ziemlich Korn und Weitzen. Sommerfrüchte wurden in vielen Gegenden gar nicht geerndet - Futter und Klee waren gänzlich verdorben, so daß eine allgemeine Futtersnoth entstandt, Kartoffeln waren nur in milden Ländern zu finden. Ein einziger Regen im Monat July hatte unsere Flur gesegnet, so daß hier sämtliche Getreite Arten gerathen waren, im Herbst gingen täglich Fuhren mit Heu, Stroh und Getreiten in die Nachbarstaaten ab (...) Das Vieh mußte, was entbehrlich war, geschlachtet werden (...).”379 Entsprechend hoch waren die Preise für “Fett und Fleisch” im Jahr 1843, das sich für die Kaltensundheimer insgesamt sehr kritisch entwickelte. Im Frühjahr stiegen die Kornpreise, die auch nach der Ernte hoch blieben. Außerdem “(fingen) alle Gewerbe (...) an zu stocken, die hiesige Weberei lag gänzlich, und nur der vierte Theil der Weberei war mäßig beschäftigt, auf den Gesichtern konnte man die Noth sehen, es war Hungersnoth”.380 378 Rürup 1984, S.161 379 Walter o.J., S.119f. Vgl. auch Marschall/Marschall o.J., S.14 380 Walter o.J., S.120. Vgl. auch Marschall/Marschall o.J., S.14 135 Im “mittelmäßigen Landjahr” 1844 entspannte sich die Situation zumindest durch sinkende Preise. 1845 fiel die Ernte dann bereits “weniger ergiebig” aus.381 Während der anschließenden allgemeinen großen Agrarkrise versuchte die Gemeinde in Kaltensundheim, Preissteigerungen und Hunger durch Vorratshaltung und verbilligte Nahrungsmittel entgegenzuwirken: “Das Jahr 1846 überstieg in seiner Trockenheit die beiden vorhergehenden, es war ein allgemein dörres Jahr in allen Gauen Deutschlands, wodurch eine Mißernde entstandt. Im Frühjahr schien es nicht, als ob Mangel an Getreite vorhanden. Die Fruchtpreise waren leidlich, 1 Maas Korn 1 fl. 20 Kr., Gerste 1 fl. Der hiesige Ort hatte eine Ernde, so daß man eine Theuerung gar nicht befürchtete. Fast täglich kamen Fruchtaufkäufer und die Abfuhren nahmen überhand, so daß man bald genug den Mangel in anderen Gegenden gewahrte, die Fruchtpreise stiegen und noch zeitig genug errichtete die Gemeinde ein Magazin und kaufte alle hier noch zum Verkaufe gebrachten Früchte auf, auch Kartoffeln wurden aufgekauft und gelagert. Im Frühjahr (1847, A.L.-V.) trat ein wirklicher Mangel ein, im Monat May kostet ein Maas Korn 3 fl. - Gerste 2 fl. 12 Kr. Im Monat Juny und July kostet 1 Maas Korn 3 fl. 30 Kr., Gerste 2 fl. 30 Kr. und stieg bis 4 fl. Die Noth war drückend - 1 Pfd. Brod kostet 12 Kr. Durch die Fürsorge der Gemeinde, und durch Errichtung des Magazines konnte die hiesige Gemeinde das Pfund Brod zu 6 Kr. abgeben, und langte der Vorrath bis zum Monat einschl. Juny aus. Von Staats wegen mußten Früchte beschafft werden und zu gemäßigtem Preise für die Unterthanen abgegeben werden, was auf Veranlaßung des Landtags geschah, und es wurde 1 Million Thaler für das ganze Land hierzu verwilliget. Die Früchte wurden aus Rußland bezogen, da in Teutschen Gauen keine mehr zu haben waren. Auch diese Quellen stockten, und es wurden Grauben geliefert, das Pfund konnte hier für 6 Kr. abgegeben werden, obgleich das Magazin für 9 Kr. bezahlen mußte. In 3 Wochen wurden hier 17 Ztr. Grauben und 1 Ztr. Hirse ausgegeben: Es war wirkliche Noth, doch es gab Geld (...).”382 Ab dem Herbst 1847 besserte sich mit einer guten Ernte und sinkenden Preisen die allgemeine Versorgungslage. “(...) Korn und Weitzen standen üppig in Fülle, alle Bäume und Hecken voller Obst, und mit dem ersten Sichelklang war die Noth des Frühjahrs beseitigt. Die Fruchtpreise sanken zur Tiefe, ein Maas Korn kostete 48 bis 50 Kr., Gerste 30 Kr. So war die Noth mit einemal beendet, doch blieben manche Rechnungen für die folgenden Jahre, manche Familie hatte so viele Opfer gebracht und Geld aufgenommen, daß noch geraume Zeit mit der Abtragung zu kämpfen war.”383 Das Ende der Hungerkrise bedeutete vermutlich auch für Familie Rauch kaum das Ende existentieller Sorgen. “Gerade den Unterschichten fiel es schwer, den Gefah- 381 Vgl. Walter o.J., S.120. Die Ortschronik ergänzt: “Im Februar 1845 sind 28 Grad Kälte, so daß alle Kartoffeln in den Kellern erfrieren. Auch herrscht großer Holzmangel.” (Marschall/Marschall o.J., S.15) 382 Walter o.J., S.120f. Vgl. auch Marschall/Marschall o.J., S.15 383 Walter o.J., S.121. 136 ren ungenügender Ernten anders als mit ad-hoc-Überlebensstrategien zu begegnen: Borgen von Geld und von Nahrungsmitteln; Verkauf und Verpfändung etwa vorhandenen Besitzes; weitere Minderung des Konsums mit allen Folgen der Unterernährung; (...) Schulden, der unwiederbringliche Verlust existenznotwendigen Besitzes oder das Zerbrechen von Familien konnten die betroffenen Menschen über die Krisenphase hinaus belasten und im - keineswegs seltenen - Extremfall dazu führen, daß sie in die dauerhaft unterstützungsbedürftige Armut oder in die Randgruppe der heimatlosen mobilen Bettler und Vaganten absanken.”384 Der soziale Abstieg der Familie war begrenzt. Sie rutschte keineswegs in die Randgruppe der Heimatlosen ab. Und ihr blieb auch im 19. Jahrhundert noch Land, das ihre Existenzgrundlagen von anderen sozialen Gruppen unterschied, zu denen die Weberfamilie Porz gehörte. Im Verhältnis der beiden Familien wird sich die Sicht auf die Schmiede später relativieren. Dennoch bedeutete die Agrarkrise vermutlich doch eine weitere Bewegung innerhalb der Abwärtsspirale der Rauchs. Die Entwicklungen gingen bei Johann Adam Rauch, früher oder später, mit zunehmendem Alkoholkonsum einher, der sowohl im Schmiedeberuf385 als auch in der Region386 häufiger beobachtet wurde. Für Johann Adam Rauch war im weiteren keine Trendwende in Sicht. Nachdem sich mit der guten Ernte und sinkenden Preisen seit dem Herbst 1847 die allgemeine Versorgungslage verbessert hatte 387, blieb Kaltensundheim auch in den folgenden Jahren von Krisen und Preissteigerungen für Nahrungsmittel nicht verschont: Bereits das “minder ergiebige” Jahr 1851 kündigte in Kaltensundheim die nächste Krise an: “(...) es entstand im Jahre 1852 im Frühjahr eine Theuerung. Die Geschäfte stockten und es sah sich die Gemeinde veranlaßt, um den Hunger etwas zu steuern - Chausseebauten vorzunehmen, und 384 Von Hippel 1995, S.10 385 Vgl. nachfolgenden Abschnitt 2.1.1.2. 386 Vgl. Abschnitt 1.4. in diesem Kapitel 387 In den Jahren 1848/49 gab es in Kaltensundheim zunächst “gesegnete Ernden”, die Fruchtpreise blieben niedrig und “alles Fleisch war billig”. (Vgl. Walter o.J., S.122f, Marschall/Marschall o.J., S.15.) Hier bestätigt sich noch einmal, daß die Revolution 1848 nicht mit der durch die Agrarkrise ausgelösten Hungersnot zusammenfiel. (Vgl. auch Conze 1970, S.124) Zu den Aufzeichnungen des Jahres 1848 für Kaltensundheim vgl. Marschall/Marschall o.J., S.15 und hier S.39f. Cyriax Walter wurde im Sommer 1848 zum Schultzen des Dorfes gewählt, nachdem “Schultheiß Eichhorn (...) sein Amt mit Furcht nieder(gelegt)” hatte. (Walter o.J., S.122) Mit der Perspektive des Schultheiß notierte Walter für diese Zeit in seinem Tagebuch unter anderem folgendes: “Der Überfluß an Nahrungsmitteln führte zum Übergenuß, an Arbeiten war nicht zu gedenken, der nicht bemittelte suchte durch Drohungen vom bemittelten zu leben - so wurden Bürgerwehren errichtet - und es mußte der Beamte mit eintreten und sich gefallen lassen, mit seinem Nebenmann, einem Fochebaudon, Brüderschaft zu trinken. An irgendeine Bezahlung war nicht zu gedenken, nur frohen Muthes und gut gezecht war die Hauptsache.” (Ebd.) 137 dadurch die Noth einigermaßen zu decken. Das Maas Korn kostete 2 fl. 30 Kr. Es war Geldmangel und dadurch die Noth größer wie 1847, obgleich nicht so theuer.”388 Bis zum Jahr 1863, in dem Johann Adam Rauch starb, sind folgende Entwicklungen überliefert: Im Jahr 1853 sanken nach einer besseren Ernte die Kornpreise nur kurzfristig. Bedingt durch die Kartoffelkrankheit, stiegen sie im Frühjahr 1854 erneut. Durch die geringe Ernte blieben sie auch 1855 hoch, konnten aber durch eine verbesserte Einkommenssituation der Kaltensundheimer ausgeglichen werden: “Die Gewerbe erhoben sich, die Plüschfabrikation wurde eingeführt, wodurch eben die Beschaffung der Lebensmittel nicht drückend wurde.”389 1856 fiel die Ernte etwas besser aus und 1857 war dann “ein gutes Erndejahr”, in dem die Getreidepreise fielen. Auch 1858 gab es “keinen Mangel”. Bei anhaltender Trockenheit waren 1859 “die Ernden spärlich, so daß alles in Preisen stieg.” Das Jahr 1860 bezeichnete Walter dann als “ein ganz ernstes Jahr, späte Ernden, so daß manches nicht reif wurde und auf dem Felde auswuchs.” Auch die beiden nachfolgenden Jahre waren nur teilweise gut, insgesamt eher “leidlich” bis “mittelmäßig”. Erst 1863 wurde wieder eine positive Bilanz gezogen: Im Frühjahr sanken die Korn- und Weizenpreise. Die Getreidepreise blieben auch nach der guten Ernte niedrig und “die Geschäfte in diesem Jahr, namentlich die Plüscharbeit zeigen gut, kein Mangel fühlbar.”390 Die Einführung der Plüschweberei war für Johann Adam Rauch, der aus eigener Kraft keinen Weg aus der Krise fand, insofern bedeutsam, als seine beiden Söhne vermutlich von ihr profitierten und ihre Eltern unterstützten.391 Nach einem wenig chancenreichen Berufseinstieg in den 1840er Jahren stellte die Plüschweberei für Tobias und Johann Nikolaus Rauch neue Perspektiven und ein besseres Einkommen in Aussicht. Sie gewährleistete offenbar über einen längeren Zeitraum ein gewisses Maß an Sicherheit und Stabilität. Lebenslang gesicherte Verhältnisse bot sie nicht. Spätestens seit den 1880er Jahren unterlag die Plüschweberei verschiedenen Schwankungen. Damit blieben auch die Söhne von Johann Adam Rauch in wirtschaftlicher Hinsicht langfristig wiederum abstiegsgefährdert. In der kaltensundheimer Chronik wird ihr Gewerbe zuletzt 1894 erwähnt: “Die Weberei geht in diesem Jahr wieder so schlecht, daß kaum Arbeit vorhanden ist. Die Auftraggeber drücken den Preis von 45 auf 30 Pfg. und der Faktorlohn beträgt nur 3 und 5 Pfg. pro Meter. Es ist sehr schwer, wenn ein Weber es auf 50 Pfg. Tagesverdienst bringen will, d.h. falls er überhaupt Arbeit hat.”392 Während dieser Zeit versuchte 388 Walter o.J., S.123f 389 Ebd., S.124 390 Ebd., S.125. Laut Ortschronik begann der Aufschwung im Gewerbe bereits ab 1860 (“langsam bessern sich die Zeiten”). Vgl. Marschall/Marschall o.J., S.16 391 Auf diese Unterstützung deutet, daß Johann Adam Rauch bei seinem Sohn Tobias starb. 392 Marschall/Marschall o.J., S.19. Die Weberei hielt sich in Kaltensundheim bis ins 20. Jahrhundert. 138 Tobias Rauch, die Notlage seiner Familie durch zusätzliche Einkünfte aus Gemeindediensten zu verbessern. Er war in den 1880er Jahren zeitweilig als Hirte, später dann als Nachtwächter tätig. Auf geringen Verdienst weist bei Johann Nikolaus Rauch, daß er, so der Hinweis im Kirchenbuch, schließlich im Armenhaus starb. 2.1.1.2. Berufliche Qualifikationen: Die ´Unentbehrlichkeit´ im Dorf, ´Geheimwissen´ und Entwertungen kulturellen Kapitals Die soziale Abwärtsbewegung, die sich im Blick auf die Einkommens- und Besitzverhältnisse der Familie langfristig feststellen läßt, betraf ihr ökonomisches Kapital und war begleitet von einem dadurch bedingten Verlust auch an sozialem Kapital. Ein anderes Indiz für die soziale Stellung im Dorf ist der Beruf. In diesem Fall symbolisiert der im 19. Jahrhundert vollzogene Wechsel vom Schmied zum Weber, als Übergang vom besonderen zum Massenhandwerk, einen sozialen Abstieg auch auf der Ebene kulturellen und, wiederum damit verbundenen, Sozialkapitals. Dessen Ausmaß verdeutlichen vor allem generelle Zuschreibungen, auf denen soziale Position und Ansehen der beiden Berufe wesentlich gründeten. Danach rangierten Schmiede und Weber an den verschiedenen Polen innerhalb der Hierarchie handwerklich-gewerblicher Erwerbstätigkeiten. Daneben hingen entsprechende Wertschätzungen aber ebenfalls von den konkreten Entwicklungen des Feldes ab, in dem die Berufe ausgeübt wurden. Längerfristig betrachtet, relativiert sich in diesem Zusammenhang ein stückweit der Eindruck eines plötzlichen Verlusts im sozialen Ansehen, den der Wechsel vom Schmied zum Weber in der Familie Rauch hinterläßt. Zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang schließlich, daß das Ende der Schmiedetradition Johann Adam Rauch zunächst in den Ölhandel führte, demgegenüber sich die Weberei seiner Söhne auch als, allerdings nur begrenzter und nur vorübergehender, Wiederaufstieg deuten läßt. Zu den Merkmalen, die eine generelle Hierarchie im Feld handwerklich-gewerblicher Berufe festschrieben, gehörte zunächst der Gegensatz von Stadt- und Landhandwerk. Die Zunahme ländlicher Gewerbetreibender im 18. Jahrhundert deuteten die Städte als unerwünschte Konkurrenz und teilweise als Bedrohung. Zwar war das Landhandwerk weniger spezialisiert, stand aber dem Stadthandwerk am Ende des 18. Jahrhunderts zahlenmäßig kaum nach.393 Die Zunftgesetze entsprachen 393 Vgl. Lenger 1988, S.18ff 139 unter anderem dem, praktisch dann nicht immer erfolgreichen394, Versuch, das Landhandwerk zu begrenzen und in bestimmten Handwerkszweigen ganz zu unterbinden.395 Allerdings, so Lenger, seien Stadt und Land überwiegend zwei eher eigenständige Wirtschaftsbereiche mit einem jeweils hohen Maß an Selbstversorgung gewesen.396 Entsprechend “(...) sollte man die Konkurrenz, die dem städtischen Handwerker durch das Landhandwerk erwuchs, (...) nicht (allzu hoch) einschätzen.”397 Gleichwohl galten den städtischen Handwerkern die Kollegen auf dem Land primär als “Pfuscher”, was auch im Gegensatz von zünftigem und unzünftigem Handwerk begründet war.398 Im Extremfall wurde das Dorfgewerbe insgesamt als “unehrlich” klassifiziert.399 Die Wertschätzung des Handwerks innerhalb einer Region erfolgte unter anderen Maßgaben. Wichtig war dabei unter anderem die jeweilige Erfordernis bestimmter Berufe für die wirtschaftliche Funktionstüchtigkeit einer Gemeinde. Zwar gehen die Meinungen darüber auseinander, inwieweit eine Existenz auf dem Dorf für den Schmied mit dem Vorteil verbunden war, von der Gemeinde mit Landnutzungen ausgestattet zu werden.400 An der “Tatsache seiner Unentbehrlichkeit”401 auf dem Land allerdings gibt es keinen Zweifel. Mit ihr war auch in rechtlicher Hinsicht stets Akzeptanz verbunden: “(...) und niemals und nirgendwo ist die Rede davon gewesen, dem Dorfschmied das Handwerk verbieten zu wollen.”402 Dazu, daß die Schmiede hier “(...) in hoher Geltung standen (...)”403, trug schließlich ebenfalls bei, daß sie eines der ältesten Dorfhandwerke vertraten. 394 “Der Städtezwang, von dem die preußischen ´Principa regulativa´ von 1718 nur Leineweber, Schneider, Schmiede, Rademacher und Zimmerer ausnahm, blieb schon vor seiner Aufhebung weitgehend wirkungslos. (...)” (Ebd., S.20) 395 In Sachsen-Weimar-Eisenach sah das Gesetz über die Innungen und Zünfte noch 1821 vor: “Ausgehend davon, daß die Handwerke und Gewerbe vorzüglich den Städten angehören, (...) wird nur Meistern von nachbenannten Handwerken: Grob- und Hufschmiden (sic!), Wagnern, Maurern, Tünchern, Ziegeldeckern, Böttchern, Schustern, Schneidern, Leinewebern, Zimmerleuten, Metzgern, Schreinern, Sattlern, Glasern, Bäckern, deren Nähe auch dem platten Lande nicht wohl entbehrlich ist, die Niederlassung in den Dörfern gestattet.” (Gesetz über die Innungen und Zünfte 1821, § 15) Den meisten Handwerksmeistern auf dem Land war “(...) Gesellen zu halten nicht erlaubt (...)”. (Ebd., § 16) 396 Vgl. Lenger 1988, S.20 397 Ebd. 398 Vgl. ebd., S.13ff 399 Vgl. Wissell 1971[1929], S.167. Kritisch dazu Skalweit 1942, S.22ff 400 Vgl. die Hinweise im vorangegangenen Abschnitt 2.1.1.1. 401 Skalweit 1942, S.25 402 Ebd. 403 Ebd., S.24 140 Zuschreibungen in der Frage der “Ehrlichkeit” verdeutlichen sowohl die grundsätzlich geachtete Position der Schmiede als auch die Differenz zum gering geschätzten Weber. Der Begriff der “Ehrlichkeit” bezeichnete in der frühen Neuzeit eine für bäuerliche und bürgerliche Gruppen zentrale Norm. Die Bewertung erfolgte nach Herkunft, Beruf oder Stand und war für das jeweilige Maß an “sozialer Ehre” und gesellschaftlicher Akzeptanz ausschlaggebend. Skalweit führt den Schmied als “Beweis dafür” an, daß “(...) von einer Unehrlichkeit des Dorfhandwerks - ganz generell gesprochen - keine Rede sein kann.”404 Obwohl sich auch der Schmied mit seinem häufig “gar zu tüchtigen Durst” im Volksmund einen Vorwurf einhandelte405, gab es doch grundsätzlich keinen Anlaß, an der Ehrbarkeit des Schmiedehandwerks zu zweifeln. Die Leineweber hingegen waren als “unehrlich” stigmatisiert.406 Ihren Kampf um die Anerkennung ihrer “Ehrlichkeit” hat Wissell seit dem 15. Jahrhundert belegt.407 Durch Polizeiverordnungen und Reichsbeschlüsse war der Makel bis Ende des 18. Jahrhunderts für alle entsprechend ausgegrenzten Berufe dann zwar längst aufgehoben.408 Allerdings erwiesen sich die Vorstellungen von Ehrlichkeit und Unehrlichkeit als “außerordentlich zähe Verhaltens- und Einstellungsmuster”, die “(...) noch lange fort(wirkten).”409 404 Ebd. 405 Vgl. Skalweit 1942, S.24. 406 Von Hippel zählt “eine stattliche Anzahl von Berufen und Personen” auf, die der Gruppe der “Unehrlichen” angehören konnten. (Vgl. von Hippel 1995, S.37) Dabei schloß Unehrlichkeit zwar materiellen Wohlstand nicht aus (z.B. bei den Müllern und Henkern), allerdings waren die betroffenen Gewerbe mehrheitlich nicht nur nach sozialem Prestige, sondern auch im Hinblick auf ihre wirtschaftliche Lage den Unterschichten zuzurechnen. (Vgl. ebd.) - “Für die Entstehung von ´Unehrlichkeit´ läßt sich kein gemeinsamer Ursprung und Grund ausmachen. Sicher ist aber: Erst das städtische Zunftbürgertum hat die Vorstellung von ehrlichen und unehrlichen Gewerben voll entwickelt und - nicht zuletzt durch das Wandern der Gesellen als besonders aktiver Verfechter von Ehrbarkeitsvorstellungen - maßgeblich zur Ausbreitung derartiger Anschauungen bis aufs flache Land beigetragen.” (Von Hippel 1995, S.37). Wissell (1971) [1929] führt die generelle Stigmatisierung der Dorfhandwerker, damit auch die der Leineweber auf dem Land, auf deren “Unfreiheit” zurück. (Ebd., S.167; speziell für die Leineweber vgl. u.a. ebd., S.36 und vor allem S.408ff. Vgl. teilweise kritisch dazu Skalweit 1942, S.22ff) Bei den Leinewebern war der Unehrlichkeitsvorwurf wohl auch durch “alte Tabuvorstellungen” (von Hippel 1995, S.37) verursacht. Belegt ist, daß die Leineweber bei Hinrichtungen für bestimmte Aufgaben herangezogen wurden. Teilweise, wie zum Beispiel auch in Thüringen, wurden sie “(...) noch in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts zur Errichtung des Galgens herangezogen (...).” (Wissell 1971 [1929], S.420, vgl. auch Skalweit 1942, S.39) Schließlich waren bei den Leinewebern auch uneheliche Geburten häufiger, die ebenfalls eine entsprechende Klassifikation als “unehrlich” begründeten. (Vgl. Zunkel 1975) 407 Vgl. Wissell 1971 [1929], S.420ff 408 “Die zunehmende Abwehr der Obrigkeiten gegen das Ausufern von Verrufs-Praktiken im Handwerk richtete sich vor allem gegen die damit verbundenen Autonomieansprüche der Zünfte und die davon ausgehenden Störungen des sozialen Friedens zumindest in der seßhaften Gesellschaft.” (Von Hippel 1995, S.39) 409 Ebd., S.40. Zur “Zählebigkeit” ständischer Traditionen, Denk- und Lebensweisen vgl. auch Rürup 1984, S.84f. Die Leineweber blieben gesellschaftlich gering geachtet. Es wurde ihnen unter anderem “(...) der Vorwurf der Unredlichkeit bei der Ausübung ihres Gewerbes gemacht (...)”, dessen “Tragweite”, so Skalweit, aber nicht überschätzt werden dürfe: “Er ist im Volksmunde auch 141 Die Differenz im sozialen Ansehen von Schmieden und Webern gründete auch auf den unterschiedlich und spezifisch bewerteten Tätigkeitsmerkmalen der beiden Berufe. Das Schmiedehandwerk erforderte vor allem eine besondere Qualifikation. “In den Anfängen der Kultur ist es vor allem die Eisenbereitung und Eisenverarbeitung, die man mit mystischen Vorstellungen umspann.”410 Und ähnlich bemerkt auch Max Weber: “Der Handwerker speziell ist (...) in den Anfängen der Berufsdifferenzierung ganz besonders tief in magische Schranken verstrickt. Denn alle spezifizierte, nicht alltägliche, nicht allgemein verbreitete, ´Kunst´ gilt als magisches Charisma (...).”411 Auch später noch blieben “der Bergmann, der Steinmetz, der Schwertschmied (...) jeweils die Verweser ihrer speziellen Kunst, deren gemeinsamer durch persönliche Vermittlung erworbener Besitz sie selbstverständlich gegen alle Uneingeweihten abschließen mußte.” 412 Entsprechende Auffassungen und mit ihr verbundene Praktiken zur Bewahrung von handwerksspezifischem ´Geheimwissen´ hielten sich noch “(...) in der Periode handwerksmäßiger Produktion (...).”413 Der Schmiedeberuf bewahrte, als ein seltenes Handwerk, seinen besonderen Distinktionswert. Die Verbreitung der ´Schmiedekunst´ blieb, zumal im Dorf, doch auf vergleichsweise wenige Personen beschränkt. Anders verhielt es sich in der Weberei. Zwar gründete auch sie, wie jedes Handwerk, auf einem empirischen Verfahren, auf der Weitergabe “praktisch-persönlichen Wissen(s)” und damit auf “einer rein persönlichen Kunstfertigkeit”.414 Doch war die Weberei eine schon früh in den Alltag integrierte und allgemein verbreitete ´Kunst´, die demnach auch problemloser zu erlernen war und in deren ´Geheimnisse´ zahlreiche Dorfbewohner eingeweiht waren. Daß Schmiedehandwerk und Weberei, vor allem die Leineweberei, entlang dem Gegensatz von ´hoch´ und ´niedrig´ gesellschaftlich verschieden eingestuft waren, wohl anderen Lohnwerkern gemacht worden (...).” (Skalweit 1942, S.39f) 410 Sombart 1987 [1916], 202. “´Wie das Staunen der Menschheit über die wunderbare Kunst, welche es versteht, das harte Metall im Feuer zu schmelzen und kostbare Dinge aus ihm zu schmieden, dazu geführt hat, die Erfindung derselben überirdischen Wesen zuzuschreiben, so kann man sich auch die Ausübung derselben durch irdische Geschöpfe nicht ohne die Zuhilfenahme geheimnisvoller und zauberhafter Mittel vorstellen. Diese Anschauung gilt ... durch ganz Europa (...).´” (O. Schrader, zit. nach Sombart 1987 [1916], S.202f) 411 Weber 1980 [1921], S.294 412 Sombart 1987 [1916], S.202 413 Ebd., S.203. Sombart nennt dafür dann das Beispiel der ´Baukunst´. Vgl. zur “Verschwiegenheitspflicht” der Handwerksmeister auch Wissell 1971 [1929], S.141ff 414 Vgl. Sombart 1987 [1916], S.200ff 142 beruhte nicht zuletzt auch auf dem Verhältnis der Geschlechter und der mit der geschlechtlichen Arbeitsteilung verbundenen Bewertung von Arbeit. An der Leineweberei war die ganze Familie, einschließlich der Kinder, beteiligt. Sie verkörperte mit ihren tendenziell als ´weiblich´ zugewiesenen Eigenschaften keine vollwertige Tätigkeit wie das Schmiedehandwerk, das ja sogar zwei Männer erforderte.415 “(...) die geringe soziale Achtung, die der Leineweber genoß (...)”, ist auch darauf zurückzuführen, daß “(...) gewerbliche Tätigkeit, die auch hauswirtschaftlich, womöglich auch von der Frau geleistet werden konnte, (...) sich nicht mit dem ausgeprägten Standesbewußtsein des Handwerkers (vertrug).” 416 Die genannten Kriterien begründeten ein hohes Ansehen der Schmiede, bei dem ihre materiellen Besitzverhältnisse zunächst unberücksichtigt sind. Hier “(...) wird (man) nicht erwarten, daß jene ständischen, nach Aufwand, Lebensführung und Ansehen - ´Ehre´ - differenzierenden Rangordnungen von beruflich und funktional, teilweise auch durch Herkunft, Bildung und Schichtzugehörigkeit definierten Gruppen eindeutig parallel liefen oder deckungsgleich waren mit den Rangordnungen derselben Gruppen auf der Grundlage der Kriterien ´Einkommen´ und ´Vermögen´.”417 Die soziale Anerkennung der Weber scheint stärker einkommensabhängig gewesen zu sein. Für den Zusammenhang zwischen Anerkennung und Einkommen geben Kaschuba und Lipp ein anschauliches Beispiel: “Den Weber-Schultheiß Jakob Thoma kann es in Kiebingen nach den systemischen Regeln nur vor der großen Krise und vor dem wirtschaftlichen Weber-Sterben geben. Nach der gesellschaftlichen ´Ausmusterung´ dieses Berufes ist das nicht mehr denkbar, weil ein potentieller Versorgungsfall nicht Dorfschultheiß sein kann (auch vom Oberamt nicht akzeptiert würde), und die Weberei als Hauptberuf dann buchstäblich ein ´Armutszeugnis´ darstellt, unabhängig vom Einzelfall. Anders ausgedrückt: Die Weberfamilien repräsentieren jetzt die dörfliche Unterschicht und haben damit zwangsläufig ihre frühere Öffentlichkeitskompetenz verloren.”418 Es mag insgesamt zwar häufiger der Fall gewesen sein, daß die Schmiede über ein 415 Vgl. die Angaben zum Schmiedeberuf in Abschnitt 2.1. dieses Kapitels 416 Skalweit 1942, S.39. Innerhalb dieser Weberfamilien wurden die Leistung und die Rolle der Frau durchaus anders bewertet. Vgl. dazu die Abschnitte unter 2.2. in diesem Kapitel. - Im Blick auf den ´Arbeitsplatz´ ist die Differenz zwischen Weber und Schmied zu ergänzen, der für seine Arbeit eine, außerhalb des Wohnbereichs liegende, Werkstatt benötigte. Zu den “eigenartigen Bedingungen (...), unter denen der Dorfschmied sein Gewerbe auszuüben pflegte”, zählt Skalweit, “(...) daß die Anlage der Werkstatt sowohl, wie der verwandte Rohstoff teuer waren (...).” (Skalweit 1942, S.25) 417 Kocka 1990, S.116 418 Kaschuba/Lipp 1982, S.90 143 höheres Einkommen als die Weber verfügten.419 “(...) die Armut der Leineweber” etwa, so Skalweit, sei “(immer) (...) sprichwörtlich gewesen.”420 Allerdings gab es auch eine ´Blütezeit´ der Gewerbe. Und während des 18. Jahrhundert waren Weber, auch in Kaltensundheim, durchaus in höheren Gemeindefunktionen anzutreffen, die ein gewisses Maß an sozialer Anerkennung erforderten.421 Diese Anerkennung gründete aber vermutlich kaum allein auf dem ausgeübten Beruf, sondern stand in Beziehung zu den weiteren Besitzverhältnissen. Im Hinblick auf das Einkommen hätte es, zumindest zeitweilig, vielleicht kaum einen Unterschied gemacht, ob sich Familie Rauch von der Schmiedearbeit oder von der Weberei ernährte. Auf der Ebene des berufsbedingten Prestiges, der Anerkennung ihres inkorporierten Kulturkapitals, allerdings signalisieren die generellen Zuschreibungen in Verbindung mit dem beruflichen Wechsel recht eindeutige Verluste. Der soziale Abstieg in der Familie Rauch war auch erheblich, er verlief praktisch aber in anderer Weise krass, als sich der Gegensatz von Schmiedehandwerk und Leineweberei darstellt. Und es scheint, ähnlich den wirtschaftlichen Entwicklungen, hier wiederum keinen plötzlichen Bruch, sondern eine längerfristige Abwärtsbewegung gegeben zu haben: Während sich Vater, Großvater und Urgroßvater von Johann Adam Rauch als Hufund Waffenschmiede qualifiziert und jeweils den Meistertitel erworben hatten, blieb er selbst ohne fachliche Spezialisierung und ohne Titel. Unabhängig von den tatsächlichen beruflichen Fertigkeiten und dem realen inkorporierten Kulturkapital war seine Kompetenz allein deshalb sozial weniger anerkannt, weil sie nicht in Form eines Titels objektiviert war.422 Eine Entwertung, die in der Familie erstmals im Fehlen institutionalisierten Kulturkapitals bei Johann Adam Rauch erkennbar wird, war allerdings schon zuvor, ohne deren eigenes ´Zutun´, eingetreten. Der Aufstieg der Gewerbe im 18. Jahrhundert und die damit einhergehende Vernachlässigung des Ackerbaus bedeuteten Veränderungen im gesellschaftlichen Feld, mit denen auch bei gleichbleibender Qualifi419 Dabei konnten die Handwerker beider Berufe durchaus der Armut zuzurechnen sein. Vgl. das Beispiel bei Kocka 1990, S.133. 420 Skalweit 1942, S.39. Wissell nennt unter anderem folgendes Beispiel: “Die Leineweber nehmen keinen Jungen, der nicht sechs Wochen hungern kann.” (Zit. nach Skalweit 1942, S.39, der sich auf die erste, 1929, erschienene Auflage der Arbeit von Wissell stützt.) 421 Die Entwicklungen der Weberei im 18. Jahrhundert gewährleisteten nicht nur ein gewisses Einkommen, sondern auch staatliche Akzeptanz und teilweise Förderung. Vgl. (am Beispiel Preußens) Skalweit 1942, S.34ff 422 Vgl. ebd. 144 kation deren Bedeutung schon zurücktrat. Der Schmied wurde in diesem Prozeß nicht überflüssig, aber doch entbehrlicher. Mit dem Ölhandel wurde das Kulturkapital, das sich Johann Adam Rauch als Schmied angeeignet hatte, schließlich wertlos. Seine neue Erwerbstätigkeit erforderte zwar bestimmte Fähigkeiten im Umgang mit Kunden, aber keine spezifische und dem Schmiedeberuf vergleichbare Qualifikation. Mit dem beruflichen Wechsel verblaßte die dem Schmied zugeschriebene “Ehrbarkeit”, die Johann Adam Rauch bei steigender Trunksucht dann auch auf persönlicher Ebene in zunehmend geringerem Maß verkörperte. Der berufliche Wechsel seiner Söhne markiert einen sozialen Abstieg, bedeutete aber ebenfalls keinen völligen Bruch. Tobias und Johann Nikolaus Rauch knüpften hier an die mütterliche Seite der Familie. Ihre Mutter, Anna Elisabetha Opfermann, kam aus einer Barchentweberfamilie. Als Leineweber, denen speziell der Vorwurf der “Unehrlichkeit” galt, haben Tobias und Johann Nikolaus Rauch sicher nicht gearbeitet. Die berufliche Umstellung verlief im allgemeinen vom Leineweber zum Barchentweber, nicht umgekehrt.423 Daß in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Plüschweberei die überwiegende Mehrheit der kaltensundheimer Weber beschäftigte, läßt vermuten, daß die Brüder Rauch ihren Lebensunterhalt dann ebenfalls in diesem Bereich verdienten. Im Verhältnis zur Leineweberei verhalfen ihn die Plüschweberei vermutlich zu höherem Ansehen, weil sie stärker männlich konnotiert war. Jedenfalls verwies Gau darauf, daß hier der Mann “meistens (...) allein” arbeitete.424 Unter der Voraussetzung, daß “(...) sie das zur Plüschweberei erforderliche Maß körperlicher Kraft besitzen (...)”425, arbeiteten zwar durchaus “(...) zuweilen gleichzeitig die Frau und die erwachsenen Kinder.”426 Für die Bewertung der Plüscharbeit war aber anscheinend weniger die tatsächliche Beteiligung der Frauen ausschlaggebend als die zur Ausübung des Berufs erforderliche Kraft. “Starke” und, bei Gau auch, “geschickte Arme” waren primär den Männern zugeschrieben.427 423 Vgl. Abschnitte 1.3.1. und 1.3.2. in diesem Kapitel 424 Gau 1989 [1889], S.83. Dafür, daß die Plüschweberei vor allem männlich besetzt war, spricht auch ein Eintrag in der kaltensundheimer Dorfchronik aus dem Jahr 1861. Zwar wird nur unspezifisch “die Weberei” genannt; es kann aber davon ausgegangen werden, daß die Notiz die in den 1850er Jahren erfolgreich eingeführte Plüschweberei betraf: “1861 beschäftigt die Weberei wiederum eine große Anzahl von Leuten. (...) Mit Ausnahme der Sattlerkinder lernen alle Knaben Weber.” (Marschall/Marschall o.J., S.16, Hervorhebung A.L.-V.) 425 Gau 1989 [1889], S.87 426 Ebd., S.83 427 Ebd. 145 Das Verhältnis von Leine- und Plüschweberei kam auch in unterschiedlichen Löhnen zum Ausdruck. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren die Leineweber längst weitgehend ´ausgemustert´ und arbeiteten gegen ein entsprechend geringeres Entgelt als die Plüschweber, deren Tätigkeit noch vergleichsweise perspektivreich war. Die Differenz in den Positionen von Leine- und Plüschwebern wurde selbst noch in Gegensätzen wie ´grob´ und ´fein´ oder auch ´gewöhnlich´ und ´exklusiv´ ihrer Produkte und verarbeiteten Materialien symbolisiert. Dem groben Leinenkittel stand unter anderem das feine Mohairgarn als “Rohmaterial für Plüsch”428 gegenüber. Und während Flachs im heimischen Anbau gewonnen wurde, mußten die für die Plüscharbeit erforderlichen Rohstoffe überwiegend aus England importiert werden.429 Die Plüschweberei schließlich fand in der Region scheinbar nicht die Verbreitung, die es innerhalb der Leineweberei auf dem Land gab. Im Verhältnis zum Schmiedehandwerk blieb sie aber doch ein Massenhandwerk mit vergleichsweise weniger ´Geheimwissen´ in der Produktion. Daß die beiden Brüder im Vergleich zum Ölhändler ein spezifischeres Kulturkapital verwerteten, zeigt an, daß in dieser Hinsicht der soziale Abstieg der Familie in ihrer Generation gebremst werden konnte. Diese Einschätzung unterschlägt allerdings die verschiedenen Phasen im Erwerbsleben von Tobias und Johann Nikolaus Rauch. Ihre ersten Berufsjahre lassen sich durchaus auch als Fortsetzung des väterlichen Abstiegs deuten. Ähnlich Johann Adam Rauch hatten sie bei “stockenden” Gewerben zunächst kaum Gelegenheit, ihren Beruf auszuüben. Ohne Verwertungschancen war der Vater, in Bezug auf das generelle Ansehen des angeeigneten Kulturkapitals, im Vorteil. Gegenüber Kenntnissen der ´Schmiedekunst´ blieb die Qualifikation des Webers ein Zeichen gesellschaftlichen Abstiegs.Tobias und Johann Nikolaus Rauch profitierten im weiteren von Entwicklungen im gesellschaftlichen Feld, die ihre erworbenen Kompetenzen aufwerteten. Der gegenüber dem Ölhandel des Vaters erreichte Wiederaufstieg, der sich an die Möglichkeiten der Plüschweberei knüpfte, war allerdings zeitlich begrenzt. Industrialisierungsprozesse, und damit wiederum Entwicklungen im gesellschaftlichen Feld, führten längerfristig erneut zur Entwertung des inkorporierten Kulturkapitals in der Familie Rauch. 428 Ebd., S.81 429 Vgl. ebd. 146 2.1.1.3. Wirtschaftliche und politische Teilhabe: Von der höheren Gemeindefunktion zum ´niederen´ Amt Geregelt über Fragen der rechtlichen Zugehörigkeit zur Gemeinde, waren die Möglichkeiten zur Beteiligung am politischen Geschehen im Heimatort an Vermögen unterschiedlicher Art gebunden. Die ökonomischen Ressourcen waren nicht nur unmittelbar für den täglichen Lebensunterhalt bedeutsam, sondern entschieden im allgemeinen auch über den jeweiligen Rechtsstatus. Dabei galt auf dem Dorf der Landbesitz zunächst als primäres Kriterium, um den Nachbarstatus und, mit ihm verbunden, das Recht auf Mitbestimmung und Übernahme politischer Funktionen sowie auch auf bestimmte Gemeindenutzungen zu erwerben. In der Praxis, und über einen längeren Zeitraum, waren die Modalitäten, nach denen Nachbarschaftsrechte und -pflichten erworben und ausgeübt wurden, allerdings differenzierter geregelt. Konkrete Leitlinien dieser Praktiken lassen sich unter anderem deshalb schwer bestimmen, weil sie, teilweise bis weit ins 19. Jahrhundert hinein, regional und lokal variieren konnten. Der Nachbarstatus blieb, langfristig betrachtet, kein ausschließlich den Bauern vorbehaltenes Recht, wohl aber ein Privileg430, das auch die Schmiedefamilie Rauch erwarb. Dies spricht erneut für eine zunächst eher gehobene soziale Stellung im Dorf. Der soziale Abstieg setzte sich dann nicht durch einen grundsätzlichen Ausschluß auf politischer Ebene fort. Wie ihre Vorfahren, waren auch Johann Adam Rauch, mit dem die Schmiedetradition endete, und seine beiden Webersöhne Nachbarn. Zwei Einschränkungen sind für diese drei Familienangehörigen allerdings doch zu berücksichtigen: Sicher ist zwar, daß sie Nachbarrechte erwarben, also nicht unmittelbar von politischer Beteiligung ausgeschlossen waren. Fraglich ist aber, ob sie kontinuierlich Nachbarn blieben. Die Vermutung, daß ihnen die mit diesem Status verbundenen Rechte zeitweilig entzogen wurden, scheint zumindest nicht ganz unbegründet. Die zweite Einschränkung betrifft die Chancen, höhere Gemeindeämter und -funktionen zu übernehmen. Sie bestanden noch im 18. Jahrhundert, gingen in der Folgezeit aber verloren. Die Position der Familienlinie, 430 Antje Kraus, die die rechtliche Lage als Schichtungsmerkmal versteht, bringt die Bedeutung, die das Nachbar- bzw. Bürgerrecht auch im 19. Jahrhundert noch hatte, in einer kurzen Zusammenfassung zum Ausdruck: “Für die Untersuchung der rechtlichen Lage der Unterschicht im 19. Jahrhundert ist das Bürger- oder Heimatrecht besonders aufschlußreich. In ihm waren nicht nur die Bedingungen und Konsequenzen des Zug- und Niederlassungsrechts fixiert, sondern zugleich der öffentlich-rechtliche und der privatrechtliche Handlungsspielraum des einzelnen bzw. der sozialen Gruppen im wesentlichen bestimmt. Hingen doch u.a. aktives und passives Wahlrecht, das Recht zur Gewerbeausübung, Grundstücke und Gebäude am Wohnort zu besitzen, eine Ehe einzugehen oder im Notfall Armenunterstützung zu empfangen von der Position ab, die der einzelne innerhalb der möglichen rechtlichen Beziehungen zu seiner Wohngemeinde innehatte.” (Kraus 1981, S.245) 147 der Johann Adam Rauch und seine Söhne angehörten, wurde auch im Verhältnis zu anderen Linien der ´Großfamilie´ Rauch geschwächt. Dabei ist die politische Teilhabe nur ein Indiz dafür, daß die Linie von Johann Adam im innerfamiliären Vergleich langfristig zu den Verlierern gehörte.431 Bernd Schildt hat in einer neueren Arbeit ausführlich die ländlichen Rechtsquellen Thüringens für die frühe Neuzeit untersucht.432 Einige Hinweise auf die konkrete Untersuchungsregion stammen aus den 1930er Jahren, von Fritz Rollberg.433 Die wichtigsten Formen ländlichen Rechts waren zunächst die Weistümer, von denen auch zwei aus Kaltensundheim, datiert auf die Jahre 1447 und 1468, überliefert sind.434 Seit dem 16. Jahrhundert wurden die rechtlichen Grundlagen des Zusammenlebens dann in den Dorfordnungen festgehalten.435 Unterschieden sich Weistümer und Dorfordnungen einerseits darin, “(...) daß in der Regel erstere stärker vom bäuerlichen, letztere hingegen intensiver vom herrschaftlichen Willen bestimmt (...)”436 waren, wiesen sie andererseits zahlreiche Gemeinsamkeiten auf.437 “Grundsätzlich gilt”, so Schildt, “daß weder die Weistümer gänzlich frei von herrschaftlichem Einfluß sind noch die Dorfordnungen ausschließlich Herrenrecht verkörpern. (...)”438 431 Vgl. dazu vor allem Abschnitt 2.1.1.5.3. in diesem Kapitel. 432 Vgl. B. Schildt 1996. Zur Verfassung der Landgemeinden Thüringens im hohen und späten Mittelalter vgl. auch Patze 1974, S.351ff. 433 Vgl. Rollberg 1934. Rollberg stützt sich auf Quellen aus Orten, die im Süden des Eisenacher Oberlandes liegen. Vgl. ebd., S.770f (Anm.1) - Zu den deutschen ländlichen Rechtsquellen liegen inzwischen umfassendere Forschungen vor. Vgl. unter anderem die beiden Sammelbände von Blickle (1977, 1998), in denen auch zahlreiche weiterführende Literatur angegeben ist. Bereits aus dem 19. Jahrhundert stammt die Arbeit Maurers zur Geschichte der Dorfverfassung in Deutschland. (Vgl. von Maurer 1961 [1865-66]). - Auf ländliche Rechtsquellen nehmen in Teilen auch Wunder (1986) und Trossbach (1993) bezug. Explizit die Rechte der Tagelöhner im 18. Jahrhundert hat ausführlich Simon (1995) bearbeitet. Kraus (1981) behandelt die rechtliche Lage der Unterschichten im 19. Jahrhundert. 434 Aus dem Jahr 1447 stammt ein “Weisthum der Zent Kaltensundheim”, von 1468 ein “Weisthum zu Kaltensondheim”. Beide sind überliefert bei Grimm 1842, S.578ff, S.580f. Die Weistümer sind auch in die Untersuchungen von B. Schildt (1996), Rollberg (1934) und Patze (1974) eingegangen. Vgl. auch Gemeinde Kaltensundheim 1995, S.17. Rollberg (1934) zufolge “(...) ist mit dem Weistum der Cent Kaltensundheim vom Jahre 1447 die früheste erhaltene Kunde eines Dorfrechtes (für unsere thüringische Heimat) gegeben.” (S.769) 435 Die Dorfordnungen wurden “zur bestimmenden Form ländlicher Rechtsquellen wohl nicht nur in Thüringen. (...)” (B. Schildt 1996, S.42) Vor 1500 sind dort “(...) nur wenige Dorfordnungen belegt, von denen manche der Sache nach Weistümer sind.” (Ebd., S.40) Laut Rollberg (1934) “(...) ist Thüringen (im allgemeinen) arm an Weistümern.” (S.769) 436 B. Schildt 1996, S.15 437 Vgl. ebd., S.30 438 Ebd., vgl. auch ebd., S.178f und Trossbach 1993, S.21. “Die Mehrzahl der Bestimmungen in den Dorfordnungen zum bäuerlichen Wirtschaftsbetrieb und viele verfassungsrechtliche Normen erscheinen als autonome Angelegenheiten der Gemeinde. Vielfach waren sie es sicher auch, weil 148 Ländliches Recht war “grundsätzlich auf Kontinuität ausgerichtet” und erwies sich als entsprechend beharrlich. Zwar kann aus den Rechtssätzen nicht ohne weiteres geschlossen werden, daß sie seit dem frühen Mittelalter unverändert galten.439 Dennoch “(...) vermitteln die Quellen (insgesamt) ein Bild, das auf grundsätzliche Kontinuität der ländlichen Rechtsverhältnisse bis ins 18./19. Jahrhundert schließen läßt.”440 Die von den Dörfern jeweils spezifisch gestalteten Ordnungen konnten bis weit ins 19. Jahrhundert gültig bleiben.441 Dabei zogen Bemühungen seitens der “Bürokratie”, die auf einheitliche “lokale Verhältnisse” zielten, in Deutschland teilweise durchaus schon um 1700 neue, allgemeine Dorfordnungen nach sich.442 Aber “ungeachtet aller staatlich-bürokratischen Versuche, die gemeindlichen Verhältnisse zu vereinheitlichen, dokumentieren die überlieferten Akten immer die Verhältnisse einzelner Gemeinden und deren besondere Rechte. Einen allgemeinen staatsrechtlichen Gemeindebegriff gab es im 18. Jahrhundert noch nicht.”443 Im Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach wurde die Verfassung der Landgemeinden im Jahr 1840 durch eine Allgemeine Landgemeindeordnung geregelt444, deren Reform im Jahr 1850 in Kraft trat.445 der Grundherr - es sei hier noch einmal ausdrücklich auf die Tatsache verwiesen, daß dies in den meisten Fällen der jeweilige Landesherr selbst war - normalerweise kein Interesse an den ´inneren´ Angelegenheiten der Dorfgemeinde hatte. (...)” (B. Schildt 1996, S.43. Vgl. zum Rechtscharakter der Dorfordnungen ebd., S.43ff. Zu den Landesordnungen, mit denen die Rechtsverhältnisse festgelegt wurden, und dem Verhältnis von Dorfordnung und landesherrlicher Gesetzgebung vgl. ebd., S.66ff) 439 B. Schildt 1996, S.49f 440 Ebd., S.51 441 Vgl. Rollberg 1934, S.770 442 Vgl. Wunder 1986, S.14f 443 Ebd., S.16 444 Vgl. Burckhard 1844, S.131f. Bereits 1821 waren auf dem Landtag bestimmte Grundzüge einer “allgemeinen Gemeindeverfassung” verhandelt worden. (Ebd.) “Für das Eisenacher Oberland z.B. liegt aus dem Jahre 1821 eine Bestimmung vor, nach der, um das Gemeindewesen einheitlich neu zu regeln, alle Dorfordnungen zu sammeln waren. (...)” (Rollberg 1934, S.770) Bevor 1840 die Allgemeine Landgemeindeordnung in Kraft trat, hatten zunächst die meisten Städte des Großherzogtums, “auf verfassungsmäßigem Wege”, Stadtordnungen erhalten. (Burckhard 1844, S.132) 445 Der kaltensundheimer Bürgermeister Cyriax Walter notierte in seinem Tagebuch: “(...) anders wurde es im Staatsleben, man schuf Kreisgerichte, Schwurgerichte, Bezirkssteuerinstitutionen usw., Verwaltungsämter, Justizämter. (...)” Nach dem neuen Wahlgesetz waren 1850 ein Bürgermeister als “Ortsvorstandt” und ein Stellvertreter “auf 6 Jahre” zu wählen. Außerdem wurden “statt der bisherigen Gemeindevorstehern, (...) 9 Gemeinde Mitglieder als Gemeinderäthe gewählt, welche sämtliche Gemeinde Angelegenheiten zu vertreten verpflichtet und somit die ganze Gemeinde vertreten (...).” Daß Walter bei der Bürgermeisterwahl mit 73 Stimmen die absolute Mehrheit erreichte, weist auf die begrenzte Zahl der Wahlberechtigten. “Das Amt”, so schrieb Walter, “wurde für die Folge schwieriger, da dem Ortsbürgermeister die Polizei Verwaltung übertragen, und die Gemeinde von der Bevormundung des Amtes entbunden wurde.” (Walter o.J., S.123) 149 WEISTHUM ZU KALTENSONDHEIM. 1468 Wir schultheiß, heymburger vnd die zwelffer, auch die gemeind des dorfs tzu Kalthensontheim bekennen vnd thun kunt gein allermeinglich mit diessem offen briue, das wir jerlich alle sanct Petersgericht diesse hernach geschriebene stul vnd artickel an vnserm dorfgericht zu Kaltensondheim, so ein voit zu Lichtenberg das besitzt, zu recht teylen. Zum ersten teylen wir, wer den grosszen thurn zu Lichtenberg inne hat, alle mogliche gebott vnd ein dorfgericht im dorf zu sietzen viertzehen tag vor ader nach sanct Peterstag kathedra, so dick des not thut vnd darinnen zu helffen vnd zu enthelffen; doch were eins gerichts darnach hie bedarf, der sal es schicken mit voyten vnd lehenherren an der nachgebaur schaden. Wir teylen denselben auch alle thore vnd sloß offen vnd auf allen gutern im dorf herberg vnd leger, vnd wil er herfart haben, so sal er mit ime brengen wein vnd brot, gebricht ime, so mag er vnter die hertt vihes schicken vnd nemen ein nöß, welchs er wil, vnd wene er trift, der sal den schaden haben, vnd ime die nachgebauer nit betzalen. Item wir teylen als vil lehenherren des dorfs, als ir sind, vnd doch ein voyt zu Lichtenberg ein oberster herr ist, so mag ein iglicher lehenherr vmb sein rechten zins pfenden, wil er aber dem armen man vnrecht thun, so mocht derselbe arme queres vber den weg zihen, so sal ime eyn voyt zu Lichtenberg verteydingen vnd bey recht behalten. Wir teylen holtz und felt den nachgebauren im dorf, wonne vnd weyde, wasszer vnd wag, als weit die mark ist; hat vns ein voyt zu Lichtenbergk vmb ein schefer here gein Sontheim zu legen gebeten, das haben wir ime nit versagt, doch zu huten an der nachgebauer schaden. Wir teylen, wer vmb erblich gut oder anfelle clagen will, der sol es an eim dorfgericht thun, vnd wan er also clagen wil, so sal er funf schillinge in das gericht legen, vnd sal seinen lehenherren oder sein scheinberlichen poten geinwertig haben. Wir teylen auch, were funf schilling werdt erblicher guter im dorf habe, der mag breuen, schencken, backen vnd schlachten mit gerechter maß, vnd sal das lasszen kiessen. Wir megen auch vmb vnser einigung vnter eynander pfenden. Wir teylen auch, das juncker Bartholomis von Bibra drey eimer banweins zu schencken hat auf vier gütern vnd sechs hofstetten, den auch zu thun auf den Christabent zu mittag, zu schencken viertzehen tag, vnd in des sal kein lessig zapff zu gehen. Item teylen auch, wer erblich gut wil verkeufen, der sal das den erben, nemlich den nechsten anbieten drey viertzehen tag, vnd darnach sein surchgenosszen (?furchg.), als recht ist. Wir teylen auch, were schaff haben wil, verschutt er die im dorf, der bedarf dem voyt nich dauon geben. Vnd das solchs also wie obgeschrieben steet vngeuerlich von alters auf vns kommen sey, wir nit anders wisszen, das sprechen wir alle vnd vnser iglicher besonder auf die eyde, die wir den hochgeborenen herren hern Friderichen vnd hern Otten, grauen vnd heren zu Hennebergk vnsern gnedigen hern gethan, vnd haben des zu urkundt mit fleiss gebethen den erbarn vnd vesten junckern Paulen naebenanten voyt zu Fladungen vnsern lieben junckern, das er sein insigll auf diessen brief gedruckt hat, vns aller obgeschrieben ding damit zu bezeugen. Solcher siglung ich itzunt gnant Pauls also von beth wegen bescheen bekenne, doch mir vnd mein erben ohn schaden. Der geben ist am freitag nach sanct Laurentzentag nach Cristi geburt viertzehen hundert vnd ein acht vnd sechtzigsten jaren. Zit. nach Jacob Grimm 1842, S.580f Das ländliche Recht zielte vor allem auf stabile gesellschaftliche Verhältnisse im Dorf. Dem entsprachen bestimmte Regelungsgegenstände der Dorfordnungen: “(...) Gemeindeversammlung, Aufgaben und Befugnisse dörflicher Amtsträger, Hirtenrecht, Hegung von Feldern und Wiesen, Holznutzung, Besuch des Gottesdienstes, Verbot unrechter Wege, Aufnahme Fremder, Grasen, Haftung für das Gesinde, Friedensgebot in der Schenke und bei der Gemeindeversammlung, Brandschutz, Begrenzung der Viehhaltung, Back-, Brau- und Schankrecht usw. (...)”446 Dabei ist im Grundsatz zunächst von einer strikten Trennung zwischen “Rechtlern” und 446 B. Schildt 1996, S.58. Dies sind die typischen Regelungsgegenstände. “Jedoch enthält kaum eine Dorfordnung in ausgewogenem Umfang Bestimmungen zu allen typischen Regelungsmaterien. Einzelne spezifische Gegenstände, wie z.B. das Schankrecht, unterlagen offenbar regionalen Besonderheiten. (...)” (Ebd.) Neben Dorfordnungen gab es in der thüringischen Rhön in den Orten, die vor allem von der Viehzucht lebten, zusätzliche Viehordnungen. Rollberg (1934) nennt als Beispiel Frankenheim. (S.770) 150 “Nichtrechtlern” der Dorfgemeinde auszugehen: “Nach außen trat die Gemeinde durch ihre Amtsträger sowohl gegenüber dem Grundherrn bzw. Amt als auch gegenüber Fremden politisch wie rechtlich als Einheit auf. Eigentlicher Träger des politisch- rechtlichen Lebens im Dorf war aber die Realgemeinde. Die Zugehörigkeit zu dieser Gemeinde im engeren Sinn war grundsätzlich dinglich determiniert. Sie erwuchs aus dem Besitz einer Hofstätte im Dorf, ergänzt durch Liegenschaften in der Gemeindeflur. Die Gemeinde im Rechtssinn, wie sie uns ausnahmslos in den Quellen entgegentritt, erweist sich somit im Kern als eine genossenschaftliche Vereinigung der im Dorf ansässigen Grundbesitzer. (...) Zwischen diesen Rechtlern und den nicht zur Realgemeinde gehörigen Nichtberechtigten (Hausgenossen, Mietlinge, Häusler, Dorfhandwerker, Gesinde) (...) verlief eine deutliche politischrechtliche und soziale Trennlinie. (...) Letztere unterlagen zwar den reglementierenden Bestimmungen des dörflichen Rechts bzw. bildeten seinen Gegenstand und mußten sich z.T. auch an den Gemeindearbeiten beteiligen (...), waren aber als Nichtrechtler vom aktiven politischen Geschehen in der Gemeinde, d.h. von allen Formen dörflicher Selbstverwaltung ausgeschlossen. (...).447” Die Realgemeinde wurde von den Nachbarn gebildet. Der Erwerb der Nachbarrechte war in Verbindung mit verschiedenen Nutzungsrechten zum einen in ökonomischer Hinsicht bedeutsam. Zu ihnen gehörten “(...) wirtschaftliche Berechtigungen wie: Brau-, Back- und Schankrechte sowie spezielle Formen der Gemeindenutzungen (Holz- und Waldnutzungsrechte, Fischereirechte).”448 Zum anderen ermöglichte der Status des Nachbarn politische Teilhabe. “Die Willensbildung innerhalb der thüringischen Landgemeinden erfolgte im wesentlichen durch die Gemeindeversammlung (...).” Als eine der “tragenden Säulen der dörflichen Verfassung (...) (erfaßte)” sie “alle Mitglieder der Realgemeinde (...)”449, deren Recht auf Teilnahme an der gemeindlichen Zusammenkunft zugleich eine Pflicht war.450 Schildt vermutet, daß die Gemeindeversammlung in Thüringen, zumindest bis ins 447 Ebd., S.79f. Vgl auch Endres 1977, S.165f. Endres führt als “dritte Gruppe in der sozialen Gliederung des Dorfes”, neben Rechtlern und Nichtberechtigten, die sog. “Beisassen” ein: “Unter ´Beisassen´ verstanden die Rechtsquellen zum einen die im Dorf lebenden herrschaftlichen Amtspersonen, etwa die Förster, Jägermeister oder Schultheißen, sowie den Schulmeister und den Pfarrer, die der ´Dorfhonoration´(...) zugezählt wurden, und zum anderen in der Regel auch die Mitglieder der Dorfgewerbe, wie den Bader, den Müller, den Schankwirt, den Schmied und den Wagner. (...).” (Ebd., S.170) 448 B. Schildt 1996, S.144. Dem zuvor wiedergegebenen kaltensundheimer Weistum von 1468 zufolge durfte nur derjenige brauen, schenken, backen und schlachten, der ein Gut im Wert von 5 Schilling besaß. - Auf die allgemeinen Rechte und Pflichten der Nachbarn geht auch Meyer-Palmedo (1985, S.30ff) ausführlicher ein. Vgl. außerdem Ogris 1984, zum Nachbarrecht Kramer 1984. 449 B. Schildt 1996, S.81 450 Vgl. ebd., S.82. Vgl. auch Trossbach 1993, S.21f 151 18. Jahrhundert, hauptsächlich unter Ausschluß der übrigen Dorfbewohner abgehalten wurde.451 Gegenstand der Versammlung waren im allgemeinen das Verlesen der Dorfordnung452 sowie jeweils anfallende “Gemeinde- und (...) Amtssachen”, die zum Beispiel Verstöße gegen das Dorfrecht und Angelegenheiten der Herrschaft betrafen.453 “Alle Teilnehmer der Gemeindeversammlung hatten das Recht, sich zu jeder Angelegenheit zu äußern. (...)”454 Von den Nachbarn wurden auch die gemeindlichen Amtsträger gewählt.455 Nachbarrechte waren ursprünglich nur für die Bauern vorgesehen. An entsprechende Voraussetzungen war auch ihr Erwerb gebunden: Typische Anforderung war “der Besitz eines mit Nachbarrecht ausgestatteten Bauerngutes, bestehend aus einer mit Feuer und Rauch versehenen Hofstätte im Dorf und Liegenschaften in der Flur (...). Grundbesitz allein reichte in der Regel nicht aus. (...)”456 Den übrigen Dorfbewohnern blieb die Möglichkeit zum Nutzen an der Gemeinheit und zur Be- 451 “Obwohl die Beratungsinhalte der Gemeindeversammlung teilweise für alle Einwohner relevant waren, wie z.B. das Verlesen der Dorfordnung, blieb es bei der Teilnahme der Nachbarn, also eines gemessen an der Gesamtbevölkerung außerordentlich begrenzten Personenkreises. Diese waren als Hauswirte offensichtlich für die Information über die Gemeindebeschlüsse und die herrschaftlichen Festlegungen und vor allem für deren Realisierung durch die in ihrem Haus lebenden Personen - Familienangehörige, Gesinde, Hausgenossen - verantwortlich. (...)” (B. Schildt 1993, S.88f) In “vielen” Dorfordnungen war das Verbot betont, das während der Gemeindeversammlung Besprochene vertraulich zu behandeln. (Vgl. ebd., S.86) - Einer Öffnung dörflicher Verfassungsstrukturen, die zumindest passive Beteiligung aller Dorfbewohner an Gemeindezusammenkünften ermöglichte, ging seit dem Ende des 30jährigen Krieges obrigkeitlicher Druck voraus. (Vgl. ebd., S.82 (Anm. 30)) Wunder weist darauf hin, daß die Handlungsspielräume der Gemeinde mit dem Einfluß des frühmodernen Staates, der zunehmend “(...) Sorge für ´gute Ordnung und Polizey´ übernahm (...)”, eingeschränkter wurden. Demnach wurde die Gemeindeversammlung häufig auf das Verlesen der Gemeindeordnung reduziert. Dabei wurde, so Wunder, im 18. Jahrhundert die Beteiligung aller Dorfbewohner an der Gemeindezusammenkunft “verlangt”. (Vgl. Wunder 1986, S.98) 452 Vgl. B. Schildt 1996, S.88 453 Trossbach (1993) geht davon aus, “(...) daß in den Versammlungen Termine festgesetzt, Überfahrtsrechte geregelt und Allmendestücke verteilt wurden”. (Ebd., S.22) Daß bei den Gemeindeversammlungen die “Interventionen von Ortsherrschaft oder Staat” im allgemeinen “gering” waren (ebd.), bestätigt B. Schildt auch für Thüringen: “Der direkte Einfluß des frühneuzeitlichen Territorialstaates auf die gemeindlichen Zusammenkünfte scheint in Thüringen eher bescheiden gewesen zu sein.” (B. Schildt 1993, S.87) Endres zufolge kann den fränkischen Dorfordnungen, auf die sich seine Untersuchung vor allem stützt, “(...) deutlich entnommen werden (...)”, daß der “jeweilige Einflußgrad” dörflicher Selbstverwaltungsorgane “(...) örtlich und zeitlich unterschiedlich war”. (Endres 1977, S.170) 454 B. Schildt 1996, S.85 455 Vgl. ebd., S.95 und Trossbach 1993, S.22 456 B. Schildt 1996, S.144f. Außer “(...) dinglichen Voraussetzungen wurde allgemein ein zusätzlicher Einkauf zu Nachbarrecht bei der Gemeinde verlangt.” Dies “(...) erfolgte mit Naturalien, z.B. durch einen Eimer Bier, ein Brot und zwei Käse. (...) Wahrscheinlich wurden diese Lebensmittel ursprünglich von den Nachbarn gemeinsam verzehrt und der neue Bauer bei dieser Gelegenheit als vollberechtigtes Mitglied in die dörfliche Gemeinschaft aufgenommen. (...)” (Ebd., S.145). 152 teiligung am Geschehen in der Gemeinde zunächst verschlossen.457 Diese strikte Trennung von Rechtlern und Nichtrechtlern war keine Besonderheit Thüringens, sondern als ein wesentliches Moment ländlicher Sozialstruktur und dörflichen Zusammenlebens weithin üblich und verbreitet. Konnten die verschiedenen ´Besitzklassen´ im Dorf ihren Anspruch auf Nutzungsrechte und politische Beteiligung durchsetzen, dann zu unterschiedlichen Zeitpunkten und überwiegend wohl auch nicht in gleichem Ausmaß. Aussichtsreich war dies zuerst für die Kleinbauern. Da “durch Hofteilungen und Neuniederlassungen (...) unterschiedliche Betriebsgrößen mit unterschiedlicher Wirtschaftskraft (entstanden)”, schieden sich die Bauern längerfristig in Vollbauern und Kleinstellenbesitzer.458 Letztere sahen “in der Regel (...), nach längeren Auseinandersetzungen und internen Kämpfen”, ihre Forderungen nach vollen Nutzungsrechten doch zumindest teilweise eingelöst, indem sie immerhin “beträchtliche Anteile ” zugestanden bekamen. In den Dorfordnungen werden beide Gruppen “im allgemeinen” als Rechtler ausgewiesen.459 Obwohl ihre Rechte zum Nutzen an der Gemeinheit hierarchisch gestuft waren, was im allgemeinen auch für die Pflichten gegenüber der Gemeinde gilt,460 waren Vollbauern und Kleinbauern “(...) - von Ausnahmen abgesehen - (...) politisch und rechtlich gleichgestellt, was sich in der gleichrangigen Mitarbeit an der Gemeindeselbstverwaltung niederschlug.”461 Die Rechtler waren zwar keine sozial homogene Gruppe, brachten aber in der Abgrenzung gegenüber den Nichtberechtigten ihr Zusammengehörigkeitsgefühl deutlich zum Ausdruck. “(...) ihre früheren Auseinandersetzungen” waren “längst vergessen”, als sie “gegen den Druck von unten”, der mit der Zahl von Besitzlosen stieg, die sich vor allem seit dem Ende des 30jährigen Krieges auf dem Land 457 Dies machte sich vor allem nach dem Ende des 30jährigen Krieges und im 18. Jahrhundert, aber auch in vorausliegenden Phasen starken Bevölkerungswachstums bemerkbar. In der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts hatte, verursacht durch die Pest, die Bevölkerungszahl “(...) schätzungsweise um ein Viertel bis ein Drittel (...)” abgenommen. (Von Hippel 1995, S.13). Das anschließende Bevölkerungswachstum bewirkte eine Zunahme der Dorfbewohner, “(...) die nicht mehr ´richtige´ Bauern werden konnten und minderberechtigt oder von der ´Gemeinde´ ganz ausgeschlossen waren. Die Gemeinde wurde also vom inklusiven zum exklusiven Verband.” (Wunder 1986, S.19) 458 Endres 1977, S.166 459 Ebd. 460 Vgl. ebd., S.167 461 Ebd., S.168. “Nicht nur, daß auch Kleinstellenbesitzer oder nur Teilberechtigte in der Regel freien Zugang zu sämtlichen Gemeindeorganen und Gemeindeämtern hatten, viele Dorfordnungen schrieben sogar ausdrücklich vor, wahrscheinlich als Ergebnis längerer Auseinandersetzungen, daß Bauern und Köbler zu gleichen Teilen die Gemeindeämter besetzen sollten (...).” (Ebd., Köbler ist eine der in Schwaben und Franken verwendeten Bezeichnung für Kleinstellenbesitzer. Vgl. ebd., S.162) 153 ansiedelten, “gemeinsame Politik betrieben”.462 Wunder zufolge wurden “von dieser neuen Gruppe angemeldete Ansprüche (...) überall abgewehrt”.463 Auch Endres betont, daß ihre Durchsetzung “(...) ausnahmslos das Ende einer langen Kette von innerdörflichen Auseinandersetzungen und Kämpfen (war)”464, in denen die Landesherren den wirtschaftlich Schwachen ihren Beistand gewährten, weil sie “(...) zur Vermehrung ihrer Einnahmen an neuen abgabefähigen Untertanen interessiert waren (...)”.465 Die Unterschichten führten ihren Kampf um Gleichstellung regional und lokal verschieden, und auch mit unterschiedlichem, häufig eher mäßigem, Erfolg.466 Letztlich, so Wunder, “(hat) die formale Beteiligung der Klein- oder sogar der Kleinstbauern an den gemeindlichen Institutionen (...) die Oligarchie der großen Bauern nicht verhindert”.467 Hier ist zu berücksichtigen, daß die Verhältnisse im Untersuchungsgebiet durch kleinbäuerlichen Besitz, Realteilung und die Notwendigkeit zum gewerblichen Betrieb spezifisch charakterisiert waren. Trossbach weist darauf hin, daß “das Vorhandensein bzw. Fehlen von Großbauern in den Gemeinden (...) für die Sozialstruktur insgesamt Auswirkungen (hatte)”.468 Daß in Gebieten mit kleinbäuerlicher Struktur wie in der Rhön “(...) die Auswirkungen innerdörflicher Hierarchien angesichts der Notwendigkeiten zum gemeinsamen Überleben zurücktraten (...)”, erscheint plausibel.469 Allerdings bestätigen Rollbergs Befunde den exklusiven Charakter der Nachbarrechte auch für das Eisenacher Oberland. Den von ihm untersuchten Dorfordnungen zufolge gab es auch in dieser Region zunächst nur zwei, durch ihre Besitzverhältnisse geschiedene, Gruppen von Nachbarn: “Die bevorrechtetste Klasse, die Anspänner, hatten Pferde zur Bewirtschaftung ihres Landes. Ihre Fron war Fahrdienst. Rindvieh hatten sie natürlich auch.” Die zweite Gruppe bildeten die “Hintersassen, auch Handbauern, weil ihre Fron in Handarbeit bestand.” Sie “waren vollberechtigte Gemeindeglieder. Ihr Spannvieh waren Kühe, weshalb sie auch 462 Endres 1977, S.173 463 Wunder 1986, S.96 464 Endres 1977, S.172 465 Wunder 1986, S.97. Vgl. auch Endres 1977, S.172f 466 Vgl. ebd., S.173f 467 Wunder 1986, S.97 468 Trossbach 1993, S.38 469 Trossbach spricht von “einleuchtend”. (Ebd., S.39) Er nennt als Beispiel in diesem Zusammenhang die Ritterherrschaften Gersfeld und Tann in der Rhön. 154 Kuhbauern genannt wurden.”470 Von Nachbarrechten ausgeschlossen waren die sog. Einmietlinge. Diese auch “Hausgenossen” genannte Gruppe “(...) hat es in unseren Dörfern gegeben; die Ordnungen erwähnen sie nicht, weil sie rechtlos waren. Für sie haftete der Hauswirt in allen Dingen.”471Gegenüber dieser Eindeutigkeit wirken Rollbergs Ausführungen zu den “Häuslern” zunächst etwas irritierend:“Häusler, Inhaber eines Hauses, meist Tagelöhner auf den Gütern oder bei den Bauern, auch Handwerker, sind ebenfalls vollberechtigte Gemeindeglieder. Sie waren zur Jagd handfronpflichtig. Die Landesordnung vom Jahre 1589 verbot ihnen das Halten von Tauben und Schafen, falls sie kein Feld besaßen. Sie kommen in unserem Bezirk nicht vor.”472 Da es den hier als Häusler zusammengefaßten Kreis von Dorfbewohnern im Eisenacher Oberland natürlich gab, kann vermutlich nur gemeint sein, daß diese Hausbesitzer in den Dorfordnungen der Region nicht als Nachbarn auftauchen und damit keine vollberechtigten Mitglieder ihrer Gemeinde waren. In anderen Gegenden des Herzogtums scheint es demnach aber durchaus der Fall gewesen zu sein. In der Familie Rauch erwarben seit der Generation des 1681 geborenen Johannes (Hanß) Rauch, bis hin zu den beiden Webern Tobias und Johann Nikolaus Rauch, alle männlichen Nachkommen der Familie das Nachbarrecht. Daß “(es) im Rahmen eines praktisch permanent stattfindenden sozialen Differenzierungsprozesses (...) innerhalb der frühneuzeitlichen Dorfgemeinde nicht selten zu gesellschaftlichen Umschichtungen (kam), bei denen die genannte Trennlinie rechtlich wie faktisch kein unüberwindliches Hindernis darstellte (...)”, hat Bernd Schildt für Thüringen insgesamt festgestellt. “So war der Einkauf zu Nachbar- oder Bauerrecht (...) im Prinzip in fast allen Dörfern möglich, wenn auch im einzelnen unter lokal modifizierten Bedingungen.”473 Für Kaltensundheim sind weder Auseinandersetzungen um die Nachbarrechte noch der Zeitpunkt belegt, mit dem sie auch von nichtbäuerlichen Dorfbewohnern erworben werden konnten. Daß in den Kirchenbüchern für die Vertreter der beiden ältesten Generationen der Familie Rauch, für Konrad (Cuntz) und seinen 1654 geborenen Sohn Johannes, der Status des Nachbarn nicht erwähnt wird, kann nicht 470 Rollberg 1934, S.774 471 Die Einmietlinge zahlten der Gemeinde Schutzgeld. “Sie leisteten nur geringe Frondienste, da sie nur wenig seßhaft waren.” Ebd., S.775 472 Ebd., S.774 473 Ebd., S.81 155 als Hinweis auf eine an herkömmlichen Restriktionen orientierte politische Praxis noch während des 17. Jahrhunderts gedeutet werden. Bis in die 30er Jahre des 18. Jahrhunderts wurde der rechtliche Status der Dorfbewohner hier im allgemeinen von nur sehr vereinzelten Ausnahmen abgesehen - nicht angegeben. Anzunehmen ist, daß auch die ältesten Angehörigen der Rauch-Familie mit ihrem kleinbäuerlichen Besitz bereits Nachbarn waren. Die Frage, wie sich die Modalitäten zum Erwerb der Nachbarrechte in Kaltensundheim bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts konkret veränderten, welche Kriterien also im einzelnen zu erfüllen waren, ist offen. Eine Grundvoraussetzung blieb sicherlich auch hier unverändert, die Zugehörigkeit zum männlichen Geschlecht. ´Rechtler´ waren im allgemeinen Männer. Ausnahmen wurden bei Witwen gemacht, die einem Haushalt vorstanden.474 Und im nahe Kaltensundheim gelegenen Frankenheim waren sogar “(...) geschwächte ledige Frauen” als “halbe Nachbarn” offenbar mit Rechten ausgestattet.475 In der Regel aber blieben sie von politischer Teilhabe ausgeschlossen.476 Auch unter den Frauen der Familie Rauch gab es keine Nachbarn. “Was für die Gemeindeversammlung als das am ehesten ´demokratische´ Organ gilt, versteht sich nahezu für alle Institutionen der Gemeinden im 18. Jahrhundert: Als Ansprech- oder Konfliktpartner der Herrschaft war ´die´ Gemeinde im 18. Jahrhundert männlichen Geschlechts.”477 Im Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach sah die Allgemeine Landgemeindeordnung von 1840 für die Aufnahme der Nachbarn dann vor, daß “die Verschiedenheit des Geschlechts, Alters und Standes, sowie der christlichen Religionsparteien, (...) hinsichtlich der Aufnahmebedingnisse keinen Einfluß (äußert).” 478 Für die Männer blieb die politische Öffnung ebenfalls begrenzt. Im Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach galten die Vermögensverhältnisse im allgemeinen als ein ausschlaggebendes Kriterium für den Erwerb der Nachbarrechte. Das geht wiederum aus der vereinheitlichten Regelung ländlichen Rechts von 1840 hervor: “Die früher bestandenen gesetzlichen und statutarischen Bestimmungen über ein bestimmtes, bei der Anmeldung zur Bürger- oder Nachbaraufnahme, nachzuwei- 474 Vgl. Trossbach 1993, S.22, auch Endres 1977, S.175 475 Rollberg 1934, S.774 476 Endres führt als Beispiel die Dorfordnung von Niederndorf an: “´Weibspersonen dürfen nicht erscheinen, es sei denn eine Witwe, die ein Eigen im Dorf hat´ (...)”. (Endres 1977, S.171) 477 Trossbach 1993, S.22 478 Burckhard 1844, S.133. Daß die kaltensundheimer Nachbarn sowohl vor als auch nach 1840 nicht oder zumindest kaum durch Frauen vertreten waren, bestätigen die Einträge in den Sterbebüchern für die Jahre nach 1835. 156 sendes Vermögens-Quantum sind durch das Heimathsg. §. 20. 119. aufgehoben, wie zeither in allen Fällen, auch Höchsten Orts, entschieden worden ist.”479 Was der “Einkauf zu Nachbarrecht”480 bedeutete, welche konkreten Rechte und Pflichten mit ihm verbunden waren, läßt sich im Einzelfall, vor allem für landarme oder sogar landlose Nachbarn, schwer nachvollziehen. Die zunächst einfache Regel: “Wer das Nachbarrecht (...) hatte, nahm teil an allen Rechten der Gemeinschaft”, bedeutete langfristig auch im Eisenacher Oberland zumindest nicht, daß alle Nachbarn gleichermaßen Nutzungsrechte beanspruchen konnten. Die kleinbäuerlichen und landarmen Dorfbewohner, die Rechte durchsetzen konnten, brachten weniger und verschieden bemessenen Landbesitz ein. Plausibel ist, daß dieser Besitz ein ausschlaggebendes Kriterium zur Unterscheidung von Nutzungsrechten war. In Frankenheim war beispielsweise die Viehhaltung verschieden limitiert: Hier “(...) durfte (...) ein Bauer 16 und ein Hinterseßling immerhin 8 Rinder dem Gemeindehirten zutreiben.”481 Der Hintersattler konnte dem Hirten weniger Weidefläche zur Nutzung überlassen als der Bauer. Entsprechend seines geringeren Beitrags zu den nachbarlichen Pflichten waren auch seine Rechte begrenzt.482 Die hierarchische Abstufung der Rechte wirkt im Verhältnis von Vollbauern und Kleinbauern noch sehr anschaulich. Kaum Belege gibt es für die Regelung von Nutzungsrechten bei annähernd oder vollständig landlosen Nachbarn.483 Zu ihnen gehörte die Schmiedefamilie Rauch nicht. Ihr Besitz verringerte sich zwar im Laufe der Generationen für die einzelnen Angehörigen, wurde aber durch Einheirat in Familien mit zumindest ebenfalls kleinem Besitz jeweils auch ´aufgebessert´. Welchen konkreten Umfang das Land der Schmiede hatte, ist allerdings ungewiß; entsprechendes gilt für die Nutzungsrechte, die die Familie im einzelnen hatte.484 479 Burckhard 1844, S.133 480 B. Schildt 1996, S.145. Der Einkauf zu Nachbarrecht geschah ursprünglich mit Naturalien, mit denen der neue Nachbar wohl seinen Einstand feierte. (Vgl. ebd.) In der Allgemeinen Landgemeindeordnung ist dann von einer “Aufnahmegebühr” für die Nachbarn die Rede. (Vgl. Burckhard 1844, S.134) 481 B. Schildt 1996, S.145 482 Vgl. ebd., S.146. Entsprechende Beispiele gibt auch Endres 1977, S.166 483 Ein Beispiel aus Thüringen findet sich bei B. Schildt: Danach mußten in Raitzhain die sog. Hausgenossen doppelten Hirtenlohn bezahlen, wenn sie Vieh hielten. Dies hing damit zusammen, daß die Hausgenossen kein Land hatten und damit keinen Beitrag zur Gemeindehutung leisten konnten. (Vgl. B. Schildt 1996, S.146) - Daß den Landlosen in diesem Dorf Viehhaltung überhaupt erlaubt war, widersprach der “sonst allgemein üblichen Praxis”. (Ebd.) 484 Daß in der Frage, welche Nutzungsrechte mit der Schmiedetätigkeit, unabhängig vom eigenen Landbesitz, verbunden waren, die Meinungen auseinandergehen, wurde bereits erwähnt. Vgl. Abschnitt 2.1.1.1. in diesem Kapitel 157 Mehr Gewißheit scheint es in Bezug auf die mit dem Nachbarrecht erworbenen Möglichkeiten zur Mitbestimmung zu geben. So finden sich weder bei Rollberg, für die Untersuchungsregion, noch bei Bernd Schildt, für Thüringen, Hinweise, die auf unterschiedliche Mitspracherechte der nach Besitz und Nutzungsrechten geschiedenen Nachbarn deuten.485 Uneingeschränkt vermerkt auch Trossbach, daß “alle Mitglieder der Versammlung (der Gemeindeversammlung, A. L.-V.) (...) formell gleiches Rede- und Stimmrecht (hatten), auch wenn Besitz, Abgaben und Allmendeteile ungleich groß waren.”486 Dies bestätigt schließlich auch die Untersuchung von Endres, derzufolge die Auseinandersetzungen der ländlichen Unterschichten um Rechte und Teilhabe eher zu einer politischen Gleichstellung als zur Gewährung von Nutzungsrechten führten.487 Demnach ist für die Nachbarn der Schmiedefamilie Rauch davon auszugehen, daß sie am politischen Geschehen in der Gemeinde aktiv beteiligt waren. Sicherlich ist diese Beteiligung insgesamt nur gering zu veranschlagen. Die Möglichkeiten der Dorfgemeinde, die der landesherrlichen Obrigkeit unterstand, waren letztlich begrenzt. Für die “innerdörfliche ´Verfassungsrealität´”488 spielten allerdings selbst beschränkte Kompetenzen und Befugnisse ein bedeutsame Rolle. Das Aufgabenfeld der Gemeinde umfaßte: “1. Verwaltung des Gemeindevermögens, (...) 2. Aufgaben der niederen dörflichen Gerichtsbarkeit, (...) 3. Organisation der Ge485 Rollberg (1934) weist die Hintersassen im Eisenacher Oberland als “vollberechtigte Gemeindemitglieder” aus. (S.774, vgl. hier auch weiter oben im Text seine Unterscheidung der Nachbarn) Das zuvor genannte Beispiel geschiedener Nutzungsrechte in Frankenheim, ein Ort, auf dessen Weistümer und Dorfordnungen auch Rollberg zurückgreift, belegt, daß die Hintersassen in Bezug auf Nutzungsrechte nur teilberechtigt waren. Der Begriff vollberechtigt deutet bei Rollberg eventuell auf die politischen Rechte. 486 Trossbach 1993, S.22 487 Vgl. Endres 1977, S.174. Die einzige Ausnahme erwähnt Endres am Beispiel der sog. “´Beständner´. Es waren dies Tagelöhner, die entweder im Haus oder auf dem Hof eines Vollbauern wohnten, dann ´Haus-Beständner´ genannt, oder die auf einem Nebengut in Pacht lebten, die sog. ´Beigut-Beständner´. Die Beigut-Beständner konnten als Besitzer eines berechtigten Hauses volles Mitglied der Nutzungs-Genossenschaft sein, in politischer Hinsicht aber waren sie genauso rechtlos wie die Haus-Beständner.” (Ebd., S.168) 488 Kaschuba/Lipp 1982, S.84. Die Bedeutung von, wenn auch nur geringen, Beteiligungschancen fassen Kaschuba und Lipp in ihrer Kiebinger Studie (nachfolgend konkret mit Bezug auf das 19. Jahrhundert) anschaulich zusammen: “An absoluten Maßstäben gemessen, war der kommunalpolitische Handlungsspielraum natürlich ausgesprochen eng. Haushaltsmittel und Gemeindevermögen bildeten eine nur sehr bescheidene wirtschaftliche Manövriermasse, deren Verwendung zumindest in Grundzügen langfristig festgelegt war und ohne Genehmigung des Oberamtes auch nicht verändert werden durfte. Doch für die innerdörfliche ´Verfassungsrealität´, für die wirtschaftichen und sozialen Gestaltungsmöglichkeiten der lokalen Existenz besaß diese exekutive Seite der Gemeinderats- und Rathauspolitik dennoch erhebliche Bedeutung. Beginnend bei der lokalen Interpretation des Niederlassungs- und Heiratsrechts, über die Festsetzung der Gemeindeumlagen und ihres Einzuges, das Unterstützungswesen, die Nutzung des Gemeindewaldes (...) bis zur Allmendverteilung wurde der Kreis der Leistungsberechtigten bzw. Leistungspflichtigen von hier aus definiert (...).” (Ebd.) 158 meindearbeiten und -dienste (...) 4. Wahrung der Ordnung im Dorf (...) sowie 5. in Feld, Wald und Flur. (...)”489 Diese Pflichten wurden primär von den gewählten Gemeindeorganen wahrgenommen, teilweise aber auch von der Gemeindeversammlung.490 Als deren Mitglieder konnten die Rauchs, anders als die Mehrzahl der Dorfbewohner, entsprechende Belange immerhin mitberaten und -bestimmen und sich an der Wahl der genossenschaftlichen Amtsträger beteiligen. Und in Fragen schließlich, die die Wahrung des dörflichen Friedens betrafen, “(...) bestand bisweilen für jeden Nachbarn eine unmittelbar persönliche Pflicht, im gemeindlichen Interesse aktiv zu werden. (...)”491 Wieweit die Nachbarn praktisch tatsächlich an Fragen der Selbstverwaltung beteiligt waren, ist unklar.492 Auf jeden Fall war ihnen mit diesem Status auch eine gewisse soziale Anerkennung verliehen. In zweifacher Hinsicht aufschlußreich sind in diesem Zusammenhang die Angaben über ausgeübte Gemeindeämter: Zum einen können sie, sofern es um höhere Ämter geht, in Bezug auf tatsächlich praktizierte Teilhabe am politischen Geschehen und auch an Herrschaft493 aussagekräftiger sein als die Hinweise auf den Nachbarstatus. Zum anderen realisiert sich in ihnen soziales Kapital, das auf Beziehungen im gesellschaftlichen Feld und damit auch auf den sozialen Ort weist, den die Amtsträger darin selbst einnehmen. 489 B. Schildt 1996, S.105 490 Vgl. ebd. 491 Ebd. 492 B. Schildt führt mit der Gemeinde Barkhausen auch einen Fall an, bei dem sich “(...) Schultheiß, Heimbürge und Schöppen zu einem politischen Meinungsbildungsorgan unter bewußtem Ausschluß der übrigen Gemeindemitglieder, die bei den Beratungen dieses engen Gemeindezirkels nicht zugegen sein durften, (konstituierten).” (B. Schildt 1996, S.94 (Anm. 122)) 493 Der Begriff Herrschaft zielt hier auch auf Hierarchien innerhalb der Dorfgemeinschaft und unter den Nachbarn. Zwar waren Herrschaft und Nachbarschaft voneinander “abgesetzt” (Kramer 1984, Sp. 813), vertraten die Nachbarn die Interessen der Dorfgemeinde gegenüber den Grundherren und “(werden) bäuerliche Freiheit und bäuerliche Gemeinden (...) überwiegend als genossenschaftlicher Gegenpol zu Herrschaft angesehen. Dabei wird jedoch zu wenig beachtet, daß das Autonomiestreben der lokalen Gemeinde notwendigerweise dazu führte, daß sie in ihren Grenzen selbst Herrschaft ausübte und dabei in den größeren gesellschaftlich-staatlichen Zusammenhang eingebunden war. Ihre Herrschaftsausübung als Dorfobrigkeit konnte somit nicht anderen - eigenen Prinzipien folgen. Der herrschaftliche Charakter der Gemeinde prägte sich um so deutlicher aus, je mehr sich die lokale bäuerliche Gesellschaft differenzierte.” (Wunder 1986, S.19) Trossbach verweist auf die Notwendigkeit eines “gewissen Konsens” und von “Kooperation” zwischen Herrschaft und Beherrschten, wobei die “´Gemeinde (...) keineswegs nur der verlängerte Arm von ´Herrschaft´” (...) gewesen sei. “Zwischen beiden Polen besteht ein spannungsreiches Verhältnis von Kooperation und Konfrontation, von Interessengleichheit und -divergenz.” (Trossbach 1993, S.20f) Ähnlich führt auch Bernd Schildt aus: “Die Landgemeinde war zum einen ein genossenschaftliches Instrument zur Regulierung ´innerdörflicher´ Angelegenheiten, zum anderen aber auch eine Institution des Territorialstaates zur Aufrechterhaltung und Stabilisierung der bestehenden wirtschaftlich-sozialen und politischen Verhältnisse. (...)” (B. Schildt 1996, S.87; vgl auch ebd., S.106) 159 Familie Rauch war in höheren Gemeindefunktionen zunächst im 18. Jahrhundert, durch drei ihrer Angehörigen, repräsentiert. Dabei übernahmen sie zwar nicht das oberste gemeindliche Amt des von der Obrigkeit eingesetzten Schultheiß.494 Die Rauchs gehörten als “Zwölfer” und “Gerichtsschöpf” allerdings dem kollegialen Beratungsorgan der obersten Amtsinhaber an495: “Die fast überall bezeugten Kollegialorgane (Vierer, Achter, Zwölfer) stellten häufig Ausschüsse oder engere Gemeindeversammlungen, aber keine Ämter dar. (...) Hinsichtlich ihrer Bestellung, Aufgaben und Kompetenzen sind sie aber mit den übrigen höheren gemeindlichen Funktionsträgern vergleichbar.”496 Welche Funktionen diese beratenden Organe im einzelnen hatten, ist, so Bernd Schildt, zwar “nur punktuell erfaßbar (...).”497 Die Zugehörigkeit deutet aber doch zumindest darauf, daß Familie Rauch zeitweilig aktiv im Feld der ´lokalen Elite´ vertreten war. Die Mitglieder der Kollegialorgane wurden von der Gemeindeversammlung, teilweise auf Lebenszeit498, gewählt. Diese Rauchs in höheren Gemeindefunktionen waren keine Angehörigen der hier untersuchten Familienlinie. Die direkten Vorfahren von Johann Adam Rauch waren Nachbarn, aber in keinem Gemeindeamt. Die mögliche Annahme, daß dies auf eine bessere soziale Position der anderen, zur ´Großfamilie´ Rauch gehörenden, Linien während dieser Zeit deuten könnte, bestätigt sich im weiteren nicht.499 Im 19. Jahrhundert allerdings symbolisieren dann die eingenommenen Funktionen allein schon diesen Unterschied: Die Linie von Johann Adam Rauch besetzte Ämter nach 494 Das oberste Amt der Gemeinde war in Thüringen häufig doppelt, mit einem Schultheiß und einem genossenschaftlichen, von den Nachbarn gewählten, Heimbürgen besetzt. (Vgl. dazu B. Schildt 1996, S.93ff) In Kaltensundheim war die Situation anders; die Gemeinde unterstand zwei verschiedenen Herrschaften, den Hennebergern und dem Amt Lichtenberg. Entsprechend gab es einen lichtenbergischen und einen hennebergischen Schultheiß. 495 Vgl. B. Schildt 1996, S.93. Dem Heimbürgen und Schultheiß standen häufig “kollegiale Beratungsorgane zur Seite, die entweder nach ihrer Anzahl Vierer, Sechser, Achter oder auch Zwölfer genannt oder quantitativ unbestimmt als Schöppen, Älteste, Ratmeister oder Vormünder bezeichnet wurden.” (Ebd., S.93f. Vgl. auch Wunder 1986, S.75f) Der kaltensundheimer Kirchenchronik zufolge bestand der Ortsvorstand hier im 19. Jahrhundert “(...) aus einem Schultheiß, Vorsteher und 6 sogenannten Zwölfern (...).” 496 Ebd., S.92. B. Schildt verweist auf Vorteile in Zusammenhang mit der “Ausübung dörflicher Ämter”, wobei nicht expliziert wird, inwieweit sie auch den Kollegialorganen galten: “Zunächst hatten alle Amtsträger, wenn auch in unterschiedlichem Maße, schwer faßliche, aber ganz sicher reale Möglichkeiten, bei bestimmten Entscheidungen, z.B. bei Terminfestlegungen im Rahmen des Flurzwanges, ihre eigenen Interessen zu berücksichtigen. Im voraus berechenbar waren die recht häufig belegten, unmittelbaren materiellen Vergünstigungen. Sie waren zumeist exakt quantifiziert und reichten von Entschädigungszahlungen (...) über die Beteiligung an den Gemeindeeinnahmen (Bußen) (...) bis zur Befreiung von Gemeindelasten (...) und dem Hirtenschutt sowie besonderen Nutzungsrechten.” (B. Schildt, S.101) 497 Ebd., S.94 498 Vgl. ebd., S.96 499 Vgl. Abschnitt 2.1.1.5.3. in diesem Kapitel 160 ihrem sozialen Abstieg. Als Hirte und Nachtwächter bzw. Flurhüter übernahmen Tobias Rauch und sein Sohn, ebenfalls ein Weber, dann sogenannte niedere Gemeindeämter.500 Johann Caspar Rauch hingegen, Angehöriger einer benachbarten Familienlinie und Cousin von Tobias Rauch, besetzte das Amt des “Vicebürgermeisters”.501 Für das 19. Jahrhundert ist mit dieser unterschiedlichen Besetzung von Gemeindeämtern eine Spaltung der ´Großfamilie´ Rauch in ´Gewinner´ und ´Verlierer´ angedeutet.502 Der niedere Gemeindedienst von Tobias Rauch symbolisiert, daß die Familie von Johann Adam Rauch nach ihrem Abstieg zu Beginn des 19. Jahrhunderts längerfristig zu den Unterprivilegierten gehörte. Dennoch waren Johann Adam und seine Söhne nicht rechtlos, sondern konnten an ihre Vorfahren anknüpfen. Zu relativieren ist in diesem Zusammenhang, daß das Nachbarrecht zwar nicht allen Kaltensundheimer zustand, inzwischen aber doch stärker ein allgemeines Gut geworden war. Der Status begründete einerseits keine, früheren Zeiten, vergleichbare soziale Position. Andererseits grenzte er Familie Rauch auch weiterhin nach unten ab. Das Vermögen an materiellem Besitz und an Kompetenz, das ihr zunächst eine noch relativ privilegierte Position sichern konnte, stand der Familie in der Generation von Tobias und Johann Nikolaus Rauch nicht mehr zur Verfügung. Mit der Schmiedetradition war auch das spezifische Kulturkapital verloren. Beim Erwerb der Nachbarrechte profitierten Tobias Rauch und sein Bruder möglicherweise von der für sie maßgeblichen Allgemeinen Landgemeindeordnung, die seit 1840 verbindlich war. Deren Regelungen verschafften den beiden Webern zumindest insofern gute Voraussetzungen, als politische Teilhabe nicht an vorhandenes Vermögen gebunden war.503 Im weiteren aber blieben Gewähr und Entzug politischer Rechte unter anderem an wirtschaftliche Verhältnisse gebunden, war 500 Vgl. zur Familie von Tobias Rauch auch Abschnitt 2.4. in diesem Kapitel 501 Vgl. auch nachfolgenden Abschnitt 2.1.1.4. 502 Inwieweit diese Zuschreibung auch auf andere Merkmale der sozialen Position zutrifft, wird in Abschnitt 2.1.1.5.3. in diesem Kapitel untersucht. Dort werden die verschiedenen Linien der ´Großfamilie´ Rauch ausführlicher in Beziehung gesetzt. 503 Nach der Allgemeinen Landgemeindeordnung verlieh das Nachbarrecht unter anderem “(...) die Befugnis: 1) an der Wahl zu Gemeindeämtern, aktiv und passiv, 2) überhaupt an allen Gesellschaftsrechten der Ortsgemeinde Theil zu nehmen, sowie die Befugnis, im Ortsgemeindebezirke Gebäude und Grundstücke jeder Art zu erwerben und dauernd zu besitzen. (...)” (Burckhard 1844, S.133) Im weitern schloß Nachbarrecht auch, “nach dazu erlangter Befähigung durch Konzession, Zunftmeisterrecht u. (...)”, die Befugnis ein, Gewerbe zu betreiben, “insoweit, als ein auf dem Lande gesetzlich erlaubtes Gewerbe in Frage ist.” (Ebd.) Gleichzeitig war das Nachbarrecht Voraussetzung für den Gewerbebetrieb, damit für die Betreffenden auch eine Pflicht. (Vgl. ebd., S.134) - In dieser Pflicht stand eventuell Johann Nikolaus Rauch, der als Webermeister tätig war. - Der Verlust des Nachbarrechts zog den Verlust der Berechtigung nach sich, Gewerbe zu treiben. (Vgl. ebd., S.136) 161 also die politische Öffnung wiederum nur begrenzt: “Hiernächst ruht (...) das Stimmrecht überhaupt und die Fähigkeit, zu Gemeindeämtern gewählt zu werden, so lange, als der Nachbar (...) öffentliche Almosen, sei es an Geld, Kost oder Wohnung empfängt, oder das früher Empfangene, ohne von dessen Ersatz durch Verzichtleistung der Gemeinde entbunden worden zu seyn, noch nicht erstattet hat (...), oder seine, über 2 Jahre rückständigen, Gemeindeabgaben nicht berichtigt hat.”504 Die prekäre Entwicklung der wirtschaftlichen Verhältnisse läßt denkbar erscheinen, daß diese Regelung auch bei den Rauchs Anwendung fand. Eine entsprechende Vermutung wird durch die Kirchenbücher bestärkt, die im 19. Jahrhundert, anders als noch zu Beginn des 18. Jahrhunderts, längst die rechtliche Zugehörigkeit vermerkten: Bei den Einträgen zum Tod von Johann Adam, Tobias und Johann Nikolaus Rauch, der im Armenhaus starb, fehlt jeweils der Verweis auf den Nachbarstatus. 2.1.1.4. Soziale Beziehungen: Respektabilität, Verluste und ´Feldwechsel´ im 19. Jahrhundert Daß innerhalb der ´Großfamilie´ Rauch während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine andere Familienlinie über gewinnbringenderes Sozialkapital verfügte als die Nachkommen von Johann Adam Rauch, ließ sich am Beispiel besetzter Gemeindeämter belegen. Unklar ist noch, wie sich das soziale Kapital innerhalb der Linie von Johann Adam Rauch langfristig entwickelte. Diese Frage kann anhand von Gemeindefunktionen im Generationenvergleich nicht geklärt werden, weil die Angehörigen hier bis in die Generation von Tobias Rauch kein Amt übernommen hatten. Über soziale Beziehungen und das gesellschaftliche Feld, in dem sich Vorund Nachfahren von Johann Adam Rauch bewegten, gibt in diesem Fall zunächst das Heiratsverhalten mehr Aufschluß. Es zeigt insgesamt den Verlust gesellschaftlicher Anerkennung in der Entwicklung der Familienlinie an. Zunächst jedoch deuten die sozialen Beziehungen auf eine respektable Stellung im Dorf: Auf Vergesellschaftungsebene hatten die Vorfahren von Johann Adam Rauch, allein schon beruflich bedingt, Zugang zu den Bauern im Dorf, die ursprünglich die “Realgemeinde”505 bildeten. Bauern und Schmiede unterhielten auf jeden Fall eine, 504 Burckhard 1844, S.136f 505 Vgl. vorangegangenen Abschnitt 2.1.1.3. 162 dem Charakter nach zumindest zweckrationale, soziale Beziehung.506 Entsprechendes galt auch für die Bauern untereinander; in der ersten Generation stellte Familie Rauch einen Schmied, der gleichzeitig noch Ackerbauer war. Schließlich waren Beziehungen zu den Besitzenden auch über die eigene Zugehörigkeit zum Kreis der ´Rechtler´ garantiert. Daß sie wohl kaum ausschließlich den Charakter der Vergesellschaftung trugen, läßt der Hinweis auf Geselligkeiten wie die weithin übliche “Gewohnheit des Gemeindebiertrinkens”, das beispielsweise im Anschluß an gemeindliche Zusammenkünfte stattfinden konnte, vermuten.507 Daß Beziehungen im Rahmen der Vergesellschaftung bei Familie Rauch auch auf der Ebene der Vergemeinschaftung508 Bedeutung erlangten, zeigt sich im Heiratsverhalten ihrer Angehörigen, wobei hier stärker die Männer berücksichtigt sind. Johannes und Mathäus, die beiden Söhne von Konrad (Cuntz) Rauch, dem ältesten Vertreter der Familie, heirateten im 17. Jahrhundert Ackerbauertöchter.509 Mathäus, der kein direkter Vorfahre von Johann Adam Rauch war, ging dabei offensichtlich eine Verbindung mit einer der führenden Familien im Ort ein. Sein Schwiegervater war Schultheiß in Kaltensundheim und damit als herrschaftlicher Funktionsträger in exponierter Stellung.510 Sein soziales Kapital schlug sich in den von Mathäus Rauch begründeten Familielinien nicht in Form einer unmittelbaren Fortsetzung entsprechend einflußreicher Beziehungen nieder. Erst drei Generationen später heiratete eine Tochter der Familie einen Glaser, dessen Vater “Gerichtsschultheiß” war. Etwas anders verlief die Entwicklung in den Familienlinien, die von Mathäus´ Bruder, Johannes Rauch, ausgingen. Hier deuten übereinstimmende Gemeindefunktionen im Generationenvergleich offenkundig darauf, daß ein Zusammenhang zwischen dem von einer Generation ´angeheirateten´ Sozialkapital und dem eigenen Sozialkapital der nachfolgenden Generation bestand. Demnach wirkte Vergemeinschaftung auch auf die Ebene der Vergesellschaftung zurück: 506 Zur Vergesellschaftung vgl. Weber (1980) [1921/22], S.21ff 507 Vgl. B. Schildt 1996, S.89ff 508 Zur Vergemeinschaftung vgl. Weber (1980) [1921/22], S.21ff. “Die große Mehrzahl sozialer Beziehungen (...) hat teils den Charakter der Vergemeinschaftung, teils den der Vergesellschaftung. Jede noch so zweckrationale und nüchtern geschaffene und abgezweckte soziale Beziehung (Kundschaft z.B.) kann Gefühlswerte stiften, welche über den gewillkürten Zweck hinausgreifen.” (Ebd., S.22; Hervorhebungen im Original) Familienverbände können sowohl zweckrational als auch emotional orientiert sein. (Vgl. ebd.) 509 Vgl. Abschnitt 2.1. in diesem Kapitel 510 Zum Amt des Schultheißen vgl. ausführlich B. Schildt 1996, S.91ff 163 der nachfolgenden Generation überlebte kein Sohn. Eine der beiden Töchter von Hanß Caspar heiratete wiederum einen Zwölfer, der von Beruf Glaser war.512 Der Ehemann der anderen Tochter stand als Bäcker im Dienst der Gemeinde. Hanß Rauch II, der älteste Sohn von Johannes sen. und direkter Vorfahre von Johann Adam Rauch, war zweimal verheiratet.513 Seine erste Ehe schloß er mit der Tochter eines “Mahlmüllers”. Unentbehrlich wie der Schmied, gehörte der Müller zu den ältesten Dorfhandwerkern. Der Schwiegervater von Hanß Rauch II übte kein politisches Amt aus, war aber, auch wenn die “Ehrlichkeit” der Müller eher strittig war als die der Schmiede, durch seine Erwerbstätigkeit immerhin in zentraler Position.514 Er kam zudem aus einer Bauernfamilie.515 Johann Heinrich, der aus erster Ehe von Hanß Rauch II stammte, war später als Zwölfer im Kollegialorgan der Gemeinde vertreten.516 Sein Vater war inzwischen zum zweiten Mal verheiratet, mit der Tochter eines “Gerichtsschöpf”. In diese Funktion gelangte dann auch einer der Söhne aus zweiter Ehe, der 1738 geborene Johannes Rauch I. Er heiratete, wie auch der Sohn von Johann Heinrich, die Tochter eines Zwölfers. Daß die Beziehungen zu Vertretern in Kollegialorganen und auch eigene beratende Funktionen keinen Schluß auf konkreten politischen Einfluß zulassen, der ohnehin begrenzt war, wurde bereits erwähnt.517 Aufschlußreich ist das Netz von Beziehungen, in das Familie Rauch im 18. Jahrhundert über mehrere Generationen eingebunden war, weil es für einen relativ hohen Grad sozialer Anerkennung im Dorf spricht. Aussagekraft gewinnt die Häufung dieser Beziehungen dann auch im Vergleich mit dem weiteren Werdegang der Familie, hier vor allem dem der Linie von Johann Adam Rauch. 512 Zum Beruf des Glasers vgl. die Hinweise bei Pies 1997, S.61ff. Demnach betrieb der Glaser ein durchaus exklusives Handwerk in dem Sinn, daß es lange Zeit zahlenmäßig nicht sehr stark vertreten war, die Glaser also über wenig verbreitete Fertigkeiten verfügten, die ihnen zudem eine gewisse Geschicklichkeit abverlangten. 513 Vgl. S.164 514 Zum Müllerhandwerk vgl. Schultz 1984, S.24, ausführlicher Skalweit 1942, S.18ff und die Hinweise bei Pies 1997, S.100ff. Die Müller waren im allgemeinen überwiegend abhängig beschäftigt. Die Mühlen waren zumeist entweder im Besitz der Gemeinde oder das Eigentum der Landes- und Grundherren. Die konkreten Eigentumsrechte an den kaltensundheimer Mühlen sind nicht belegt. 515 Vgl. dazu näher Abschnitt 2.3. in diesem Kapitel 516 Vgl. S.164 517 Vgl. vorangegangenen Abschnitt 2.1.1.3. 165 Trotz zahlreicher ´guter Beziehungen´ im 18. Jahrhundert waren nur drei Angehörige der Familie, Söhne von Hanß II und Heinrich Rauch, selbst in Gemeindefunktionen.518 Johann Georg II, der Großvater von Johann Adam Rauch, gehörte zwar zu ihrer Generation, war aber von einer solchen Tätigkeit ausgenommen und heiratete auch nicht entsprechend ein. Sein Sohn allerdings, der Vater von Johann Adam, ging dann mit der Tochter eines Zwölfers die Ehe ein. Johannes jr. war damit der einzige Nachkomme der ´Großfamilie´ Rauch, der noch Ende des 18. Jahrhunderts familiäre Bande mit einer im Feld der lokalen Politik vertretenen Familie knüpfte. Der Schwiegervater von Johannes Rauch jr. war als Leinewebermeister in Kaltensundheim tätig. Für sich genommen, ohne Berücksichtigung des konkreten Feldes, spricht sein Beruf einerseits für rückläufiges Sozialkapital bei Familie Rauch, weil der Beruf des Leinewebers eher gering geachtet war.519 Daß der Schwiegervater von Johannes Rauch jr. als Leinewebermeister auch Zwölfer war, spricht auf der anderen Seite für sein soziales Ansehen. Er kam aus einer Familie, die im 17. Jahrhundert noch als Ackerbauern im Seelenregister aufgenommen war, und verfügte von daher vermutlich auch selbst noch über Land. Der Schwiegervater von Johannes Rauch jr. lebte in der Zeit von 1721 bis 1789. Bereits 1708 hatte Heinrich Rauch die Tochter eines Leinewebers geheiratet, der, 1661 geboren, ebenfalls Zwölfer war. Er kam ebenfalls aus einer Ackerbauerfamilie. Daß es seit der Generation von Johann Adam Rauch keine ehelichen Verbindungen mehr mit Familien gab, deren Angehörige gemeindliche Funktionen übernahmen, ist zunächst nur ein vager Hinweis auf schließlich doch grundlegendere Veränderungen in der Beziehungspraxis der Nachkommen von Johannes Rauch jr. Die Herkunft der Ehefrauen von Johann Adam, Tobias und Johann Nikolaus Rauch verstärkt diesen Hinweis bereits zu einem deutlichen Argument für den Verlust sozialer Anerkennung.520 Die Ehefrauen stammten aus Weberfamilien, mit deren Einkommen im 19. Jahrhundert auch ihre Stellung im Dorf schwächer wurde. Für den Ausschluß der Familie Rauch aus dem gesellschaftlich anerkannten Feld ist schließlich der, zumindest teilweise, Verlust ihrer persönlichen Integrität ein deutliches Indiz. Merkmale dieser Integrität waren unter anderem Unbescholtenheit und eheliche Geburt sowie die Einhaltung von Sexualnormen, die vor- und außereheli- 518 Vgl. S.164 519 Vgl. Abschnitt 2.1.1.2. in diesem Kapitel 520 Vgl. S.164 166 chen Verkehr untersagten.521 Nicht zur Familienlinie von Johann Adam Rauch gehörten zunächst die beiden außerehelichen Kinder, die in der ´Großfamilie´ Rauch im 18. Jahrhundert geboren wurden. “Von einem Mädchen in Ehebruch entbunden” wurde 1786 die Witwe des früh verstorbenen Johann Peter Rauch I.522 In einer anderen Linie hatte sich der ledige Johannes Melchior zum Vater eines 1783 geborenen Kindes bekannt, dessen Mutter er nicht heiratete.523 Eine seiner später ehelich geborenen Töchter wurde im Jahr 1816 ledig Mutter. Bis in die Generation von Johann Adam Rauch scheint die Lebensführung seiner Familie im engeren Sinn in dieser Beziehung hingegen vollkommen makellos gewesen zu sein. ´Verfehlungen´ sind weder bei den Söhnen noch den Töchtern dieser Linie bekannt. Alle Kinder wurden ehelich geboren, wobei das für die RauchSöhne in größerem Umfang vorliegende Material auch Aufschluß darüber gibt, daß keines ihrer Kinder außerehelich gezeugt war. Für die Familien, in die die Rauchs einheirateten, ist ähnliches zumindest zu vermuten. Dies insbesondere für die in Kollegialorganen vertretenen Familien524, wobei der Pfarrer seit Ende des 18. Jahrhunderts aber auch bei ihren Angehörigen hin und wieder uneheliche Kinder im Kirchenbuch zu notieren hatte. In der Linie von Johann Adam Rauch war es zuerst seine Schwester Anna Margaretha, die 1836 unverheiratet Mutter wurde. Bereits 43 Jahre alt, heiratete Anna Margaretha dann im Jahr 1854 einen Witwer, mit dem sie nach Oberkatz verzog. Johann Adam Rauch und seine Ehefrau hatten hingegen nur gemeinsame und eheliche Kinder. Ebenfalls nur gemeinsame Kinder hatten dann auch ihre Söhne Tobias und Johann Nikolaus und deren Partnerinnen. Allerdings waren diese Kinder nicht alle ehelich geboren. Tobias Rauch und Anna Maria Porz II heirateten zwei 521 Dabei ist von zwei Trennlinien auszugehen, die hier wirksam waren: Einerseits fiel die Bewertung vor- und außerehelicher Verkehr geschlechtsspezifisch verschieden aus, standen Frauen stärker in der Kritik (und auch der Verantwortung) als Männer. Gleichzeitig verlief quer dazu eine andere Trennlinie, mit der die Bewertung gruppenspezifisch, abhängig von der sozialen Position, differierte. 522 Vgl. S.164 (Johann Peter I, 1736-1780) 523 Vgl. ebd. (Johannes Melchior, 1764-1820) 524 B. Schildt vermutet, daß die Wahl in ein Gemeindeamt, neben Grundbesitz, unter anderem ehrliche Geburt sowie “zweifelsfrei” bekannte Ehrlichkeit und Unbescholtenheit erforderte. (Vgl. B. Schildt 1996, S.97) Die Vertreter der Kollegialorgane übernahmen zwar kein Amt, aber eine vergleichbare Funktion. Von daher ist zumindest anzunehmen, daß sie ähnliche Voraussetzungen wie die Amtsträger erfüllen mußten. 167 Monate vor der Geburt ihres dritten Kindes.525 Johann Nikolaus Rauch und Anna Margaretha Meyer wurden sechs Monate nach ihrer Eheschließung zum zweiten Mal Eltern. Die ersten unehelichen Kinder von Tobias und Johann Nikolaus Rauch gingen vielleicht aus zunächst nur spontanen Beziehungen hervor. Daß beide Söhne von Johann Adam Rauch dann dauerhafte Verbindungen mit den Müttern ihrer unehelichen Kinder eingingen, spricht einerseits für ihren im sozialen Abstieg beibehaltenen Ehrbegriff. Auf der anderen Seite bedeuteten illegitime Kinder auch einen Ehrverlust im Sinne des Verlusts gesellschaftlicher Anerkennung und Integrität. Im Fall von Tobias Rauch stand diese Integrität allein schon dadurch infrage, daß er eine Beziehung mit Anna Maria Porz II einging. Sie kam aus einer Familie, deren eheliche Verbindungen schon im 18. Jahrhundert nicht mit Prestige besetzt waren. Beziehungen ging sie eher mit Familien in prekärer und sozial wenig anerkannter Lage ein, für die in einem Fall auch die Zuchthausstrafe spricht, zu der der angeheiratete Ehemann verurteilt wurde.526 Uneheliche Kinder waren in der Geschichte der Familie Porz keine Ausnahme. Anna Maria Porz II war eins der insgesamt sechs unehelichen Kinder ihrer Mutter, die unverheiratet blieb. Alle sechs Kinder hatten verschiedene Väter. Auf Vergesellschaftungsebene war der Verlust sozialen Kapitals in der Familie Rauch durch den Wegfall zumindest intensiverer Beziehungen zum ´politischen Feld´ der Gemeinde angezeigt. Durch ihre Vergemeinschaftungspraxis, die zunächst ebenfalls auf schwindende gesellschaftliche Anerkennung schließen läßt, konnte die Familie spätestens in der Generation der Söhne von Johann Adam Rauch nicht mehr als, aus herrschender Perspektive, wirklich integer gelten. 527 Allerdings vollzog sich der Verlust sozialen Ansehens nicht in einem plötzlichen Bruch zwischen zwei Generationen. Der Entwicklung der anderen Kapitalarten 525 Zur Familie von Tobias Rauch und Anna Maria Porz II vgl. Abschnitt 2.4. in diesem Kapitel 526 Zur Familie von Anna Maria Porz II vgl. die Abschnitte unter 2.2. in diesem Kapitel. Relativierend ist hier zunächst, trotz der unterschiedlichen Beziehungspraxis der Familien Rauch und Porz, anzufügen, daß die Rauchs ebenfalls Verbindungen zum Feld prekärer Soziallagen unterhielten. Darauf weisen einige Angaben im Zusammenhang mit Patenschaften. Anders aber als bei den Rauchs, sprechen die Berufe, die in den Familien ausgeübt wurden, mit denen die Porz-Angehörigen in Beziehung standen, schon im 18. Jahrhundert eindeutiger für existentielle Bedrohung und geringes Sozialkapital. Ebenfalls zu belegen ist, daß materieller Besitz in den Vergemeinschaftungen der ´Porzens´, anders als bei den Rauchs, ebenfalls kaum eine Rolle spielte. 527 Familie Opfermann, in die Johann Adam Rauch im Jahr 1823 einheiratete, kam bereits zu Beginn des 18. Jahrhunderts in Verbindung mit Familie Porz. Der Schwiegervater von Johann Adam übernahm 1805 die Patenschaft für ein uneheliches Kind, dessen Mutter anschließend einen Angehörigen der Familie Porz heiratete. 168 ähnlich, veränderte sich das soziale Kapital wiederum in einem längerfristigen Prozeß. Dabei beschädigten die unehelichen Kinder von Tobias und Johann Nikolaus Rauch den Ruf der Familie vielleicht kaum mehr als die “Trunksucht” ihres Vaters. Während Johann Adam Rauch am Ende “geistig und körperlich ganz heruntergekommen war”, finden sich bei seinen Söhnen zumindest keine entsprechenden anomischen Tendenzen. An Stabilität und Verantwortlichkeit im Handeln, auf die die dauerhaften Beziehungen zu den Partnerinnen deuten, hatten sie gegenüber ihrem Vater eventuell gewonnen. Seit der Generation von Johann Adam Rauch unterhielt die Familie vermutlich kaum noch intensivere Kontakte zur ´Großfamilie´. Indiz dafür sind die Patenschaften, die zwar nur einen schwachen Anhaltspunkt für die Beziehungspraxis insgesamt bieten. Dennoch sind hier Unterschiede im Vergleich der Generationen und der Familienlinien auffällig.528 Innerhalb der Familienlinie von Johann Adam Rauch unterhielt danach vor allem sein Großvater verhältnismäßig intensive und gleichfalls auf verschiedene Nebenlinien gerichtete Verbindungen. Bis hin zu Johann Adam Rauch waren diese Beziehungen scheinbar abgebrochen; sie wurden zumindest nicht mehr über gegenseitige Patenschaften gepflegt. Johann Adam, Tobias und Johann Nikolaus standen zu keinem der in den anderen Famillienlinien geborenen Kinder Pate. Die Paten ihrer eigenen Kinder waren zunehmend Angehörige von Weberfamilien, einer sozialen Gruppe, zu der sich stärkere Kontakte schon seit der Heirat von Johannes jr., dem Vater von Johann Adam Rauch, angebahnt hatten. Paten, die aus der Verwandtschaft kamen, stammten aus den Herkunftsfamilien der Frauen. Das gegenüber den Vorfahren veränderte Beziehungsfeld von Johann Adam, Tobias und Johann Nikolaus Rauch fand auch Ausdruck im “geographischen Raum”.529 Johann Adam war noch im Ortskern aufgewachsen, dem Standort der Schmiede seines Vaters. Als 1852 der jüngste Sohn von Johann Adam Rauch und Anna Elisabetha Opfermann starb, lebte die Familie ´Am Mühlrain´, wenige Häuser entfernt von den Eltern der Ehefrau.530 Zuletzt wohnten Johann Adam und seine Frau bei ihrem Sohn Tobias, ´Auf der Bleiche´. Hier lebten auch die Angehörigen der Herkunftsfamilie von Anna Maria Porz, der Partnerin von Tobias Rauch. 528 Vgl. nachfolgend auch Abschnitt 2.1.1.5.3 529 Vgl. Abschnitt 6 im I. Kapitel 530 In den Kirchenbüchern sind erst seit Ende der 1840er Jahre die Wohnorte der die Einträge jeweils betreffenden Personen mit angegeben. 169 Analog zum gesunkenen Sozialkapital und dem sozialen Abstieg insgesamt wohnte die Familie schließlich am Rand des Dorfes. Der Straßenname ´Auf der Bleiche´ verweist auf Arbeiten im Zusammenhang mit der Textilproduktion.531 Für das Bleichen von Garn und Gewebe bot sich in Kaltensundheim das Wasser der Felda an, die durch den Ort fließt. Dem Lauf der Felda nach Norden entsprechend, wurde im Süden Kaltensundheims gebleicht, weil hier das Wasser noch sauberer war. Das Bevölkerungswachstum seit dem 18.Jahrhundert ging mit einer Ausbreitung des Landhandwerks und vor allem der Weberei einher, die in dieser Zeit auch in Kaltensundheim weit verbreitet und noch gewinnbringend betrieben wurde. Plausibel ist als Tendenz, daß sich in den Dörfern zuziehende Familien langfristig eher am Ortsrand ansiedelten, während im Zentrum eher die alteingesessenen Familien lebten. Von daher ist auch anzunehmen, daß die Bewohner der kaltensundheimer ´Bleiche´ nicht beliebig zusammengesetzt waren, sondern bestimmten sozialen Gruppen angehörten, die zum einen als landarme oder landlose, zum anderen durch langfristige Bedrohung ihres Handwerks oder Gewerbes, mehr oder minder unterprivilegiert waren. Nach der “Blütezeit” der kaltensundheimer Weberei im 18. Jahrhundert wurde die ´Bleiche´ vermutlich zu einem Ort, an dem vor allem soziale Absteiger zusammentrafen. Insofern war auch der Wohnsitz der Rauchs in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wohl kaum noch eine ´gute Adresse´.532 Borngasse und Felda 1936 (Foto: Reinhold Spiegel)533 531 Vgl. dazu Pies 1997, S.33 532 Zum Zusammenhang von physischem Raum und sozialem Raum vgl. Bourdieu 1991 533 Die Borngasse mündet in die ´Bleiche´ und verläuft westlich des ´Mühlrains´, parallel zu ihm. Vgl. S.170 171 2.1.1.5. Die kaltensundheimer Schmiedefamilien seit den 1630er Jahren Es schien nur selbstverständlich, daß Johann Adam Rauch und seine Vorfahren den Schmiedeberuf ergriffen. Nach dem 30jährigen Krieg, der Zeit, in der Konrad (Cuntz) Rauch die Schmiedetradition begründete, gingen allein aus der ´Großfamilie´ insgesamt mehr Schmiede hervor, als der eigene Betrieb hätte ernähren können.534 Die Rauchs waren zudem nicht die einzige Familie im Dorf, die ihren Lebensunterhalt mit dem Schmiedeberuf bestritt. Im Verhältnis zum ´Nahrungsspielraum´ waren die zwei kaltensundheimer Schmiedewerkstätten, die Ober- und die Unterschmiede, zeitweilig mehr oder weniger stark überbesetzt. Die Grenzen im beruflichen Feld der Schmiede beförderten bestimmte Strategien bei den Angehörigen sowohl der ´Großfamilie´ Rauch als auch bei denen der anderen Schmiedefamilien. Zur Tätigkeit im Familienbetrieb gab es für die Rauch-Söhne seit der dritten Generation vor allem zwei Alternativen: Entweder den Ort als Schmied zu verlassen oder in Kaltensundheim einen anderen Berufsweg einzuschlagen. Entscheidungen über Umstellungsstrategien fielen kaum beliebig. Mögliche persönliche Neigungen trafen mit strukturbedingten Notwendigkeiten zusammen.535 Dabei ist nicht zu übersehen, daß die Entscheidungen auch ein Resultat von Kämpfen waren, aus denen Gewinner und Verlierer hervorgingen. Die ´Großfamilie´ Rauch setzte sich gegen die anderen Schmiede im Dorf durch. Seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts unterhielten ihre Angehörigen allein die Ober- und Unterschmiede. Bis dahin war auch bereits die Zahl der Rauch-Familien geschrumpft, die sich am kaltensundheimer Schmiedebetrieb beteiligte. Die Rauchs blieben aber bis weit ins 20. Jahrhundert die Schmiede im Dorf. Als Johann Adam in den 1830er Jahren seinen Beruf aufgab, bedeutete dies nur für seine Familienlinie das Ende der Schmiedetradition. Deren Stellung innerhalb der ´Großfamilie´ schien im 18. Jahrhundert noch aussichtsreicher als Stellung und Perspektive derjenigen Linie, deren Angehörige im 19. Jahrhundert endgültig beide Schmiedewerkstätten besetzten. Gewinner und Verlierer innerhalb der ´Großfamilie´ hatten bis dahin ihre Rollen getauscht. 534 Die Nachkommen der ´Großfamilie´ Rauch sind im nachfolgenden Überblick II (S.175) und Überblick III (S.180f) zusammengestellt. Ihre Zusammenstellung zielt auf die Entwicklung der Schmiede. Es sind deshalb nur männliche Nachkommen angegeben. In die Graphiken sind im weiteren auch nicht alle Männer der ´Großfamilie´, aber doch alle kaltensundheimer Schmiede unter ihnen aufgenommen. 535 Das Verhältnis von Neigung und Notwendigkeit wird in Abschnitt 2.1.2. dieses Kapitels ausführlicher aufgegriffen. 172 2.1.1.5.1. Entwicklungsphasen Als Kriterium, nach dem sich die komplexen und auf den ersten Blick nur schwer überschaubaren Konstellationen aller kaltensundheimer Schmiedefamilien ´ordnen´ lassen, bietet sich zunächst deren unterschiedliche Anzahl während verschiedener Zeiträume an. Danach lassen sich grob verschiedene Phasen unterteilen: 1. Die Familie von Konrad (Cuntz) Rauch, der die Arbeit seines 1634 verstorbenen Meisters Hanß Buhl fortsetzte, war nach dem 30jährigen Krieg zunächst die einzige, die einen Schmied stellte. Zwar siedelte sich später eine zweite Schmiedefamilie in Kaltensundheim an. Auch mußten Gesellen unterhalten werden. Bis etwa 1700 waren es aber nicht mehr als zwei Familien, die ihren Lebensunterhalt mit dem Schmiedehandwerk bestritten. 2. In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts nahm die Zahl der Schmiedefamilien zu. Dazu trugen die Selbstrekrutierung der Rauchs und neu hinzukommende Schmiede bei, die die Rauchs eventuell selbst mit ausgebildet hatte. Besonders problematisch entwickelte sich die Situation in der ersten Hälfte dieses Zeitraums. Bis 1710 hatten sechs Schmiede geheiratet, die entweder bereits Meister waren oder sich, mit einer Ausnahme, kurze Zeit darauf entsprechend qualifizierten. Alle sechs neu gegründeten Familien blieben in Kaltensundheim. Sie alle hatten in der Folgezeit Kinder zu versorgen. 3. Anfang der 1750er Jahre entspannte sich die Situation vorübergehend. Es gab dann nur zwei Schmiedemeister in Kaltensundheim. Einer von ihnen gehörte zu den Rauchs. Er war der Großvater von Johann Adam Rauch. Er allerdings mußte nicht nur seine eigene Familie unterhalten, sondern auch weitere Nachkommen der ´Großfamilie´. 4. Mit den herangewachsenen Rauch-Söhnen entstand bis in die 1760er Jahre wiederum eine Konstellation, in der vier Familien vom Schmiedehandwerk lebten. 5. Seit den 1770er Jahren stellte dann die ´Großfamilie´ allein die kaltensundheimer Schmiede. In der Folgezeit blieb es, auch nach einem Generationenwechsel, bei jeweils drei Familien, die der Betrieb ernähren sollte. 6. Seit den 1830er Jahren reduzierte sich die Zahl der Familien, die auf das Einkommen aus den beiden Schmieden angewiesen war, auf zwei, die beide 173 aus derselben Linie stammten. Bis ins 20. Jahrhundert wurde die Schmiedetradition ausschließlich auf dem Weg der Selbstrekrutierung fortgesetzt, bei der andere Linien der ´Großfamilie´ ausgeschlossen blieben. Konstellationen mit mehr als zwei Schmiedemeistern entstanden in Kaltensundheim nicht mehr. 2.1.1.5.2. Die Stellung der ´Großfamilie´ Rauch: Gewinner bis ins 20. Jahrhundert Konrad (Cuntz) Rauch erlebte die Schrecken des 30jährigen Krieges und der Pest. Dennoch lebten er und auch seine beiden Söhne in verschiedener Hinsicht unter vergleichsweise günstigeren Voraussetzungen als ihre Nachkommen. Cuntz Rauch war der letzte Schmied Kaltensundheims, damit ebenfalls der einzige Schmied der ´Großfamilie´, der seinen Beruf hier ´konkurrenzlos´ ausübte. Von daher war er zugleich der letzte Vertreter seines Handwerks, der für das Dorf auch persönlich unentbehrlich war. Dies galt immerhin etwa 25 Jahre lang. Vermutlich erst nach 1660 wurde in Kaltensundheim eine zweite Schmiedefamilie seßhaft.536 Das Seelenregister gibt Auskunft darüber, daß im Jahr 1667 die Familien Rauch und Trott vom “Schmidtshandwerck” lebten. Der 30jährige Valten Trott und seine Ehefrau hatten zwei Töchter, von denen die älteste sechs Jahre alt war. Valten Trott kam aus dem nahegelegenen Helmershausen; 1661 hatte er nach Kaltensundheim geheiratet. Eventuell entstand mit den Trotts die Unterschmiede im Dorf. Sie wurde zumindest erst später als die Oberschmiede eingerichtet. 537 Deren zugehörige Wohnstätte jedenfalls beanspruchte sicherlich die Familie von Cuntz Rauch für sich. Trotz einer zweiten Schmiedefamilie mußten die Rauchs um ihr Auskommen offenbar nicht fürchten. Dafür spricht auch das Heiratsalter der beiden Söhne von 536 Im 17. Jahrhundert wurden in den Kirchenbüchern daneben nur zwei andere Schmiede genannt: 1643 wurde Hans Weber von einem Soldaten erschossen. (Vgl. auch Marschall/Marschall o.J., S.9) Hans Weber war ledig und kam von auswärts. Er war vermutlich als Geselle bei Cuntz Rauch. Ebenfalls keine Familie zu versorgen hatte der 1676 verstorbene Michel Senf, “ein Schmidts Gesell von Gerthaußen”. 537 So die Informationen von Reinhold Spiegel (vgl. zu ihm S.51, Anm.23) und Helga Witzel, der kaltensundheimer Chronistin. Reinhold Spiegel vermutet, daß die Unterschmiede eventuell nicht alle Schmiedearbeiten auszuführen ermöglichte, weil hier verhältnismäßig wenig Raum zur Verfügung stand, während die Oberschmiede geräumiger angelegt war. - Ober- und Unterschmiede gehörten beide zu dem in der Karte auf S.170 markierten Gebäudekomplex. Die Oberschmiede lag in der Wirthsgasse, die Unterschmiede in der Bachgasse. Hinweise darauf, von wem Ober- und Unterschmiede besetzt waren, stehen erst seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, durch Eintrag im Kirchenbuch, zur Verfügung. 174 Überblick II: Männliche Nachkommen der 'Großfamilie' Rauch: Nachkommen von Mathäus Rauch Conrad (Cuntz) Rauch 1616-1675 Schmied/Ackerbauer Mathäus 1647-1698 Schmied Georgius 1669-.... Hufschmiedemstr. in Kaltennordheim Georg Ernst ....-.... Schmiedemstr. in Kaltennordheim Johann Georg I A ca. 1795 Hufschmied in Kaltennordheim Johann A ca. 1798 Hufschmied in Kaltennordheim Johannes sen. 1654-1705 Schmied Hanß Melchior 1670-1697 Schulmeister in Gerthausen(?) Hanß I 1672-1757 Hufschmiedemstr. in Kaltensundheim Joh. Hanß 1703-1753 Hufschmiedemstr. in Kaltensundheim kein Sohn, eine Tochter, sie heiratet einen Glasermstr. Joh. Görg 1706-1758 Rothgerbermstr. in Kaltensundheim Hanß II 1681-1759 Huf-/Waffenschmiedemstr. in Kaltensundheim Heinrich 1684-1743 Hufschmiedemstr. In Kaltensundheim Hanß Peter 1689-1760 ? Nachkommen siehe Überblick III keine Schmiedenachkommen 175 familie´, die zugleich für Unterschiede in den Handlungsspielräumen und Alternativen spricht, die früheren und späteren Generationen zur Verfügung standen. Georgius hätte auch in Kaltensundheim bleiben können. Darauf deutet der im weiteren innerhalb der einzelnen Familienlinien praktizierte Grundsatz, demzufolge offenbar die älteren Söhne vor ihren jüngeren Brüdern das Recht beanspruchen konnten, als Schmiedemeister in Kaltensundheim zu leben.540 Innerfamiliäre Konstellationen waren vielleicht ein Grund für die späte Eheschließung von Hanß I.541 Er heiratete erst 28jährig, drei Jahre nach dem Tod seines Vaters, im Jahr 1701. Während dieser Zeit bahnte sich die zukünftige Situation, in der weit mehr Schmiedefamilien als zuvor ihren Lebensunterhalt in Kaltensundheim bestritten, erst an. Für Hanß I galt sein Verbleib in Kaltensundheim eventuell dennoch erst als gesichert, nachdem sich Georgius für den Ortswechsel entschieden hatte. Hier könnten dann erstmals auch Grenzen des Auskommens und der damit verbundenen Möglichkeiten der Rauch-Schmiede, eine eigene Familie zu gründen, zum Tragen gekommen sein. Ein Zusammenhang zwischen der späten Heirat von Hanß I und der anderen, von Johannes sen. begründeten Familienlinie, scheint allerdings insofern nicht bestanden zu haben, als die Nachkommen hier doch erheblich jünger waren und noch keine eigenen Familien zu versorgen hatten. Die berufliche Nachfolge von Johannes sen. traten die beiden älteren seiner drei Söhne an.542 Hanß II und Heinrich blieben als Huf- bzw. Huf- und Waffenschmiedemeister in ihrem Heimatort. Auch vom jüngsten Sohn, Hanß Peter, ist bekannt, daß er in Kaltensundheim verheiratet war, weshalb davon auszugehen ist, daß er einen anderen Beruf ausübte als seine Brüder.543 In dieser Familienlinie liessen die wirtschaftlichen Verhältnisse offenbar zu, daß beide Schmiedenachfolger jeweils noch in verhältnismäßig jungen Jahren eine eigene Familie gründeten. Hanß II, der ältere, heiratete 23jährig 1704, im Jahr vor dem Tod seines Vaters. 1708 schloß Heinrich als 24jähriger die Ehe. Zu diesem Zeitpunkt hatte nicht nur der Schmied Hanß I aus der Nachbarlinie Rauch bereits eine Familie mit zwei Kindern zu ver- 540 Besonders deutlich kommt dies im Überblick III (S.180f) in der von Johann Heinrich (1709-1748) begründeten Linie zum Ausdruck. Über vier Generationen wurden hier jeweils die älteren Söhne Schmiedemeister in Kaltensundheim. Jüngere Brüder verließen als Schmied entweder den Ort oder waren, wenn sie in Kaltensundheim blieben, hier als Schmiedegeselle oder in einem anderen Beruf tätig. In der ´Großfamilie´ wurden nie mehr als zwei Söhne derselben Generation einer Familienlinie Schmiede im Dorf. 541 Vgl. S.176; vgl. auch Überblick II, S.175 542 Vgl. S.176; vgl. auch Überblick III, S.180f 543 Weder Hanß Peter - er war zweimal verheiratet und Nachbar - noch seine Nachkommen tauchen in den Kirchenbüchern als Schmied auf. 177 Innerhalb der entstandenen Konstellation erhielt Caspar Trott als Geselle die ungünstigste Positon. Die Existenz seiner Familie, die er auch erst mit 33 Jahren gründete, war am ehesten bedroht. Unter prekären Einkommensverhältnissen, auf die sein Heiratsalter deutet, war er vermutlich bereits aufgewachsen. Seine Mutter hatte sich nach dem Tod des Vaters nicht wieder verheiratet. Seine Schwester heiratete einen Dorfknecht. Die Familie von Caspar Trott, dessen Ehefrau aus Schafhausen kam, blieb in Kaltensundheim. Unter ihren Nachkommen gab es keine Schmiede mehr. Die Überbesetzung des Handwerks blieb aber auch in der ´Großfamilie´ Rauch nicht ohne Wirkung. Die Linie von Heinrich Rauch schied ebenfalls früh aus dem Schmiedebetrieb aus.545 Umstellungsstrategien gab es auch bei den Nachkommen von Hanß I, von denen nur einer den Schmiedeberuf erlernte.546 Soziale Stellung und Perspektiven der Rauchs waren mit denen von Familie Trott allerdings kaum vergleichbar. Heinrichs Sohn Hanß Caspar wurde Weißgerbermeister und heiratete die Tochter des Schultheiß. 547 Johann Görg, der jüngere Sohn von Hanß I, begründete als Rothgerbermeister in Kaltensundheim eine eigene Tradition, an die seine Nachkommen bis ins 19. Jahrhundert anknüpften.548 Im Blick auf die Umstellungsstrategie von Johann Görg fällt auch die Verbindung zum Beruf des Großvaters mütterlicherseits auf: Hanß I hatte in eine Sattlerfamilie eingeheiratet. Der Sattler verarbeitete das von den Rothgerbern hergestellte Leder. 549 Auch wenn es den Familien Mihm und Berckeß gelang, den Schmiedeberuf noch in der zweiten Generation fortzusetzen, verfügte die ´Großfamilie´ Rauch offenbar über weitreichendere Ressourcen. Beleg dafür ist nicht erst der berufliche Wechsel bei den Mihms und Berckeß´ in der dritten Generation, sondern bereits der Unterschied im Heiratsalter der Schmiede. Danach gestaltete sich die Entwicklung vor allem für die Söhne von Hanß Rauch II aussichtsreich, von denen Johann Heinrich 545 Vgl. S.178; vgl auch Überblick III, S.180f 546 Vgl. S.178 vgl. auch Überblick II, S.175 547 Vgl. Abschnitt 2.1.1.4. in diesem Kapitel. Zum Beruf des Gerbers vgl. Pies 1997, S.57ff. Das geschenkte Gerberhandwerk hatte sich demnach bis Ende des 17. Jahrhunderts stark ausgeweitet, was zunehmend Schließungen durch die Zünfte zur Folge hatte. Die im 15. Jahrhundert noch zweibis dreijährige Lehrzeit wurde später auf bis zu fünf Jahren erhöht. (Vgl. ebd.) 1667 gab es in Kaltensundheim drei Gerber. (Vgl. Marschall/Marschall o.J., S.10) Spätere Zahlen sind nicht belegt, die Kirchenbücher weisen dann allerdings weit mehr Gerber, vor allem Weißgerber, aus. 548 Zu den Nachkommen von Hanß I vgl. Überblick II, S.175. Zum Gerberberuf vgl. vorstehende Anmerkung. In den wertvollen Produktionsmitteln insbesondere der Rothgerber sieht Pies eine Ursache für die in ihren Familien lange Zeiträume überdauernde Berufstradition. (Vgl. Pies 1997, S.60) 549 Vgl. ebd., S.57ff 179 Überblick III: Männliche Nachkommen der 'Großfamilie' Rauch: Nachkommen von Johannes Rauch sen. Conrad (Cuntz) Rauch 1616-1675 Schmied/Ackerbauer Mathäus 1647-1698 Schmied Johannes sen. 1654-1705 Schmied Nachkommen siehe Überblick II erste Ehe Joh. Heinrich 1709-1748 Hufschmied in Kaltensundheim Joh. Peter 1707-1735 ? keine Schmiedenachkommen Hanß II 1681-1759 Huf- u. Waffenschmiedemstr. in Kaltensundheim Joh. Peter I 1736-1780 Hufschmied, Fuhrmann in Kaltensundheim Nicolaus II 1765-1836 Huf- u. Waffenschmiedemstr. in Kaltensundheim Joh. Georg II 1726-1796 Hufschmiedemstr. in Kaltensundheim Nicolaus I 1744-1774 Schmied in Kaltensundheim Hanß Adam 1776-.... Hufschmiedegesell, wandert 1805 zweite Ehe Johannes I 1738-1812 Huf- u. Waffenschmiedemstr. in Kaltensundheim Johannes jr. 1759-1832 Huf- u. Waffenschmiedemstr. in Kaltensundheim Johann Adam 1794-1863 Schmied, Ölhändler in Kaltensundheim Heinrich 1684-1743 Hufschmiedemstr. in Kaltensundheim Hanß Peter 1689-1760 ? Hanß Caspar 1709-1758 Weißgerbermstr. in Kaltensundheim Nachkommen Barchentweber Johannes Melchior 1764-1820 Huf- u. Waffenschmiedemstr. in Kaltensundheim Johann Martin 1792-1837 Huf- u. Waffenschmied, Mahlmüller in Kaltensundheim kein überlebender Sohn 180 Joh. Caspar I 1798-1877 Huf- u. Waffenschmiedemstr. in Kaltensundheim (Oberschmiede) Joh. Friedrich II 1825-.... nach Amerika ausgewandert Joh. Friedrich I 1807-1877 Huf- u. Waffenschmiedemstr. in Kaltensundheim (Unterschmiede) Joh. Georg II 1834-1912 Schmiedemstr. (Oberschmiede) und Landwirt in Kaltensundheim Joh. Georg III 1838-1913 Schmiedemstr. (Unterschmiede) und Landwirt in Kaltensundheim Gustav Friedrich 1860-1921 Schmiedemstr. (Oberschmiede) in Kaltensundheim Christian Leonhard 1866-1922 Schmiedemstr. (in Unterschmiede eingeheiratet) Westfalen u. Kaltens. Oberschmiede wird von den beiden nachfolgenden Generationen weitergeführt Unterschmiede wird von den beiden nachfolgenden Generationen weitergeführt Johannes II 1815-.... Schmiedemstr. in Ostheim Joh. Peter II 1820-.... Schmied in Sonneberg Joh. Caspar II 1841-1913 Weber u. Landwirt in Kaltensundheim Hugo 1869-1894 Schmiedegeselle in Kaltensundheim Hermann 1876-1955 Weber u. Landwirt in Kaltensundheim Tobias 1827-1916 Weber, Hirte, Nachtwächter in Kaltensundheim Nachkommen keine Schmiede Joh. Nicolaus 1831-1907 Webermstr. in Kaltens. Christian Melchior 1849-.... Weber u. Landwirt in Gerthausen Joh. Michael 1816-.... Mahlmüller, Mühlenbesitzer Kaltensundheim, Gerthausen Georg Friedrich 1852-1923 Tagelöhner in Kaltensundheim und Unterkatz Albert 1889-1956 Landwirt in Kaltensundheim 181 mit 24, Johann Georg II mit 22 und sein Bruder Johannes I mit 23 Jahren heiratete. Johann Friedrich Mihm hingegen war 40 Jahre alt, als er eine eigene Familie gründete, Johann Michael Berckeß auch bereits 36 Jahre alt. Daß er als einziger von vier Söhnen die Nachfolge des Vaters in Kaltensundheim antrat, weist ebenfalls sowohl auf die insgesamt für die Schmiede begrenzten Handlungsspielräume als auch auf die Dominanz der Rauch-Familie in diesem beruflichen Feld. Am Beginn der 1850er Jahre lichtete sich das Feld weiter. Der 1853 verstorbene Johann Hanß Rauch hatte keinen Sohn und damit keinen Nachfolger. 550 Im Jahr zuvor war Johann Friedrich Mihm gestorben, dessen Sohn Johann Ernst das erwerbsfähige Alter noch nicht erreicht hatte, und für den später vermutlich kaum Aussicht bestand, in Kaltensundheim an den Beruf des Vaters anzuknüpfen.551 Dies vielleicht nicht erst im Hinblick auf ein erwartbar geringes Einkommen, sondern auch deshalb, weil er das Schmiedehandwerk hier nur hätte bei den Rauchs erlernen können.552 Johann Ernst Mihm heiratete später allerdings eine Tochter der ´Großfamilie´ Rauch. Darauf, daß er bis dahin als Schuhmachermeister eine ansehnliche Stellung im Dorf erreicht hatte, verweist seine Funktion als “Zwölfer”. 1769 schließlich starb mit Johann Michael Berckeß, dessen Sohn Schuhmacher wurde, der letzte Konkurrent der ´Großfamilie´. Bis ins 20. Jahrhundert, solange es in Kaltensundheim einen Schmied gab, blieben die Rauchs dann in diesem Beruf unter sich. Damit, daß sie sich gegen die anderen Familien durchgesetzt hatten, war die Auseinandersetzung um die Schmiede und um das Auskommen, das sie bot, aber noch nicht beendet. Trotz reduzierter Besetzung blieb das Handwerk auch in der Folgezeit zunächst überbesetzt. 2.1.1.5.3. Die Stellung der Familienlinie von Johann Adam Rauch: Verlierer im 19. Jahrhundert Seit den 1770er Jahren wurde der Kampf um die Schmiede zur einer Angelegenheit, die allein zwischen den Nachfolgern von Hanß Rauch II, seinen Nachkommen aus erster Ehe und denen aus zweiter Ehe, entschieden wurde. 553 Die Familie von 550 Vgl. S.178; vgl. auch Überblick II, S.175 551 Vgl. S.178 552 Zu der von der Familie Rauch vermutlich betriebenen Politik vgl. Abschnitt 2.1.2. in diesem Kapitel 553 Vgl. Überblick III, S.180f 182 Hanß II dominierte das Geschehen schon in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Sie setzte sich nicht nur gegen die Familien Mihm und Berckeß, sondern auch gegen andere Linien der ´Großfamilie´ durch. In diesem Prozeß starb der Teil der kaltensundheimer Schmiedefamilie Rauch aus, der von Mathäus in der zweiten Generation begründet worden war.554 Die Nachkommen seines Brudes, Johannes sen., wirkten daran zuletzt zwar nicht mit. Die Tradition brach ersichtlich deshalb ab, weil es nach dem Tod von Johannes Hanß im Jahr 1853 in seiner Familie niemanden gab, der sie hätte fortsetzen können. Einerseits fehlte am Ende also vielleicht nur ein Sohn. Andererseits deutet der Vergleich der Nachkommen von Johannes sen. mit denen von Mathäus darauf, daß sich die Unterlegenheit seiner Familie schon längerfristig anbahnte: Die Nachkommen von Mathäus stellten in jeder Generation einen Schmied in Kaltensundheim, die Nachkommen von Johannes sen. jeweils zwei Schmiede. Mathäus´ Sohn Hanß I heiratete 28jährig, während seine beiden Cousins, Johannes und Heinrich, bereits mit 23 bzw. 24 Jahren eine Familien gründeten. Diese Differenz wiederholte sich in der nachfolgenden Generation, in der Johannes Hanß dann mit 26 Jahren der älteste Rauch-Schmied war, der die Ehe einging. Im Vergleich der Familien von Johannes sen. und Mathäus Rauch fällt weiterhin auf, daß sie in keiner Generation über gegenseitige Patenschaften Beziehungen zueinander unterhielten. Daß die Nachkommen von Johannes sen. und Mathäus in der zwangsläufigen Auseinandersetzung um die Schmiede jeweils auch eigene Interessen verfolgten, war für ihre jeweilige Existenz notwendig. Darauf, daß sie gegen die beiden anderen Schmiede im Dorf, Berckeß und Mihm, eventuell ebenfalls nicht nur gemeinsame Interessen vertraten, deutet die Verbindung, die Johannes Hanß, der letzte Schmiedenachfolger von Mathäus, mit seiner Ehe einging. Er heiratete 1729 in die Familie Berckeß ein, die in Kaltensundheim zwar ein weitläufiges Verwandtschaftsnetz mit zahlreichen Familienlinien entwickelt hatte. Die Ehefrau von Johannes Hanß war mit dem Schmiedemeister Berckeß aber doch recht eng verwandt. Caspar Berckeß war der Bruder ihres Vaters, also ihr Onkel. Innerhalb der Nachkommenschaft von Johannes sen. war die Frage der Schmiedenachfolger nach einer Generation geklärt. Als sein Sohn Heinrich 1743 starb, verblieb nur Hanß II, der in Johann Heinrich längst einen Nachfolger hatte. 555 Mit ihm bestritten in den 1840er Jahren Johannes Hanß Rauch aus der Nachbarlinie sowie Johann Friedrich Mihm und Johann Michael Berckeß ihr Einkommen aus der 554 Vgl. Überblick II, S.175 555 Vgl. Überblick III, S.180f 183 Schmiede.556 Für die weitere Entwicklung war unter anderem maßgeblich, daß Hanß II, nach dem frühen Tod seiner ersten Ehefrau, im Jahr 1724 noch einmal geheiratet hatte. Mit dieser zweiten Ehe, aus der zwei künftige Schmiede hervorgingen, geriet im weiteren auch die Generationenfolge in der Familie ´durcheinander´. Joh. Georg II, Jahrgang 1726 und der ältere Sohn aus dieser zweiten Ehe, fiel ´zwischen´ zwei Generationen der ´Großfamilie´. Johannes I, der jüngere Sohn, wurde 1738 geboren und gehörte bereits auch zur Enkelgeneration von Hanß II: Die erneute Familiengründung von Hanß II erwies sich im weiteren als vorteilhaft im Sinne der Schmiedetradition der ´Großfamilie´, die ohne einen Nachkommen aus der zweiten Ehe von Hanß II zwischenzeitlich gefährdet gewesen wäre. Die Anforderung, durch berufliche oder räumliche Mobilität die Zahl der familieneigenen Schmiede in Kaltensundheim zu begrenzen, verkehrte sich Mitte des 18. Jahrhunderts vorübergehend ins Gegenteil. Zu diesem Zeitpunkt gab es bei den Rauchs einen dringenden Bedarf nach einem Nachfolger. Maßgeblich dafür war zunächst der Tod von Joh. Heinrich, Sohn aus erster Ehe von Hanß II, im Jahr 1748. Insgesamt wirkte auf Umstellungs- und Reproduktionsstrategien in der ´Großfamilie´ im Verlauf des 18. Jahrhunderts mehrfach der verhältnismäßig frühe Tod von kaltensundheimer Schmieden regulierend.557 In diesem Fall nahm er Einfluß auf die Perspektiven von Joh. Georg II und vermutlich auch Johannes I, die beiden Halb- 556 Vgl. S.178 557 In der ´Großfamilie´ starben, neben Joh. Heinrich, ebenfalls noch im erwerbsfähigen Alter die Schmiedemeister Heinrich (1684-1743), Joh. Hanß (1703-1753) und Joh. Peter (1736-1780). In der Familie Mihm starb Joh. Friedrich (1702-1752) relativ früh, bei den Berckeß dann Joh. Michael (1713-1769). 184 brüder des Verstorbenen. Bei Johannes I, dessen berufliche Zukunft noch offen war, konnte die Entscheidung für den Schmiedeberuf jetzt selbstverständlicher fallen. Zwar hatte auch Joh. Heinrich zwei Söhne hinterlassen; gleichzeitig war Mitte des 18. Jahrhunderts aber bereits nicht unwahrscheinlich, daß die von Mathäus Rauch begründete Linie kaltensundheimer Schmiede aussterben würde, weil Joh. Hanß keinen Sohn hatte. Durch dieses erwartbare Ende der Schmiedetradition bei Joh. Hanß waren für Joh. Georg II, den Grovater von Johann Adam Rauch, die Aussichten theoretisch ohnehin vielversprechend. Der Tod von Joh. Heinrich machte ihn dann unmittelbar zum Gewinner der Entwicklung. Johann Georg II war in der ´Großfamilie´ der einzige Angehörige der jüngeren Generation, der bereits als gelernter Schmied zur Verfügung stand, um die Nachfolge des Halbbruders anzutreten. Sein Verbleib in Kaltensundheim und eine Familiengründung waren von daher praktisch gesichert. Er heiratete 1749, ein Jahr nach dem Tod des Bruders, als 23jähriger. Als dann im Jahr 1753 die Linie von Joh. Hanß mit dessen relativ frühzeitigen Tod ausstarb, war Joh. Georg II nicht der einzige Schmiedemeister in Kaltensundheim. Daneben, wenn auch in vermutlich eher marginaler Position, gab es noch Johann Michael Berckeß, dessen Tätigkeit mit der abnehmenden Zahl von Schmieden zwischenzeitlich ebenfalls aufgewertet wurde. Joh. Georg II war demnach zwar nicht für das Dorf, aber für die ´Großfamilie´, zumindest eine zeitlang, unentbehrlich. Dies nicht nur im Sinne der beruflichen Tradition und der Stellung der Familie im Dorf, die es zu wahren galt. Unentbehrlich war Johann Georg II auch im Hinblick auf das Auskommen seiner Angehörigen. Johann Georg II hatte nicht nur eine eigene Familie zu ernähren; zu versorgen waren auch seine Eltern und sein jüngerer Bruder Johannes I sowie die Ehefrau und drei Kinder, die sein Halbbruder Johann Heinrich hinterlassen hatte. Joh. Georg II unterhielt Beziehungen zu verschiedenen Linien der ´Großfamilie´. Die Paten seiner Kinder kamen unter anderem aus der Familie seines verstorbenen Halbbruders, der Familie seines Cousins Hanß Caspar und von Seiten seines Bruders Johannes I. Erwähnenswert sind diese relativ breit angelegten innerfamiliären Verbindungen deshalb, weil sie in der Geschichte der ´Großfamilie´ erstens eine Ausnahme bildeten und zweitens mit der Besonderheit zusammenkamen, daß Joh. Georg II als Schmied unter den Rauchs konkurrenzlos war. Der Kreis der Verwandten, die Paten wurden, war in der nachfolgenden Generation wieder enger gezogen. Hier gab es entsprechende Verbindungen nur noch zwischen den Linien von Joh. 185 Georg II und Johannes I,558 also unter den Nachkommen der zweiten Ehe von Hanß I, die dann, eine weitere Generation später, abbrachen. Zur Linie von Joh. Heinrich, den Nachkommen aus der ersten Ehe von Hanß I, bestand schon zuvor keine Beziehung über Patenschaften mehr. Diese Entwicklung fiel damit zusammen, daß alle drei Familien seit den 1760er Jahren jeweils einen Schmiedemeister stellten. Es gab zwar seit dem Tod von Johann Michael Berckeß im Jahr 1769 keine außerfamiliäre Konkurrenz mehr. Dennoch erhöhte sich allein aufgrund langfristig steigender Preise und abnehmender Ackerbauflächen, die den Rauchs zur Verfügung standen, dauerhaft der Problemdruck und die Sorge um das Auskommen.559 Daß der Ausschluß anderer Schmiedefamilien keine Entlastung im Sinne hinreichend erweiterter Handlungsspielräume bedeutete, kommt auch im steigenden Heiratsalter der Rauch-Nachkommen zum Ausdruck. Unter ihnen entstanden folgende Konstellationen:560 558 Vgl. Überblick III, S.180f 559 Zur Entwicklung der wirtschaftlichen Verhältnisse vgl. Abschnitt 2.1.1.1. in diesem Kapitel 560 Vgl. auch Überblick III, S.180f 186 Es scheint, als habe die Linie von Joh. Heinrich und Joh. Peter I ihre Interessen an der Schmiede lange Zeit schwer durchsetzen können. Für eine schwache Position spricht nicht nur das Heiratsalter, das bei Nicolaus II und Johann Caspar I höher als bei ihren jeweiligen Cousins war. Die Nachkommen von Joh. Heinrich waren praktisch der ´potentielle Versorgungsfall´ unter den verbliebenen Schmiedefamilien und wiederholt auf Unterstützung der Nebenlinien angewiesen. Eine dauerhaft selbständige Existenz wurde erst durch den frühzeitigen Tod von Joh. Heinrich verhindert. Diese Situation, in der Ehefrau und Kinder unversorgt zurückblieben, kehrte dann gleich in der nachfolgenden Generation wieder, bei Joh. Peter I. Joh. Heinrich hinterließ drei Kinder. Die einzige Tochter heiratete erst spät, mit 45 Jahren, einen Witwer. Die beiden Söhne, Joh. Peter I und Nicolaus I, wurden Schmiede. Zusammen mit Johannes I aus der Nachbarlinie brachten sie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts reichlich Verstärkung für Joh. Georg II. Die drei ´Neulinge´ waren einander nicht gleichgestellt. Nicolaus I, der jüngste unter ihnen, blieb Geselle und konnte vermutlich keine eigene Familie ernähren. Er starb unverheiratet im Alter von 30 Jahren. Die Positionen von Joh. Peter I und Johannes I scheinen innerhalb der Familie ebenfalls verschieden gewesen zu sein, wobei Seniorität und Qualifikation in dem Fall nicht ausschlaggebend waren. Beide waren Schmiedemeister. Johannes I war der jüngere von beiden, heiratete aber eher, als 23jähriger, Johann Peter erst mit fast 28 Jahren. Seine Familiengründung erforderte scheinbar eine zusätzliche Erwerbsquelle. Joh. Peter wurde Fuhrmann. Nachdem er 44jährig “von einer Fuhre nach Holland ausgeblieben” war, blieb seine Ehefrau mit vier Kindern zurück, von denen noch keines erwachsen war. Daß die beiden Söhne, Nicolaus II und Hanß Adam, ebenfalls Schmiede wurden, spricht dafür, daß Joh. Peter I seinen erlernten Beruf, neben dem Fuhrbetrieb, nicht aufgegeben hatte.561 Die Lebenschancen von Nicolaus II und Hanß Adam waren, wie schon in der Elterngeneration, verschieden.562 Für Hanß Adam, den jüngeren der beiden Brüder und zugleich jüngsten unter den Schmiedenachkommen seiner Generation, gab es im Heimatort keine Chance auf Erwerb und eigene Familie. Aber auch in der Umgebung war es um Möglichkeiten, als Schmiedemeister auf eigene Rechnung zu 561 Diejenigen Linien der ´Großfamilie´, in denen es beruflich vollkommene Umorientierungen gab, schieden spätestens mit der nachfolgenden Generation endgültig aus der Schmiedetradition aus. Darauf, daß die Familie von Joh. Peter I in der Schmiede blieb, deutet auch das weitere Geschehen: 1786, sechs Jahre nach dem Verschwinden von Joh. Peter I, wurde seine hinterlassene Ehefrau Mutter eines außerehelich geborenen Kindes. Der “Thäter” war Johannes Albrecht aus Steinbach, ein Schmiedegeselle. 562 Vgl. S.186; vgl. auch Überblick III, S.180f 187 arbeiten, offenbar schlecht bestellt. Hanß Adam war noch 1805, fast 30jährig, als Hufschmiedegesell auf Wanderschaft. Daß sich die Schmiede innerhalb der Region seit dem Ende des 18. Jahrhunderts zumindest teilweise in bedrohten oder schon prekären Soziallagen befanden, belegt auch das Beispiel der Schwester von Hanß Adam und Nicolaus II: Anna Elisabetha heiratete im Jahr 1797 einen Huf- und Waffenschmied aus Aschenhausen, einem der Nachbarorte. Sie selbst war zum Zeitpunkt der Eheschließung knapp 27 Jahre, ihr Ehemann, Joh. Michael Preiß, bereits 33 Jahre alt. Er führte die Schmiede seines im Jahr zuvor verstorbenen Vaters weiter, war nach der Familiengründung aber auf zusätzlichen Erwerb als Geschirrhalter und Fuhrmann angewiesen. Drei der vier überlebenden Kinder von Anna Elisabetha Rauch und Joh. Michael Preiß, unter ihnen auch zwei Söhne, wanderten in den 1840er Jahren nach Amerika aus. Für Nicolaus Rauch II waren die Voraussetzungen zwar besser als für seinen Bruder Hanß Adam.563 Als der ältere von beiden nahm er das Vorrecht in Anspruch, Schmiedemeister zu werden. Gleichzeitig aber war er der jüngste der drei Anwärter seiner Generation auf die kaltensundheimer Schmiede. Die Position, die seine Linie innerhalb der ´Großfamilie´ einnahm, war auch damit erneut keine günstige. Das Heiratsalter in dieser Schmiedegeneration lag in allen drei Linien höher als zuvor. Dabei noch verhältnismäßig jung war mit 25 Jahren Johann Melchior, der 1789 eine Familie gründete.564 Zuvor hatte Johannes jr., der Vater von Johann Adam Rauch und der älteste der drei Schmiedeneulinge, 1787 geheiratet.565 Er war bereits 28 Jahre alt. Vermutlich schon weit über 30 Jahre alt war dann Nicolaus II, der als letzter seiner Generation die Ehe einging. Über den Zeitpunkt fehlen Angaben, weil die Eheschließung in Kaltennordheim erfolgte. Bekannt sind aber die Geburtsdaten der zehn gemeinsamen Kinder der Eheleute, von denen das erste 1798 geboren wurde. Nachdem die Konstellationen der Schmiede über zwei Generationen vor allem für die Nachkommen von Joh. Heinrich, Joh. Peter I und Nicolaus II, nachteilig gewirkt hatten, verkehrten sich in der Folgezeit die Verhältnisse. Im 19. Jahrhundert übernahmen die beiden ältesten Söhne von Nicolaus II, Joh. Caspar I und Joh. Friedrich I, sowohl die Ober- als auch die Unterschmiede.566 Eine Bedingung der Möglichkeit 563 Vgl. S.186; vgl. auch Überblick III, S.180f 564 Für den Erwerb der Meisterschaft bildete sein 1783 unehelich geborenes Kind offenbar kein Hindernis. 565 Vgl. S.186; vgl. auch Überblick III, S.180f 566 Vgl. ebd. 188 dafür war, daß sich beide zum Meister qualifizierten. Nach dem bisherigen Verlauf der Familiengeschichte wäre durchaus erwartbar, daß sich Joh. Caspar und Joh. Friedrich darüber hinaus aktiv gegen die anderen beiden Schmiedefamilien durchsetzen mußten, zumal sie die jüngsten Schmiedenachkommen ihrer Generation waren. Inwieweit die für sie günstige Entwicklung von innerfamiliären Auseinandersetzungen begleitet war, ist unklar. Erkennbar ist nur, daß ihr Veränderungen in den beiden anderen Linien vorausgingen, von denen Joh. Caspar und Joh. Friedrich zwar profitierten, die sie selbst aber wohl kaum, jedenfalls nicht unmittelbar, verursacht hatten. Sichtbar ausschlaggebend für das Ende der Schmiedetradition in den beiden Nachbarlinien war, daß sich ihre Angehörigen, Johann Adam und Johann Martin, nicht zum Meister qualifizierten. Als die beiden älteren Vertreter ihrer Generation hätten sie auf diese Weise theoretisch als erste die Voraussetzungen für einen, gegenüber der Tätigkeit als Geselle, noch gesicherteren und ertragreicheren Arbeitsplatz in der Schmiede erfüllen können. So aber waren Joh. Caspar I und Joh. Friedrich I als Anwärter auf die beiden Schmieden letztlich konkurrenzlos: Chancen eröffneten sich zunächst mit dem Tod von Johann Melchior im Jahr 1820.567 Mit ihm starb der letzte Schmiedemeister dieser Familienlinie. Sein Sohn Johann Martin, er war 1792 geboren und damit der älteste in der Generation der Schmiedenachkommen, hätte die Schmiede als Geselle nicht weiterführen können. In Frage kamen dafür zunächst Nicolaus II und dann auch sein ältester Sohn, Joh. Caspar I. Dessen jüngerer Bruder, Joh. Friedrich I, profitierte von analogen Entwicklungen in der anderen Schmiede. Hier war spätestens nach dem Tod von Johannes jr. die Nachfolge, die Johann Adam als Geselle nicht antreten konnte, offen. Nach dieser Interpretation war die Linie von Johann Adam in der Unterschmiede zuhause, in der Joh. Friedrich I und seine Nachkommen anschließend die Schmiedetradition der ´Großfamilie´ fortsetzten, während die Familie von Joh. Caspar I fortan die Oberschmiede unterhielt. Konstellationen mit drei Schmiedemeistern bzw. drei, aus zwei Schmieden, zu ernährenden Familien wiederholten sich in der Folgezeit nicht mehr.568 Einer Überbesetzung wirkten beide Linien durch berufliche Umorientierung, Ab- und Auswanderung erfolgreich entgegen. Gleichzeitig sorgten sie gemeinsam dafür, daß die Rauchs als Schmiede ohne Konkurrenz im Dorf blieben. Ende des 19. Jahrhunderts war dafür eine gezielte Heiratsstrategie notwendig, nachdem mit Hugo Rauch im Jahr 1894 der Nachfolger in der Unterschmiede bereits 25jährig gestorben war. 567 Vgl. S.186; vgl. auch Überblick III, S.180f 568 Vgl. Überblick III, S.180f 189 1896 heirateten dann eine Schwester des Verstorbenen und Christian Leonhard Rauch, ein Nachkomme aus der Oberschmiede. Auf diese Weise konnte die Unterschmiede von der Familie weitergeführt werden. Christian Leonhard war als Schmiedemeister zuvor nach Westfalen abgewandert. Eine berufliche Existenz in Kaltensundheim war ihm zunächst verwehrt, weil sein älterer Bruder für die Nachfolge in der väterlichen Oberschmiede vorgesehen war. Trotzdem beide Linien so auch gemeinsamen Interessen folgten und die Rechte an beiden Schmieden scheinbar eindeutig geregelt waren, blieben die Beziehungen der Familienangehörigen untereinander nicht unbeeinträchtigt. Christian Leonhard, der in die Unterschmiede eingeheiratet hatte, beendete sein Leben 1922 mit einem “Suicid wg. Sorgen um den Hausverkauf zwecks Aufhebung der Gemeinschaft”, wie im Kirchenbuch vermutet wurde. Denkbar ist, daß es zwischen Christian Leonhard und den Söhnen seines Bruders, Gustav Friedrich, nach dessen Tod im Jahr 1921 zu Auseinandersetzungen um das Erbe gekommen war. Gustav Friedrich Rauch hatte in der Oberschmiede gewohnt. Sofern der angesprochene “Hausverkauf” mit diesem Wohnsitz zusammenhing, würde dies darauf deuten, daß die Schmieden dann tatsächlich im Besitz der Familie waren. Falls das bereits im 18. Jahrhundert mit seinen scheinbar komplizierteren Familienkonstellationen der Fall war, wären vor allem für diese Zeit mehrfacher Regelungsbedarf und Auseinandersetzungen innerhalb der ´Großfamilie´ lebhaft zu vermuten. Die Linie von Johann Adam Rauch hat ihre Stellung in Kaltensundheim und innerhalb der ´Großfamilie´ lange Zeit behaupten können. Daß dies tatsächlich keine Selbstverständlichkeit war, haben Konstellationen und Konkurrenz im beruflichen Feld bestätigt. Nicht alle Schmiedesöhne hatten die Chance, den beruflichen Weg des Vaters fortzusetzen. Die Zahl der Schmiedenachfolger, die Aussicht auf eine Meisterstelle hatte, war ebenfalls begrenzt. Bei Johann Adam und auch bei seinem Cousin Johann Martin allerdings sprachen familiäre Konstellationen für diese Möglichkeiten. Sie waren nicht nur im Verhältnis zur Linie von Johann Nikolaus II und dessen Nachkommen aufgrund ihres höheren Alters im Vorteil, sondern hatten als die jeweils einzigen überlebenden Söhne ihrer Familien auch innerhalb der eigenen Linien keine Probleme zu erwarten. Johann Adam und Johann Martin verhielten sich zunächst erwartungsgemäß, indem sie den Schmiedeberuf erlernten. Daß sich beide anschließend nicht zum Meister qualifizierten, scheint, auch angesichts der Grenzen im Feld des beruflich Möglichen, demgegenüber dann eher die unwahrscheinlichste der erwartbaren Varianten gewesen zu sein. Aus den Handlungsspielräumen, die ihnen familiäre Konstellationen zu dem Zeitpunkt noch boten, ist dies allein nicht zu erklären. Dennoch trägt die ´Großfamilie´, auch wenn 190 Johann Adam Rauch nicht ihrer unmittelbaren Konkurrenz unterlag, zur Antwort auf die Frage bei, warum mit ihm die Schmiedetradition seiner Linie endete. Dieser Punkt wird in der anschließenden Diskussion noch einmal aufgegriffen, in der die behandelten Merkmale und ihre Entwicklungen miteinander in Beziehung gebracht werden. 2.1.2. Handlungsspielräume, Handlungsziele, Handlungsstrategien: Die Verteidigung der Erfahrungen von Selbständigkeit und Respektabilität Dem Abschnitt über die kaltensundheimer Schmiedefamilien war vorangestellt, daß in den beruflichen Orientierungen ihrer Angehörigen deren möglichen Neigungen auf jeden Fall auch auf strukturbedingte Notwendigkeiten trafen. Im Mittelpunkt der anschließenden Untersuchung standen dann vor allem die Struktur der ´Großfamilie´ Rauch und die Beziehung zwischen innerfamiliären Reproduktionsstrategien und Arbeitsmarkt bzw. den ökonomischen Notwendigkeiten als einem strukturbedingten und strukturbildenden Merkmal. Mit dieser Perspektive verbunden war eine Engführung: In der Anforderung, das Auskommen in materieller Hinsicht zu gewährleisten, wurde ein Leitmotiv der Praxis vermutet, das entsprechend auch zu einem Leitmotiv in der Argumentation wurde, hinter dem andere mögliche Notwendigkeiten und Neigungen der Familienangehörigen zunächst zurückstanden. Tatsächlich lassen sich Praktiken und Umstellungsstrategien der Familie über weite Strecken plausibel dahingehend verstehen und erklären, daß sie dem Streben nach materieller Absicherung galten. Es war ein zwangsläufig weithin geltendes Handlungsmotiv. Als “Bedarfsdeckungsprinzip” war die “Idee” der Nahrung ursprünglich grundlegend für das Zusammenleben und Wirtschaften im Dorf.569 Sie war leitendes Prinzip der alten bäuerlichen Hufenverfassung, das auf gewerbliche Verhältnisse übertragen wurde.570 Sombart hebt das “standesgemäße Auskommen” dann auch als eine der beiden wesentlichen Bestrebungen des Handwerkers hervor.571 Dafür, daß die Frage nach dem Auskommen in der Familie Rauch zunehmend in den Vordergrund rückte und ein zentrales Handlungsmotiv gewesen sein mußte, spricht die Überbesetzung der Schmiede im 18. Jahrhundert. Sie läßt sich auf die fort- 569 Vgl. Sombart 1987 [1916], S.45ff. Auch das Wirtschaftsleben mittelalterlicher Städte war an ihr ausgerichtet. Vgl. ebd., S.183f 570 Vgl. ebd., S.190 571 Vgl. ebd., S.190f und Sombart 1921, S.55 191 schreitende Begrenzung der Handlungsspielräume und Möglichkeiten zurückführen, den Lebensunterhalt zu bestreiten. Noch in der dritten Generation der Rauchs ermöglichten die Perspektiven ihren Angehörigen, als Geselle zu heiraten. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gab es dann zwei Schmiedegesellen in der Familie, die noch als 30jährige unverheiratet waren.572 Daß es in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts fünf Schmiedemeister in Kaltensundheim gab, zeigt auch die Schwierigkeit an, sich andernorts als Schmied niederzulassen. Um 1700 hatte einer der Rauch-Söhne noch die Möglichkeit gehabt, sich in Kaltennordheim selbständig zu machen.573 Ebenfalls schwieriger wurde es, berufliche Umstellungsstrategien zu entwickeln. In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts wechselten zwei Schmiedesöhne zum Gerberhandwerk.574 Entsprechende Alternativen standen später kaum mehr zur Verfügung. Bis in die Generation von Johann Adam Rauch waren die Handlungsspielräume der Familie erheblich gesunken. Sowohl gegenüber den Vorfahren als auch den Angehörigen, die im 19. Jahrhundert die Schmiede weiterführten, war seine Lage vergleichsweise aussichtslos. Hohe Preise, abnehmender Landbesitz, im Zuge der Protoindustrie untergeordnete Bedeutung der Landwirtschaft und innerfamiliäre Konkurrenz um die Schmiede gehörten zu den Bedingungen, unter denen für Johann Adam ein Auskommen kaum noch zu gewährleisten war. Die auch ihre materielle Lage erklärenden Spielräume und Grenzen im Handlungsfeld der Familie tragen zur Erklärung der Praktiken der Angehörigen bei. Daß sie sich darauf allerdings nicht reduzieren lassen, belegt in der Fallstudie auch, aber nicht zuerst, Johann Adam Rauch. Bereits seine Vorfahren orientierten sich nicht allein an dem Motiv, ihr Auskommen zu sichern. Zwar spricht einerseits die Überbesetzung der Schmiede für dessen wachsende Bedeutung. Auf der anderen Seite gab es trotz der Begrenzungen im 18. Jahrhundert jedoch noch berufliche Alternativen und Existenzmöglichkeiten. Mit der Barchentweberei boten sich während dieser Zeit durchaus Chancen auf ein vergleichsweise einträgliches Geschäft. Ob es ein höheres Auskommen als die Schmiede gewährleistete, ist zwar offen. Einem entsprechenden Wechsel widersprachen aber allein schon die eigene Tradition und das damit verbundene Standesbewußtsein: “In eine fremde Zunft, in ein anderes Berufsfeld und damit auch in ein anderes soziales Milieu zu wechseln, galt als schwierig, vielfach sogar als problematisch im doppelten Wortsinn, von Wechseln 572 Nicolaus I (1744-1774) und Hanß Adam (1776-?). Vgl. S.180f 573 Georgius (1669-?). Vgl. S.175 574 Joh. Görg (1706-1758), vgl. S.175, und Hanß Caspar (1709-1758), vgl. S.180f 192 ins Unzünftige und in neue Aufgabenfelder ganz zu schweigen (...).”575 Berufliche Umorientierungen, die gleichfalls Veränderungen bisheriger Gewohnheiten und Lebensführungen verlangten, waren eine Herausforderung für den Habitus, der die Schmiedefamilie beharrlich widerstand. Ausgenommen davon war nur die Linie von Hanß Peter Rauch, dessen Nachkommen sich in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts auf die Barchentweberei umstellten.576 Zu dieser Familienlinie hielten die Schmiede anscheinend keinen Kontakt; jedenfalls gab es keine Verbindungen über Patenschaften. Gegenüber der Beharrlichkeit des Habitus drängt sich bei Johann Adam Rauch die Frage auf, ob seiner Entscheidung für ein Gesellendasein eine, gegenüber den Vorfahren, grundlegende Veränderung im Habitus vorausging. Daran anzuschließen ist auch die Frage, ob seine spätere Lebensführung eine solche Veränderung erkennen läßt. Daß Erklärungen und Antworten darauf in der Beziehung von Habitus und Feld liegen, sollten die vorangestellten Überlegungen noch einmal anschaulich machen. Das Feld allein kann die Praktiken nicht erklären. Der Habitus führt ihm gegenüber auch ein ´Eigenleben´. Dennoch kann er nicht aus sich selbst heraus erklärt werden. Der Habitus ist nicht unabhängig vom Feld, in dem er praktiziert wird. Seine Bedeutung zu betonen, heißt also nicht, daß er gegen das Feld ´auszuspielen´ wäre. Das eine ist ohne das andere nicht zu erklären, “(...) zwischen Habitus und Feld besteht ein unauflösliches Komplementärverhältnis (...).”577 Die Beharrlichkeit des Habitus ist ein Grund dafür, daß es, so wie der Versuch, die Lebensführung von Johann Adam Rauch auf die unmittelbaren Gegebenheiten des Feldes zu reduzieren, auch zu kurz greift, seinen Habitus ohne dessen Geschichte zu erklären. In der Entwicklung der Beziehung von Habitus und Feld der Familie Rauch konkretisiert sich, was sich schon im Verhältnis von regionaler Entwicklung und Lebensführung der Eisenacher Oberländer andeutete.578 Daß die Komplementarität von Habitus und Feld nicht zwangsläufig Übereinstimmung im Sinne einer gelingenden Ergänzung und Anpassung bedeutet, hatte sich dort bereits als eine Möglichkeit abgezeichnet. In der Familie Rauch entstanden mit der Dynamik des Feldes ebenfalls langfristig Ungleichzeitigkeiten in der Beziehung von Handlungsspielräumen, Handlungszielen und Handlungsstrategien. Die Möglichkeiten, die sich Johann Adam Rauch noch boten, waren mit seinen Vorstellungen nicht mehr 575 Gall 1993, S.3f 576 Vgl. S.180f 577 Schwingel 1995, S.69; vgl. auch Abschnitt 2. im I. Kapitel 578 Vgl. Abschnitt 1.4. in diesem Kapitel 193 vereinbar. Neben den Erfahrungen waren dabei auch die Zukunftsperspektiven bedeutsam. Zur Vorgeschichte der Familie gehört eine respektable Stellung im Dorf. Die Beziehungsstruktur der Merkmale, die ihrem Habitus wesentlich zugrundelag579, war zwar dadurch gekennzeichnet, daß die Rauchs zu den Beherrschten gehörten; ihre soziale Position ermöglichte aber auch Einfluß und Beteiligung im politischen Feld. Ausgestattet mit Grundbesitz und einem hoch bewerteten Kulturkapital, unterhielt die Familie soziale Beziehungen zum gehobeneren Feld der Dorfgemeinde, zu den Bauern und gemeindlichen Funktionsträgern. Diese Beziehungen konnten gewinnbringend zum Erhalt der sozialen Position genutzt werden: im ökonomischen Feld wurde materieller Besitz durch die Strategie gewahrt, in bäuerliche Familie einzuheiraten. In dem Zusammenhang wurde auch soziales Kapital akkumuliert, das durch die Position der angeheirateten Familien im politischen Feld der Gemeinde noch gestärkt wurde. Die Rauchs verfügten nicht nur über kleinbäuerliche Existenzgrundlagen, sondern waren auch Handwerker. Im Verlauf der Generationen nahm die Bedeutung ihres kulturellen Kapitals zu. Durch Erbteilungen verringerten sich die Ackerbauflächen, die den Angehörigen zur Verfügung standen. Entsprechend war es in den angeheirateten Familien, die ebenfalls zunehmend auf gewerbliche Tätigkeit angewiesen waren. Ein standesgemäßes Auskommen war für Bauern wie für Handwerker ein wichtiges Handlungsmotiv. Ein anderes grundlegendes Ziel, das Sombart für den Handwerker betont, ist seine Selbständigkeit580: “Der Handwerker ist auf den Absatz seiner Erzeugnisse angewiesen: er steht stets im Rahmen einer verkehrswirtschaftlichen Organisation. Er will (und muß seiner Wesenheit nach) gewerblicher Produzent, und er will freier, selbständiger Produzent sein.”581 Dem hier bezeichneten “nichtlandwirtschaftlichen” Handwerkertypus entsprachen die Schmiede der Familie Rauch ihrer “Wesenheit nach” vor allem in den ersten Generationen nur bedingt. Der betriebene Ackerbau war als Nahrungsgrundlage insbesondere im 17. Jahrhundert bedeutsam, blieb aber auch in der Folgezeit wichtig. “Man darf annehmen, daß erst durch Loslösung des Arbeiters von der Scholle, also in der Stadt, diese starke Betonung gerade der Selbständigkeit eintritt, 579 Vgl. hier auch Abschnitt 6. im I. Kapitel 580 Vgl. Sombart 1987 [1916], S.190f und Sombart 1921, S.55 581 Sombart 1987 [1916], S.191 194 wie wir sie in aller handwerksmäßigen Sinnesart antreffen.”582 Selbständigkeit wurde hier zum Distinktionsmerkmal und diente der Abgrenzung von “äußerlich ähnlichen Existenzen auch gewerblicher Arbeiter und bildete damit einen wesentlichen Grundzug echt handwerksmäßiger Organisation erst recht aus.”583 Familie Rauch verließ zwar nicht das Dorf, war im 18. Jahrhundert aber wirtschaftlich stärker auf die Ausübung ihres Handwerks angewiesen. Damit änderte sich insofern ihre “Wesenheit”, als die Bedeutung ihrer auf dem Handwerk gründenden Selbständigkeit zunehmend in den Vordergrund rückte. Selbständigkeit ist hier nicht im Sinne der Frage zu verstehen, ob sie im Besitz der beiden Schmieden war. In diesem Zusammenhang bedeutsam ist vielmehr, daß die Rauchs aufgrund ihrer Kompetenz und deren Institutionalisierung in der konkreten Ausübung ihres Handwerks keinen Weisungen und Reglementierungen unterstand.584 Eine gewisse Autonomie und die soziale Anerkennung bzw. Respektabilität, die das kulturelle Kapital begründete, waren Erfahrungen, die als inkorporierte zu Handlungszielen, vielleicht auch zu einer mehr oder minder selbstverständlichen Erwartung, wurden. Im Blick auf die Unabhängigkeit der Rauchs ist dabei zu berücksichtigen, daß sie nicht erst für ihre handwerkliche Existenz angenommen werden kann. Auch die Stellung der Bauern in Thüringen war während der frühen Neuzeit schon relativ frei.585 Die Rauchs waren Selbständigkeit als Kleinbauern und als Schmiede gewohnt; gegenüber anderen sozialen Gruppen diente sie auch dem Dorfhandwerker als ein Distinktionsmerkmal, das Sombart für den städtischen Handwerker betont. Gefährdet wurde die relative Autonomie der Familie Rauch im 18. Jahrhundert durch abnehmenden Landbesitz und durch die Konkurrenz der anderen Schmiedefamilien im Dorf. Mit den Familien Mihm und Berckeß mußte die ältere Schmiedefamilie in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts ihre Existenzgrundlagen bedroht sehen, wenngleich es sich letztlich nur um schwache Konkurrenten handelte. Daß die Rauchs genau während dieser Zeit verstärkt in soziales Kapital und Beziehungen im ´politischen Feld´ investierten, geschah vermutlich nicht zufällig. Sie besetzten 582 Sombart 1987 [1916], S.191. 583 Ebd. 584 Was nicht bedeutet, daß sie unabhängig von der Gemeinde und den mit ihr getroffenen Vereinbarungen war. 585 Vgl. Abschnitt 1.2. in diesem Kapitel. Die Selbständigkeit der Bauern war zwar ökonomisch, damit anders begründet als die der Handwerker, deren Selbständigkeit auf kulturellem Kapital fußte. Die Erfahrung von Eigenständigkeit wird hier dennoch für beide angenommen. Sombart grenzt Bauern und Handwerker stärker voneinander ab. (Vgl. Sombart 1987 [1916], S.191) 195 höhere Gemeindefunktionen und heirateten in entsprechende Familien ein. Der Sinn dieser Strategien, die für sich genommen die anerkannte soziale Stellung der Rauchs unterstreichen, erschließt sich auch aus der Konkurrenz im Dorf. Die ´Großfamilie´ betrieb gegen sie offenbar aktiv Politik. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wahrten die Rauchs zwar noch durch einen ihrer Angehörigen die Möglichkeit zur direkten politischen Einflußnahme. Ehen mit Töchtern, deren Väter gemeindepolitisch tätig waren, schloß sie aber kaum noch. Da diese Entwicklung mit dem Ende der Schmiedefamilien Mihm und Berckeß zusammenfiel, muß sie sicherlich nicht zwangsläufig auf eine Abwärtsbewegung in der Familie Rauch hinweisen. Die Veränderungen in ihren sozialen Beziehungen liessen sich auch dahingehend interpretieren, daß es, nachdem sie sich gegen ihre Konkurrenz durchgesetzt hatte, für die Familie auch keinen Anlaß mehr gab, die für diese Auseinandersetzung erforderlichen Ressourcen zu mobilisieren. Gleichzeitig aber ist zu vermuten, daß sie ihr in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts schließlich auch nur noch begrenzt zur Verfügung standen. Zwischen Habitus und Feld entstanden während der Zeit zunehmend Widersprüche. Für diesen Habitus wesentlich waren Erfahrungen von sozialer Anerkennung bzw. Respekabilität, Autonomie und standesgemäßem Auskommen, mit denen die Familiengeschichte begann. Weitgehend uneingeschränkt galten sie in den ersten beiden Generationen der Schmiede. Nach 1700 blieben diese Erfahrungen, die als inkorporierte zu Handlungsmotiven wurden, nicht selbstverständlich. Die Ressourcen an ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapital, auf denen die Handlungsstrategien der Rauchs gründeten, reichten aber aus, sich unter veränderten Existenzbedingungen zu behaupten. Indem sie die außerfamiliäre Konkurrenz abwehrten, trugen sie nach ihren Möglichkeiten dazu bei, die eigenen Handlungsziele für sich zu bestätigen. Ihre Macht, auf Entwicklungen im gesellschaftlichen Feld Einfluß zu nehmen, war damit allerdings erschöpft. Die bleibende Überbesetzung des Handwerks, steigende Ausgaben und die abnehmende Bedeutung des Ackerbaus in Verbindung mit der Protoindustrie schränkten Anerkennung, Autonomie und Auskommen der Schmiede ein. Die Rauchs arrangierten sich zwar damit, um ihre gewohnte Lebensführung aufrecht erhalten zu können. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts waren die Chancen auf einen gelingenden Balanceakt zwischen untereinander und in Beziehung zu den jeweils gegebenen Erfolgsaussichten konkurrierenden Handlungsmotiven aber doch deutlich gesunken. Die soziale Stellung der Schmiede war nicht zu halten. Johann Adam Rauch standen keine dem 17. Jahrhundert vergleichbaren Ressourcen zur 196 Verfügung, um die in der Familie tradierten Handlungsziele zu erreichen. Ihm blieb als Mittel vor allem der Erwerb kulturellen Kapitals, eine Möglichkeit, die er schließlich nicht vollständig nutzte. Mit der Entscheidung gegen die Qualifizierung zum Meister setzte Johann Adam Rauch langfristig alles, Auskommen, Selbständigkeit und Respektabilität, aufs Spiel. Ausschlaggebend dafür waren Erfahrungen und Zukunftsperspektiven, unter denen eine Investition in kulturelles Kapital keinen Gewinn versprach. Die Entscheidung, Geselle zu bleiben, muß zwar mit dem Habitus von Johann Adam Rauch zu tun gehabt haben, der sich aber nicht grundlegend geändert hatte. In Beziehung zu seinem spezifischen Handlungsfeld praktizierte Johann Adam eine Variante des Habitus seiner Vorfahren. Für eine komplett andere Aneignung ihrer familiären Welt gab es keinen Anlaß. Dafür spricht auch, daß das Handlungsfeld der Rauchs trotz Veränderungen zugleich erhalten blieb. Johann Adam Rauch waren die Handlungsvoraussetzungen seiner Vorfahren nicht völlig entzogen. Die Überbesetzung des Handwerks schränkte Autonomie, Einkommen und Einzigartigkeit der Kompetenz jedes einzelnen Schmieds zwar ein. Mit der tradierten Berufspraxis und Lebensführung überdauerten aber auch andere wesentliche Grundlagen des Habitus mindestens bis in die Generation von Johann Adam Rauch. Er wurde Schmied und blieb es auch lange Zeit, auf jeden Fall bis 1827. Von seinen Vorgängern unterschied ihn zunächst, daß seine Kompetenz nicht institutionalisiert war. Damit war vorweggenommen, daß Johann Adam, wie auch sein Cousin Johann Martin, der ebenfalls Geselle blieb, langfristig aus der Schmiede ausscheiden würde. Theoretisch wäre ein Verbleib als Geselle zwar möglich gewesen. Ob Johann Adam die Schmiede freiwillig verließ, ist zwar offen; anzunehmen ist aber, daß eine untergeordnete Tätigkeit in der Schmiede auf Dauer seinem Habitus widersprach. Daß Johann Adam Rauch langfristig bei einem jüngeren Verwandten, dem Sohn des eigenen Cousins, im Dienst gestanden hätte, war eine Perspektive, die das mit der Abhängigkeit verbundene mögliche Empfinden von Erniedrigung anschaulich macht; dies, zumal Johann Adam aus der Linie der ´Großfamilie´ kam, die im 18. Jahrhundert die Nebenlinie des Cousins eher noch dominierte.586 Die Angehörigen der Familienlinie, die sich im 19. Jahrhundert in der Schmiede durchsetzte, Joh. Caspar I und Joh. Friedrich I, traten unter anderen Voraussetzungen an als Johann Adam und auch Johann Martin. Für sie war absehbar, daß sie als alleinige Meister den Betrieb würden fortsetzen können. Die Perspektiven, mit denen Johann Adam und Johann Martin in den Schmiedeberuf eintraten, waren 586 Vgl. Abschnitt 2.1.1.5.3. in diesem Kapitel 197 noch andere. Für sie war, nach den Erfahrungen der Vergangenheit, erwartbar, daß sie Auskommen, Anerkennung und Autonomie mit Joh. Caspar I und Joh. Friedrich I auch dann würden teilen müssen, wenn sie sich zum Meister qualifizierten. Daß sich Johann Adam und seine Cousins Joh. Caspar I und Joh. Friedrich I in der Beharrlichkeit ihrer Strategien unterschieden, zeigt die Differenz von Geselle und Meister. Beharrlich war Johann Adam Rauch dennoch; er hätte auch Weber werden können, wogegen sich schon seine Vorfahren abgegrenzt hatten. Ölhandel und “Trunksucht” belegen im weiteren ebenfalls keine grundlegende Veränderung der Handlungsmotive und -strategien bei Johann Adam. Sie können, infolge “(...) des Auseinandertretens von Habitus und Feld (...)”587, auf eine Fortsetzung von Resignation und “(...) Scheitern des Habitus als Produktionsprinzip von Praxis (...)”588 deuten, dessen Ursache gerade in der Beharrlichkeit liegt. Zwar trug die Entscheidung gegen die Qualifizierung zum Meister nicht dazu bei, die aus dem Mißverhältnis von Habitus und Feld resultierenden Widersprüche zu lösen. Der letztlich eingetretene Bruch mit der Schmiedetradition und die real gelebte Existenz müssen von Johann Adam Rauch aber keineswegs intendiert gewesen sein. Seine Praktiken können insgesamt vor allem als Ausdruck fehlender Handlungsspielräume und einer Situation verstanden werden, in der somit einerseits das Feld dem Habitus dauerhaft keine Chance ließ und andererseits eben der Habitus auch nur begrenzt zur Umstellung in der Lage war. Die Rauchs, die im 19. Jahrhundert beide Schmiede übernahmen, konnten längerfristig an Strategien ihrer ältesten Vorfahren anknüpfen. Die Nachkommen von Joh. Caspar I und Joh. Friedrich I waren bis ins 20. Jahrhundert nicht nur als Schmiede, sondern auch als Landwirte tätig.589 Eheliche Verbindungen mit Bauernfamilien gab es dabei nicht. Erwerb oder Pacht von Land deuten einerseits auf eine gegenüber dem 18. und beginnenden 19. Jahrhundert verbesserte Einkommenssituation der Schmiede nach 1850.590 Gleichzeitig gewann die Familie auch über ihr wiedererlangtes Sozialkapital an Kreditwürdigkeit. Joh. Caspar I war Heiligenmeister und 1850 Vicebürgermeister. Sein Bruder Joh. Friedrich übernahm das Amt des Kirchenrechnungsführers. Durch den Rückgang der Gewerbe hatte es schon in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts eine stärkere Hinwendung zum Ackerbau gegeben, der 587 Schwingel 1995, S.74 588 Ebd. 589 Vgl. Abschnitt 2.1.1.5.3. in diesem Kapitel 590 Auf die in der Generation von Joh. Caspar I und Joh. Friedrich I zunächst noch prekäre Situation deutet, daß sie erst 27- und 28jährig eigene Familien gründeten. 198 in der Folgezeit intensiviert wurde und verstärkte Aufmerksamkeit fand. Die Handlungsspielräume der Rauchs erweiterten sich mit dieser Entwicklung. Ihr kulturelles Kapital wurde aufgewertet, sie waren unentbehrlicher als zu Beginn des Jahrhunderts. Johann Adam Rauch und sein Cousin Johann Martin hatten das ´schlechtere Ende´ für sich. Ihre Lebenswege scheinen nicht unähnlich gewesen zu sein. Beide blieben bis weit in die 1820er Jahre als Gesellen in der Schmiede. Im Kirchenbuch zuletzt als Schmied sind beide im Jahr 1827 verzeichnet. Daß Johann Martin an einer Leberverhärtung starb, deutet auf eine ebenfalls verstärkte Neigung zur “Trunksucht”, die ja bei Johann Adam besondere Ausmaße annahm. Trotz Gemeinsamkeiten waren die Wege der beiden am Ende auch verschieden. Im Unterschied zu Johann Adam knüpfte sein Cousin beruflich an Möglichkeiten, die über Verwandtschaftsverhältnisse nahelagen. Johann Martin hatte 1816 die Tochter eines “Mühlmeisters” geheiratet. Daß sein Schwiegervater zwei Wochen nach der Eheschließung starb, eröffnete ihm zunächst keine neue berufliche Perspektive. Erst 1836, und dann auch im darauffolgenden Jahr, als er starb, wurde Johann Martin im Kirchenbuch als “Mahlmüller in der Untermühle” erwähnt, in die er eingeheiratet hatte. Sein Sohn, Johann Michael, konnte diese Tätigkeit fortsetzen und wurde später auch als “Besitzer der Untermühle” im Kirchenbuch verzeichnet. Zwar gingen seine Nachkommen, von denen einer auch erneut deutlich in eine Abwärtsbewegung geriet, dann beruflich andere Wege.591 Dennoch ist erkennbar, daß es für die Familienlinie zunächst eine Alternative zum Schmiedeberuf gab, die über familiäre Bindungen nachvollziehbar entstanden war. Dabei existierte eine Beziehung der Familie zu diesem Berufsfeld nicht erst seit der Heirat von Johann Martin. Bereits sein Vater, Johann Melchior, hatte 1789 in eine Müllerfamilie eingeheiratet. Die eingetroffenen Möglichkeiten für einen beruflichen Wechsel waren für Johann Martin nicht vorhersehbar. Dennoch wirkt die Entwicklung in seiner Familienlinie eher noch wie das Resultat einer innerfamiliär längerfristig immerhin naheliegenden Handlungsstrategie. Sie war wohl auch eine Notlösung, fiel aber anders aus als die berufliche Umorientierung bei Johann Adam Rauch: Sein Verwandtschaftssystem hätte, nachdem bereits der Vater in eine Leineweberfamilie eingeheiratet hatte und er selbst dann mit der Tochter eines Barchentwebers die Ehe einging, eine Umstellungsstrategie in Richtung Weberei nahegelegt. Weber wurden aber erst die 591 Vgl. zu den Nachkommen von Johann Martin Rauch S.180f 199 Söhne von Johann Adam Rauch, während er selbst sich mit dem Vertrieb von Öl um den Unterhalt der Familie bemühte. Die spezifische Umstellung von Johann Adam Rauch läßt sich im Blick auf seinen Habitus als die Wahl des ´kleineren Übels´ deuten. Der Entscheidung für den Ölhandel war die Entscheidung gegen die Weberei implizit. Beide entsprachen nicht der tradierten Erfahrung und Lebensführung der Schmiede. Sombart bestimmt den Handwerker als “(...) denjenigen gewerblichen Arbeiter (...), dem keine für die Gütererzeugung und den Güterabsatz erforderliche Bedingung fehlt, sei sie persönlicher, sei sie sachlicher Natur, in dessen Persönlichkeit somit alle Eigenschaften eines gewerblichen Produzenten oder, wie wir zusammenfassend sagen können, die Produktionsqualifikation noch ohne irgendwelche Differenzierung eingeschlossen sind.592 ”Mit seiner “technischen Veranlagung vereint er: (...) das künstlerische Empfinden, (...) die für die Produktion (...) erforderlichen Kenntnisse (...). Daneben funktioniert er (...) als Organisator ebensowohl wie als Leiter der Produktion (...). Er ist aber (...) auch Kaufmann (...).”593 Weder Ölhandel noch Weberei umschlossen diese verschiedenartigen Anforderungen, die Sombart veranlaßten, den Handwerker als “eine Art von gewerblichem ´Herrn Mikrokosmos´” zu bezeichnen.594 Gegenüber der Abhängigkeit vom Verleger konnte sich Johann Adam Rauch als Ölhändler aber eher die in der Familie gewohnten Handlungsfreiheiten bewahren und mußte sich nicht in entsprechender Weise unterordnen. Wie seine Vorfahren im 18. Jahrhundert, grenzte auch er sich praktisch von der Protoindustrie ab. Johann Adam hatte zwar in eine Barchentweberfamilie eingeheiratet, versuchte aber auf beruflicher Ebene dem Milieuwechsel zu widerstehen, der sich in den sozialen Beziehungen der Familie vielleicht schon anbahnte, seit sein Vater in eine Leineweberfamilie eingeheiratet hatte. Erst die Söhne, Tobias und Johann Nikolaus Rauch, arrangierten sich mit diesem Milieuwechsel. Für die Schmiedefamilie festzuhalten bleibt zunächst ihre Beharrlichkeit in Beziehung zu tradierten Handlungsmotiven und -strategien, die hier nur allgemein umrissen sind. Wie das Habitusmuster der Familie um Fragen des Auskommens, der Selbständigkeit und der Respektabilität bzw. Anerkennung spezifisch geprägt war, läßt sich erst in Beziehung zur Weberfamilie Porz, mit der die Rauchs Mitte des 19. Jahrhunderts zusammenkamen, näher bestimmen. 592 Sombart 1987 [1916], S.189 593 Ebd., S.189 (Hervorhebung im Original) 594 Ebd. Sombart fügte einschränkend hinzu, daß “seiner Universalität (...) mit Notwendigkeit seine Mittelmäßigkeit (entspricht).” (Ebd.) 200 2.2. Die Weberfamilie Porz Im Frühjahr 1863, drei Monate nach dem Tod von Johann Adam Rauch, heirateten sein Sohn Tobias Rauch und Anna Maria Porz II. Ihrer Ehe, die am 37. Geburtstag des Bräutigams geschlossen wurde, war eine schon mehrere Jahre andauernde eheähnliche Beziehung vorausgegangen. Anna Maria Porz II stammte aus einer Familie von Barchentwebern595, Hausindustriellen, deren Leben anders strukturiert war als das der zuvor untersuchten Schmiede. Schon auf den ersten Blick auffällig ist die vergleichsweise größere regionale wie auch berufliche Mobilität bei den Angehörigen von Anna Maria Porz II. Einen anderen ersten Hinweis auf unterschiedliche Lebensführungen bei den ´Porzens´ und den Rauchs gibt die Zahl ihrer unehelich geborenen und vor der Eheschließung gezeugten Kinder. In der hier behandelten Linie der Schmiedefamilie Rauch wurde 1836 das einzige uneheliche Kind geboren. Hingegen ist das Gesamtbild der Familie Porz durch vergleichsweise zahlreiche uneheliche Kinder und ledige Mütter geprägt. Auf die Geschichte der Familie Porz gibt es bis Mitte des 18. Jahrhunderts nur wenige Hinweise. Sie lassen vermuten, daß Kilian Porz, der sich 1759 dauerhaft in Kaltensundheim niederließ, zuvor an mehr als einem Ort gelebt hatte. Im Heiratsregister der Gemeinde wurde er als “gebürtig von Malmers”596 und Albrechts bei Suhl als Wohnort seiner Eltern notiert. In der Stadt Suhl, deren Einwohner bis dahin vor allem in der Waffenproduktion und im Berbau tätig waren, und im Umland hatte sich die Barchentweberei nach 1650 zu einem wichtigen Produktionszeig entwickelt.597 Später gab es dort dann “(...) sogar Zeiten (sic!) in denen mehr Menschen in der Barchentweberei als in der Gewehrproduktion arbeiteten”.598 Dieser Aufschwung der Barchentweberei, der in Kaltensundheim erst etwa während der Zeit einsetzte599, in der Kilian Porz im Dorf einzog, war vermutlich Grund für seine Familie gewesen, nach Albrechts zu ziehen. Bereits Kilians Vater war Barchentwe- 595 Zur Orientierung in der Familiengeschichte vgl. Überblick I, S.113f. Zur Barchentweberei vgl. Abschnitt 1.3.2. in diesem Kapitel 596 Ein Ort namens Malmers ist in Thüringen nicht aufzufinden. Unter den bis 1300 gegründeten Städten und Dörfern ist Malmerz, zuerst 1252 erwähnt, verzeichnet. (Vgl. Kahl 1996, S.46) Malmerz liegt allerdings nicht im weiteren Umfeld der Untersuchungsregion oder in der Nähe von Albrechts. Zwischen Kaltensundheim und Suhl gibt es einige Dörfer, die ähnlich Malmers klingen, z.B. Meimers im Südwesten von Schmalkalden. 597 Vgl. auch Abschnitt 1.3.2. in diesem Kapitel 598 Rusch 1997. Im 19. Jahrhundert nahm die Barchentweberei dann ab. “Der letzte Suhler Barchentfabrikant (...) starb 1916 und mit ihm die Barchentweberei in Suhl.” (Ebd.) 599 Vgl. Abschnitt 1.3.2. in diesem Kapitel 201 Marckerts Vater auch als Inwohner angegeben wurde, deutet eher darauf, daß in der Familie im 18. Jahrhundert dann wenig Vermögen, zumindest kein eigenes Haus, vorhanden war.603 Kilian Porz und Sophia Magdalena Marckert heirateten und lebten in Kaltensundheim, wo auch ihre fünf Kinder geboren wurden. Kilian Porz wurde Barchentwebermeister und erwarb den Status des Nachbarn: Alle Kinder erreichten das Erwachsenenalter. Zur Linie der direkten Vorfahren von Richard Schmidt gehört der 1772 geborene Johann Christoph. Über den Verbleib seiner Zwillingsschwester Anna Margaretha ist nichts bekannt. Auf die anderen ein Polterer, will alles unter den Kopf verfechten.” Den Schneider Marckert stehl schließlich hielt der Pfarrer für “(...) nicht so gar friedlich”. Die Beschreibungen der Marckert-Familien wichen auch sonst stark voneinander ab. Zu den Leinewebern unter ihnen notierte der Pfarrer: “schmeißen und schlagen sich bisweilen”, die Wagner hingegen hielt er für “friedlich, ehrlich, fromm, christlich”. Zwischen den Angehörigen der Familie Porz und den Marckerts entstanden im 18. und 19. Jahrhundert mehrfach Verbindungen, wobei im einzelnen kaum rekonstruierbar ist, ob die jeweiligen Marckerts, sofern sie schon längere Zeit in Kaltensundheim angesiedelt waren, aus den “friedlichen” oder den Familien stammten, zu deren Lebensführung sich der Pfarrer im 17. Jahrhundert kritisch äußerte. 603 Sieder definiert die Inwohner wie folgt: “Unterhalb der landbesitzenden und landarmen Bevölkerungsschichten standen die gänzlich besitzlosen Inwohner (Heuerlinge, Herbergsleute, Ingehäusen, Anlieger, Instleute), die - in ihrem Status tief unter den Bauern und auch unter den Häuslern stehend - in hausrechtlicher Abhängigkeit auf den Höfen (oft in Nebengebäuden) oder in den Häusern der Häusler wohnten, sich vom Taglohn oder von einem Handwerk ernährten und höchstens einen Streifen Acker pachten konnten, um Kartoffeln oder Flachs anzubauen.” (Sieder 1987, S.15f) - Das “gegenüber den Kleinhäuslern (...) geringere Sozialprestige” (Mitterauer 1992, S.36) der Inwohner steht nicht in Zweifel. Ob mit dem Inwohnerstatus aber zugleich die Vermögensverhältnisse, wie bei Sieder, umfassend definiert waren, scheint doch zweifelhaft. (Vgl. in dem Zusammenhang auch die Problemaitisierung der ´Schichtgrenzen´ bei Mitterauer 1992, S.33ff). Die Realteilung konnte auch bewirken, daß Familienangehörige das elterliche Haus verliessen und Inwohner wurden, dennoch aber Land besaßen. Das Haus war nur begrenzt teilbar. (Vgl. Medick 1997, S.328) 203 Geschwister, die alle in Kaltensundheim blieben, den Ort zumindest nicht dauerhaft verliessen, wird später zurückzukommen sein.604 Johann Christoph Porz folgte, wie sein älterer Bruder, Johann Martin, dem beruflichen Werdegang des Vaters. Daß er später auch als Tagelöhner seinen Lebensunterhalt bestritt, läßt prekäre Einkommensverhältnisse vermuten. Der soziale Abstieg seiner Familie bestätigt sich in der nachfolgenden Generation. Johann Christoph Porz zunächst verbrachte viele Jahre außerhalb Kaltensundheims und gründete auch auswärts eine Familie. Geheiratet hat er 1805 in Gehaus, einer nordwestlich von Kaltensundheim gelegenen Gemeinde. Von dort stammte seine Ehefrau, Anna Maria Gernlein. Ihr Vater war Maurer und sie bereits Mutter einer unehelich geborenen Tochter namens Eva Elisabetha König.605 Anna Maria Gernlein und Johann Christoph Porz hatten gemeinsam fünf Kinder: Daß die Eheleute nach ihrer Hochzeit zunächst mehr als zehn Jahre in unterschiedlichen, jeweils kleineren Gemeinden innerhalb der Region verbrachten, belegen die Geburtsorte ihrer Kinder, von denen keines in Kaltensundheim geboren wurde. Erst nach 1816 zog die Familie in den Heimatort von Johann Christoph Porz. Für die 1811 geborene Regina Elisabetha Porz, die zu den direkten Vorfahren von Richard Schmidt gehört, gibt das kaltensundheimer Kirchenbuch als Geburtsort die “Schneiderhütte bei Schwallungen”, einen an der Werra, nördlich von Wasungen, 604 Vgl. Abschnitte 2.2.1.1., 2.2.1.4. und 2.2.2. in diesem Kapitel 605 Eva Elisabetha König blieb bei Anna Maria Gernlein und Johann Christoph Porz. Dies geht aus dem kaltensundheimer Kirchenbuch hervor, in dem 1841 die Geburt ihres dritten unehelichen Kindes eingetragen wurde. 204 gelegenen Ort in Meiningen an. Ihre ältere Schwester, Anna Maria I, war 1808 ebenfalls im Meiningischen, in Dürrsolz, geboren worden. Wo Catharina Margaretha, die älteste Tochter von Johann Christoph Porz und Anna Maria Gernlein, die früh und unverheiratet in Kaltensundheim verstarb, zur Welt kam, ist nicht bekannt. Dies gilt auch für Johannes, den älteren Sohn606, für den ebenfalls offen ist, welchen Beruf er später ausübte, wobei aber zu vermuten ist, daß er sich an der Weberei der Familie beteiligte. Johannes Porz blieb ledig. Er erhängte sich 1835 in Kaltennordheim. Erst nach seinem Tod wurde seine Tochter geboren. Sie war das zweite uneheliche Kind von Anna Margaretha Meyer, die in Kaltensundheim lebte. Johann Nicolaus Porz schließlich, das jüngste Mitglied der Familie, wurde 1816 in Zillbach geboren.607 Bei ihm bestätigt sich die soziale ´Abwärtsbewegung´ der Familie beruflich in abnehmendem institutionalisierten Kulturkapital. Johann Nicolaus wurde Weber, blieb aber, anders als noch sein Vater, Geselle. Gemeinsam waren beiden zeitweilige berufliche Umstellungen. Während der Vater in den Tagelohn ging, stand Johann Nicolaus vorübergehend als Knecht im Dienst eines Bauern. Bei den Töchtern von Johann Christoph Porz und Anna Maria Gernlein vollzog sich der Abstieg anders und gravierender. Regina Elisabetha Porz, die Urgroßmutter von Richard Schmidt, und auch ihre Schwester, Anna Maria I, blieben ledig und offenbar ohne eine dauerhafte Partnerschaft. Darauf deutet, daß ihre Kinder jeweils verschiedene Väter hatten. Anna Maria I hatte drei, Regina Elisabetha sechs Kinder: 606 Sein Geburtsdatum ist zwar unbekannt, der 1816 geborene Bruder wurde aber als das fünfte Kind der Familie im Kirchenbuch eingetragen. 607 Vermutlich handelte es sich um den Ort Zillbach im Nordosten von Kaltensundheim, der in meiningischem Gebiet lag, aber zum Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach gehörte. Ein anderes Zillbach liegt weiter entfernt im Westen von Bischofsheim. 205 Das Erwachsenenalter erreichten nur drei der Kinder. Anna Maria II, deren Verbindung mit Tobias Rauch später die Familien Porz und Rauch zusammenführte, war die Großmutter von Richard Schmidt. Sie wurde 1837 geboren. Zu ihrem Vater notierte das kaltensundheimer Kirchenbuch, er sei “derzeit unbekannt, da sich der angegebene Friedrich Kümpel von Oberkatz nicht zum Vater des Kindes bekannt hat”. Unbekannt blieben auch die Väter ihrer Brüder Johann Valentin, Georg und Martin. Der Vater von Caspar war der Sohn des kaltensundheimer Bauern Erasmus Danz. Zur 1844 geborenen Anna Elisabetha hatte sich Valentin Kaiser “von Urspringen (...) bekannt, laut amtlicher Mittheilung (...).” Anna Elisabetha blieb unverheiratet und ohne Kinder. 1867 wurde sie “erhängt gefunden”. An die berufliche Tradition der Familie knüpfte Georg Porz an. Er wurde Weber, vermutlich Plüschweber, war später aber als Polizeidiener der Nachbargemeinde Aschenhausen zugleich auf einen Nebenverdienst angewiesen. Eine seiner Töchter war später “im Dienst in Schafhausen”, einem anderen Nachbarort. Ähnliche Entwicklungen gab es auch in der Familie seiner Schwester, Anna Maria II, auf die später noch einzugehen sein wird.608 2.2.1. Der soziale Abstieg Die Familien Porz und Rauch lebten in derselben Gemeinde und doch auch in verschiedenen Welten. Ihre Lebensführungen und ihre Existenzgrundlagen unterschieden sich nicht völlig, teilweise aber doch deutlich voneinander. Veränderungen im gesellschaftlichen Feld wirkten auf Familie Porz dann auch anders als auf Familie Rauch. Während die kaltensundheimer Weber vom Aufschwung ihres Gewerbes im 18. Jahrhundert profitierten, verursachte dessen Ausbreitung für die Schmiede im Dorf zunehmend Probleme. Der soziale Abstieg in der Familie von Johann Adam Rauch setzte vermutlich früher ein als bei den Angehörigen von Regina Elisabetha Porz, die als ledige Mutter die Abwärtsbewegung ihrer Familie deutlich dokumentiert. Dabei nahm der gesellschaftliche Abstieg allerdings jeweils von unterschiedlichen sozialen Positionen seinen Ausgang; die Rauchs waren zuvor im Dorf besser positioniert als die ´Porzens´, bei denen der Abstieg dann auch in zweifacher Hinsicht weiter griff: Während es bei den Rauchs im Kampf um die Schmiede auch Gewinner gab, wurden vom Rückgang der Handweberei und der erwerbsmäßigen Handlungsspielräume in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts alle Mitglieder der Familie Porz erfaßt. Neben dieser Breitenwirkung erreichte 608 Vgl. Abschnitt 2.4. in diesem Kapitel. Zu den Nachkommen von Anna Maria Porz II und Tobias Rauch vgl. dort auch Überblick VI, S.281f 206 ihr sozialer Abstieg ebenfalls einen, auch im Bild gesellschaftlicher Hierarchien, anderen ´Tiefgang´. Er führte die Angehörigen unter anderem in verstärkt abhängige Beschäftigungen, die für Johann Adam Rauch undenkbar schienen. Daß sich in den verschiedenen Handlungsstrategien der beiden Familien Unterschiede im Habitus abzeichnen, hat auch, aber nicht nur, damit zu tun, daß bei Familie Porz die Frauen stärker im Blickpunkt des Geschehens stehen. Zu berücksichtigen sind hier Differenzen im Habitus der Geschlechter, die Männer und Frauen, jenseits ihrer sozialen Zugehörigkeiten, untereinander verbanden. Daß dabei im Hinblick auf Lebensführungen für die Frauen noch weitaus mehr Fragen offen sind als für die Männer, gehört zu den Folgen männlicher Herrschaft.609 Die Frauen, die im gesellschaftlich-politischen Leben nicht gleichgestellt waren, wurden in den überlieferten Quellen häufig ausgeblendet. Ihre Identität wurde auch in den kaltensundheimer Kirchenbüchern über ihre Väter und Ehemänner hergestellt. Arbeit und Erwerb von Frauen sind entsprechend ebenfalls kaum belegt.610 Aufgrund geschlechtsspezifisch unterschiedlicher Lebensführungen und -chancen lassen sich Regina Elisabetha Porz und die Schmiede der Familie Rauch nicht ohne weiteres zueinander ins Verhältnis setzten. Ihr ´vergeschlechtlichter Habitus´ war zugleich aber verschränkt mit einem scheinbar jeweils anders gelagerten ´Klassenhabitus´.611 Dafür sprechen Übereinstimmungen zwischen Männern und Frauen der Familie Porz, die sie gemeinsam von den untersuchten Rauchs, genau genommen also von deren männlichen Angehörigen, abgrenzen. Allein aufgrund unterschiedlicher Arbeitsteilungen in beiden Familien ist aber gleichfalls davon auszugehen, daß auch das Leben der Schmiedefrauen teilweise anders verlief als das der ´Porzens´. 609 Dafür, daß verschiedenste Aspekte geschlechtlicher Ungleichheit in der jüngeren Vergangenheit zunehmend ins Blickfeld historischer Forschung gerückt sind, stehen die Arbeiten von Ute Gerhard, Ute Frevert, Karin Hausen und zahlreichen anderen Wissenschaftlerinnen. 610 “Frauenarbeit vor der industriellen Revolution (...) kommt in unseren Geschichtsbüchern nicht vor.” (Gerhard 1981 [1978], S.25). Hinter der Realität bleibt auch die Zahl der Frauen, deren Erwerb in den kaltensundheimer Kirchenbüchern festgehalten wurde, zurück. Entsprechende Angaben wurden kaum gemacht. Für die ledigen Frauen und ledigen Mütter des Dorfes, bei denen eigener Erwerb häufiger anzunehmen wäre, vgl. Anhang 11. Die ´vorindustrielle Erwerbsarbeit´ der Frauen läßt sich von Hausarbeit überwiegend kaum abgrenzen, beide waren im wesentlichen “(...) unlösbar verflochten, so daß eine solche Unterscheidung der Lebenswirklichkeit dieser Zeit nicht gerecht wird”. (Mitterauer 1990, S.304) Diese Verflechtung ist zu berücksichtigen, wenn im weiteren dennoch zeitweilig eigener Erwerb der Frauen von der Einbindung in Hauswirtschaft und innerfamiliären Erwerbsprozeß sprachlich getrennt wird. - Zur Frauenarbeit im 19. Jahrhundert vgl. unter anderem die Arbeiten von Gerhard 1981 [1978], Knapp 1984 und G. Schildt 1993. Zur geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung vor der Industrialisierung vgl. auch Mitterauer 1990, S.289ff, ders. 1992, S.58ff 611 Vgl. dazu Abschnitt 6. in Kapitel I. 207 Deutlicher als bei den Schmieden, deren Lebensführung beständiger schien, gerät bei Familie Porz das Problem in den Blick, Lebenswege nur sehr lückenhaft rekonstruieren zu können. Die soiale Zugehörigkeit beförderte in diesem Fall schon vor dem Abstieg eine Mobilität, die auch im 19. Jahrhundert erhalten blieb. Daß die Hinweise zum Verbleib von Männern und Frauen dieser mobilen Unterschichten eher dürftig sind, ist schon als ein Ausdruck ihrer häufig nicht ´planmäßigen´ und kaum planbaren Existenz zu verstehen. Im Fall der ´Porzens´ gab es vor allem zwei Anlässe für Notizen im Kirchenbuch, die Auskunft über zeitweilige Aufenthaltsorte und Lebensumstände geben: Entweder bei Übernahme einer Patenschaft oder, bei den Frauen, wenn ihr “in Unehren” gezeugtes Kind geboren wurde. Trotz der Lücken wird dann insgesamt dennoch sehr deutlich, daß die Familie Porz innerhalb von drei Generationen einen sozialen Abstieg nahm, in den ihr ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital gleichermaßen einbezogen war. Gemessen an den Schmieden, war die Zahl der Angehörigen bei den ´Porzens´ überschaubar. Es gab mit den Familien der Brüder Johann Christoph und Johann Martin zudem nur zwei männliche Linien. Die Entwicklungen in der Gesamtfamilie werden deshalb in diesem Fall nicht in einem gesonderten Abschnitt behandelt, sondern gegebenenfalls unmittelbar in die Bearbeitung der direkten Vorfahren von Richard Schmidt integriert. 2.2.1.1. Wirtschaftliche Entwicklungen: Besitzarmut und unterschiedliche Ausmaße von Prekarität Die Existenz der Familie war eng mit der Handweberei und deren Entwicklung verknüpft.612 Daß sie einen Garten oder ein kleines Stück Land bewirtschaftete, ist zwar nicht auszuschließen.613 Der Ackerbau spielte aber vermutlich kaum eine bedeutende Rolle. Kilian Porz gehörte als Neuzugang im Dorf, zunächst zumindest, zu den Landlosen. Auf dem Wege der Heirat könnte die Familie lediglich durch seine im Jahr 1759 mit Sophia Magdalena Marckert eingegangene Verbindung zu etwas Land gekommen sein. Daß Johann Christoph und Johann Martin Porz später 612 Zur Barchentweberei in Kaltensundheim vgl. Abschnitt 1.3.2. in diesem Kapitel 613 Für Laichingen hat Medick beispielsweise festgestellt, daß “(...) auch die ihrem Steuervermögen nach unter die ärmsten 10 Prozent eingeschätzten Haushalte (...) in Laichingen keineswegs durchgängig ohne Haus- und Grundbesitz (waren)”. (Medick 1997, S.183; vgl. genauer auch ebd., S.183ff) Vermutlich bestanden für die ´Porzens´, wenn auch eingeschränkt, Möglichkeiten zur Nutzung der Gemeinheiten. Vgl. dazu die Abschnitte 1.2. und 2.1.1.3. in diesem Kapitel 208 als Inwohner im Kirchenbuch notiert wurden, zeigt, daß es für die Nachkommen von Kilian und Sophia Magdalena zumindest kein Haus zu erben gab. Vor Kilian Porz sind im Kirchenbuch 15 andere Barchentweber genannt, die im Dorf heirateten.614 Ihre Zahl kann zwar durchaus höher gelegen haben, weil bis etwa Mitte des 18. Jahrhunderts der Erwerb des Bräutigams häufig nicht erwähnt wurde. Der Umfang der Barchentweberei war aber zunächst noch vergleichsweise begrenzt. Von daher ist auch denkbar, daß die Produkte vor allem für den Bedarf im eigenen Ort und in den umliegenden Gemeinden bestimmt waren. Langfristig aber hing das Einkommen der kaltensundheimer Barchentweber vermutlich kaum von lokalen Bedürfnissen ab. Auch bei einer, bedingt durch Bevölkerungswachstum, steigenden Nachfrage deutet die,vor allem seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, zunehmende Zahl von Barchentwebern im Dorf darauf, daß ihre Produktion den lokalen Bedarf und die Absatzmöglichkeiten auf den umliegenden Märkten überstieg; dies auch deswegen, weil, zumal auch in anderen Orten, wie zum Beispiel Kaltennordheim, die Barchentweberei an Bedeutung gewann. Dies würde darauf deuten, daß die materielle Lage der Familie zumindest längerfristig nicht unmittelbar von Entwicklungen vor Ort, von Ernteausfällen und Ausgabenspielräumen der Kaltensundheimer abhing. Allerdings ist nicht belegt, wohin die Produkte vertrieben wurden. Die Erwerbssituation der Barchentweber gestaltete sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verhältnismäßig günstig, wobei zu berücksichtigen ist, daß “(...) selbst in der Aufschwungphase proto-industrieller Entwicklung (...) die Lebenssituation der ländlichen Gewerbetreibenden den Zeitgenossen in exemplarischer Weise als eine Situation der ´Dürftigkeit´ galt (...)”.615 Trotz steigender Preise für landwirtschaftliche Produkte, auf deren Kauf die ´Porzens´ angewiesen waren, litt die Familie während dieser Zeit aber scheinbar keine erhebliche existentielle Not. Kilian Porz heiratete als 23jähriger.616 Daß alle seine Kinder das Erwachsenenalter 614 Vgl. Anhang 1 und Anhang 2 615 Medick 1978, S.138 616 Dagegen, das Heiratsalter auch in diesem Fall als ein Indiz für die materielle Lage zu nehmen, spricht die Logik, auch bei mangelnder Einkommensgrundlage frühzeitig eine Familie zu gründen, um die Verdienstmöglichkeiten des im Familienverband betriebenen Gewerbes zu erhöhen. (Vgl. entsprechend Medick 1978, S.125, auch Sieder 1987, S.82f) Die Forschung bestätigt allerdings auch “(...) die konjunkturelle Abhängigkeit von Frühheiraten” in der Hausindustrie, die ebenfalls bei anderen Erwerbsformen galt. (Mitterauer 1990, S.144) Medick selbst hat am Beispiel der Laichingen Weber herausgearbeitet, “(...) daß auch in der Hochphase der gewerblich proto-industriellen Entwicklung des Ortes zwischen dem dritten Jahrzehnt und dem Ende des 18. Jahrhunderts keineswegs eine Tendenz zur Senkung des Heiratsalters festzustellen ist.” (Medick 1997, S.319) Hingegen stieg das Heiratsalter bei sich verschlechternder Erwerbssituation. (Vgl. ebd., S.323) Vgl. 209 erreichten, erscheint, bei der im allgemeinen hohen Kindersterblichkeit, durchaus ungewöhnlich und läßt darauf schließen, daß ihre Ernährung ohne gravierende Mängel gewährleistet war. Die relativ auskömmliche Lage, in die die Nachkommen von Kilian Porz hineingeboren wurden, hielt zunächst vermutlich noch an. Die Barchentweberei breitete sich zumindest weiter aus im Dorf. Ein entsprechender, und die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts andauernder, Trend zeichnete sich in der Weberei insgesamt in Deutschland ab.617 Daß sich die Handweberei in Deutschland erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erheblich rückläufig entwickelte, bedeutete dennoch nicht, daß sie bis dahin kontinuierlich ein ausreichendes Einkommen gewährleistete. Für Kaltensundheim erwähnt die Ortschronik zwar erstmals im Jahr 1843 explizit, daß “(...) die Weberei (...) ganz auf(hört)”.618 Und dem Tagebuch des Barchentwebers Cyriax Walter ist zu entnehmen, daß sie am Ende der 1820er Jahre, zumindest für ihn, “reichlich lohnte”.619 Daß die Barchentweber im Dorf schon vorher vorübergehend in Bedrängnis gerieten, geht aus den Entwicklungen in der Familie Porz hervor. Einer ihrer Angehörigen, der 1804 geborene Webergeselle Sebastian, war 1823 als “Dienstknecht” im nahegelegenen Helmershausen beschäftigt. Er gründete erst 1845 eine eigene Familie.620 Auf der Grundlage des Heiratsalters wäre sogar zu vermuten, daß bei den direkten Vorfahren von Richard Schmidt bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts Probleme im weiteren, auch zum Zusammenhang von Besitz und Heiratsalter, Abschnitt 2.2.2. in diesem Kapitel. Dort finden sich auch Hinweise auf die sehr differenzierten Ergebnisse der Studie von Schlumbohm (1994) im osnabrückischen Kirchspiel Belm. Bei den kaltensundheimer Barchentwebern lag das Heiratsalter, soweit im Kirchenbuch angegeben, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts durchgehend nur in einzelnen Fällen unter 24 Jahren. Gleichzeitig lassen sich für diesen Zeitraum auch innerhalb eines Zeitabschnitts größere Unterschiede im Heiratsalter feststellen. - In der Familie Porz scheint im Vergleich von Kilian und seinen Enkelsöhnen, die 40- bzw. 34jährig heirateten, ebenfalls gerechtfertigt, Heiratsalter und materielle Lage in Zusammenhang zu bringen. 617 Zur allgemeineren Entwicklung in der Weberei vgl. Abschnitt 1.3. in diesem Kapitel 618 Marschall/Marschall o.J., S.14. Entsprechend schrieb auch Cyriax Walter in seinem Tagebuch: “(...) die hiesige Weberei lag gänzlich, und nur der vierte Theil der Weberei war mäßig beschäftigt (...).” (Walter o.J., S.120) Diese Notiz legt zugleich nah, daß die Barchentweber im Dorf für unterschiedliche, kaltensundheimer und auswärtige, Verleger arbeiteten. 619 Soviel immerhin geht aus seiner sonst nicht eindeutig verständlichen Bemerkung im Tagebuch hervor, der Beschreibungen darüber vorangehen, wie er 1829 von seinem, bei der Artillerie und “Leibgarte” des im Jahr zuvor verstorbenen Großherzogs Carl August verbrachten, Militärdienst nach Kaltensundheim zurückkehrte: “Im Elternhause fand ich Beschäftigung auf Weberei, und ich gewöhnte mich bald wieder an dieselbe, zumal eine neue Fabricte an Baumwollen Waaren und zwar die erste in hiesiger Gegend, von mir in Angriff genommen wurde und reichlich lohnte (...).” (Walter o.J., S.117) 620 Sebastian Porz gehörte nicht zur Linie von Johann Christoph Porz, sondern zu den Nachkommen seines Bruders, Johann Martin Porz. Vgl. auch Überblick IV, S.217 210 auftraten.621 Johann Christoph Porz ging erst als 33jähriger seine Ehe mit Anna Maria Gernlein ein.622 Dies im Jahr 1805, während einer Zeit, in der es um die Erwerbschancen in der Barchentweberei grundsätzlich noch besser bestellt war als in den 1840er Jahren, für die sich dann auch konkret belegen läßt, daß die materiellen Sorgen der Familie stiegen. Johann Christoph Porz war kein Einzelfall, überwiegend aber lag das Heiratsalter der kaltensundheimer Barchentweber unter 30 Jahren.623 Daß sich die Familie zunächst über mindestens zehn Jahre nur für relativ kurze Zeit in unterschiedlichen Orten aufhielt, muß zwar grundsätzlich nicht gegen eine ausreichende Einkommenssituation sprechen. Die treibende Kraft zur Mobilität kann auch vom Habitus ausgegangen sein. Zusammen mit dem Heiratsalter von Johann Christoph Porz legen seine mehrmaligen Umzüge aber doch eher die Vermutung nahe, daß für sie zugleich unmittelbare Gegebenheiten des Feldes, in dem auch ein den Ansprüchen der Familie genügendes Einkommen nicht selbstverständlich gewährleistet war, ausschlaggebend waren. Als eine in diesem Sinne objektive Notwendigkeit interpretiert, relativiert auch die Mobilität der ´Porzens´ zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Verhältnisse in der sich noch ausbreitenden Weberei. Entsprechend vermutet Knapp zur allgemeinen “Expansion” des Verlagswesens nach 1800, daß sie “(...) wohl damals schon eher Ausdruck von Stellenteilung und verdeckter Arbeitslosigkeit als der Ausweitung des ´Nahrungsspielraums´ (war)”.624 Umzüge und Rückkehr nach Kaltensundheim lassen sich aus dieser Perspektive als Praktiken oder Strategien verstehen, die darauf deuten, daß Johann Christoph und seine Familie mit eher geringem Erfolg eigene Handlungsziele einzulösen versuchte. Ihre gemeinsame ´Wanderschaft´ fiel in eine Zeit, in der die wirtschaftlichen 621 Sie belegt Medick auf der Grundlage der Entwicklung in Vermögen und Besitz der Bewohner Laichingens, wo die Leineweberei seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ´expandierte´. Vgl. Medick 1997, S.183ff 622 Der vier Jahre ältere Bruder, Johann Martin Porz, hatte 1790, noch vor seinem 22. Geburtstag, geheiratet. Grundsätzlich wäre denkbar, daß Johann Christoph vor seiner Eheschließung mit Anna Maria Gernlein schon einmal auswärts verheiratet war. Dagegen spricht die Wahrscheinlichkeit, daß diese Ehe im kaltensundheimer Heiratsregister notiert worden wäre. Das Aufgebot für die Hochzeit mit Anna Maria Gernlein wurde auch in Kaltensundheim bestellt. Gegen eine auswärtige Familiengründung in den 1790er Jahren spricht zudem, daß Johann Christoph Porz 1795 und 1799 in Kaltensundheim Patenschaften übernahm, bei denen nicht vermerkt ist, daß er sich nicht im Dorf aufhielt bzw. in einem anderen Ort wohnte. 623 In Anhang 8 finden sich einige Angaben zum Heiratsalter der Barchentweber, die in Weberfamilien einheirateten. Allgemein läßt sich für Eheschließungen und Geburten in Kaltensundheim feststellen, daß ihre jeweiligen Zahlen im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts deutlich unter denen der 1790er Jahre lagen. Zu den Eheschließungen vgl. Anhang 8, zu Geburtenzahlen vgl. Anhang 10 624 Knapp 1984, S.79 211 Verhältnisse auch von politischen Entwicklungen kaum unbeeinträchtigt blieben. Sachsen-Weimar, das zunächst noch Preußen in der kriegerischen Auseinandersetzung mit Frankreich unterstützt hatte625, trat im Dezember 1806 dem Rheinbund bei.626 Am Beispiel der Gemeinden im Amt Lichtenberg, zu dem Kaltensundheim gehörte, berichtet Binder unter anderem von “(...) schier unerschwingliche(n) Lasten und Lieferungen (...)”627, die auch den Bewohnern des übrigen Herzogtums bereits im Anschluß an die Schlacht von Jena und Auerstedt auferlegt wurden. Zu ihnen gehörten ab Dezember des Jahres verschiedene, neu erhobene Steuern, zwei Millionen Francs, die Sachsen-Weimar “als Kriegskontribution zur französischen Armeekasse”628 beisteuern mußte sowie Naturallieferungen, die bis Ende 1813 aufzubringen waren.629 Neben diesen Kosten trug auch die Kontinentalsperre zu einer Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage in den Ländern des Rheinbunds bei, die sich dem Wirtschaftskrieg gegen Großbritannien anschließen mußten. Zu den Konsequenzen für die protoindustriell Tätigen führt Sieder allgemein aus: “Der Verlust überseeischer Märkte, die Auswirkungen der Kontinentalsperre, wachsende Schutzzölle etc. führten zu einem Preisverfall bei den proto-industriellen Produkten. Damit verfielen auch die von Verlegern an die heimindustriellen Produzenten bezahlten Löhne. Die Folge war, daß sich die Heimarbeiter gezwungen sahen, ihre Arbeitszeit zu erhöhen und die Stückzahl ihrer Produkte ´im Akkord´ zu maximieren. Dennoch wurden sie in vielen Regionen auf ein extrem niedriges Einkommensniveau gedrückt.”630 Johann Christoph Porz und seine Familie hielten sich überwiegend in kleineren Gemeinden des Herzogtums Meiningen auf, fanden aber auch dort scheinbar nicht die Voraussetzungen für eine dauerhafte Bleibe. Abgesehen vom jeweiligen Einkommen aus der Barchentweberei wurden ihre Handlungsspielräume als Landlose 625 Dies allerdings, so Tümmler, “(...) ohne Begeisterung” auf Seiten des Herzogs Carl August. (Vgl. Tümmler 1982, S.647) 626 Vgl. ebd., S.647ff 627 Binder 1982 [1896], S.150 628 Ebd., S.151. Vgl. auch Tümmler 1982, S.649 629 Vgl. Binder 1982 [1896], S.151ff 630 Sieder 1987, S.78 - Die Zahl der Eheschließungen veränderte sich in Kaltensundheim in den Jahren nach 1806 kaum (wobei sie im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts gegenüber den 1790er Jahren sank). Es gab allerdings zwischenzeitliche Abweichungen: im Jahr 1806 fand nur eine Hochzeit statt, 1810 und 1813 waren es nur jeweils drei und im Jahr 1814 heirateten nur zwei Paare. Bei den Webern und den Webertöchtern gab es 1806 und 1810 keine Eheschließung. (Vgl. zu den Webern Anhang 2, zu den Webertöchtern, von denen auch 1807 keine heiratete, vgl. Anhang 10) Beim Heiratsalter, das für die Brautleute in einigen Fällen im Kirchenbuch notiert wurde, fällt auf, daß es bei den Erstehen der Barchentweber nach 1804 erstmals häufiger über 30 Jahren lag. Als Indiz für die wirtschaftliche Lage genommen, deutet dies allerdings auf Probleme schon zu Beginn des Jahrhunderts. 212 zumindest durch Preissteigerungen und knappe Nahrungsgrundlagen eingeengt. Entsprechende Entwicklungen konnten sich unter anderem im Zusammenhang mit den genannten Naturallieferungen einstellen, trafen die Familie später aber auch mit der ersten großen Agrarkrise. Sie zog frühestens während dieser Zeit nach Kaltensundheim, wo es zwar weder um die Preise noch um die Besitzverhältnisse der ´Porzens´ besser bestellt war als andernorts. Mit Kaltensundheim war aber insofern ein Vorteil verbunden, als die Familie hier vermutlich heimatberechtigt war. Wann sie tatsächlich nach Kaltensundheim kam, läßt sich konkret aber nicht angeben. Sicher ist nur, daß die ´Porzens´ im Jahr 1826, als die Tochter Catharina Margaretha starb, dort lebten. Ob die mit dem Heimatrecht im Notfall verbundenen Ansprüche auf Unterstützung der Gemeinde für Johann Christoph Porz ein Motiv zur Rückkehr waren, ist ebenfalls ungewiß. Immerhin plausibel scheint die Vermutung, daß die wirtschaftlichen Verhältnisse der Familie in den Jahren vor der Agrarkrise keine sonderlich günstigen waren. Dafür sprechen auch ihre Kinder, die, selbst wenn sie frühzeitig zur Mithilfe im gewerblichen Betrieb herangezogen konnten, zunächst einmal Kosten verursachten.631 Über die Kindersterblichkeit lassen sich hier keine Rückschlüsse auf die materielle Lage ziehen. Zwar erreichten alle in den kaltensundheimer Kirchenbüchern angegebenen Kinder von Anna Maria Gernlein und Johann Christoph Porz das Erwachsenenalter, was gegen erhebliche Mängel spräche. Die Angaben können aber durchaus unvollständig sein. Die Altersabstände zwischen den Geschwistern schließen zumindest die Möglichkeit nicht aus, daß Kinder starben, bevor die Familie nach Kaltensundheim zog. Belege für prekäre Verhältnisse in der Familie von Johann Christoph Porz und Anna Maria Gernlein geben in Bezug auf die Männer dann erst zwei Einträge im Kirchenbuch, für die übernommene Patenschaften am Ende des Jahres 1835 der Anlaß waren. Aus ihnen geht zunächst einmal hervor, daß Johann Christoph seinen Lebensunterhalt zu diesem Zeitpunkt als Tagelöhner verdiente. Die Höhe des Entgelts, das für die Gruppe der Tagelöhner im allgemeinen vergleichsweise gering angesetzt wird, ist nicht belegt. Daß es hier durchaus Unterschiede und “(...) jedenfalls (...) ländliche Tagelöhner (gab), die sich, den Ansprüchen der Zeit entsprechend, in guter Lage befanden (...)”, hat Gerhard Schildt für das Herzogtum Braunschweig festgestellt.632 Im Fall von Johann Christoph Porz ist allerdings kaum von einem entsprechenden Einkommen auszugehen. Für einen niedrigen Lohn spricht, 631 Zum “familienzyklischen Dilemma” in proto-industriellen Familien vgl. Medick 1978, S.126 632 G. Schildt 1986, S.53. Für die Tagelöhner im Eisenacher Oberland während der 1880er Jahre vgl. ähnlich Gau 1883, S.27 213 daß bei dem begrenzten Bedarf an Tagelöhnern im überwiegend kleinbäuerlichen Eisenacher Oberland in den 1830er Jahren sicher kein Mangel an Arbeitskräften herrschte. Daß Johann Christoph 1835 als Tagelöhner beschäftigt war, verweist zwar darauf, daß das Einkommen aus der Barchentweberei nicht ausreichte. Und weil zur gleichen Zeit, wie dann ebenfalls aus dem Taufregister hervorgeht, der Sohn Johann Nicolaus als Dienstknecht arbeitete, ist auch denkbar, daß die ´Porzens´ Mitte der 1830er Jahre in eine besondere Krise geraten waren. Im Zusammenhang mit dem mangelnden Landbesitz der Familie ist aber ebenfalls nicht auszuschließen, daß ihre Angehörigen schon zuvor von entsprechenden Möglichkeiten Gebrauch machen mußten. Medick bestätigt, daß es “(...) durchaus (...) auch im Baumwollgewerbe (...) vor(kam)”, daß “hausindustrielle Produktion und abhängige landwirtschaftliche Arbeit miteinander (...)” kombiniert wurden.633 Noch anders gewichten hier Ebeling und Mager, die “(...) die Baumwolle verarbeitende Industrie, ähnlich wie die Leinenindustrie” als “(eine) vornehmlich (...) mit kleiner Landwirtschaft oder Tagelöhnertätigkeit verbundene ländliche Hausindustrie (...)” angeben, die “teilweise auch vollberufliches städtisches oder ländliches Handwerk” war.634 Da bei den ´Porzens´ die Möglichkeit für eine ´kleine Landwirtschaft´ fehlte oder zumindest nicht ausreichte, blieb ihnen nur der Tagelohn. Daß Erwerbskombinationen in der Familie vor 1835 ´üblich´ waren, läßt sich anhand der Kirchenbücher allerdings nicht ermitteln. Für Johann Christoph Porz ist dann aber immerhin belegt, daß der Tagelohn, dem er 1835 nachging, keine Ausnahme blieb. Nachdem ihn das Kirchenbuch 1837 wieder als Weber notierte, wurde er 1840 erneut als Tagelöhner angegeben. Sofern die Barchentweberei noch Arbeit bot, fiel sie in diesen Phasen in größerem Ausmaß den Frauen zu. “Häufig konnte unter diesen Produktionsverhältnissen ein familienwirtschaftlicher Lebensunterhalt nur auf der Basis einer aufs äußerste austarierten geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung sichergestellt werden. Dabei wurde häufig dem Mann die Maximierung der Einkommenschancen in der landwirt- 633 Medick 1997, S.154. Darauf, daß allein der Begriff des Tagelohns auch Mischerwerb, zum Beispiel die Kombination von Heimgewerbe mit einer Arbeit in der Landwirtschaft, bezeichnen konnte, verweist Simon (1995, S.22). 634 Ebeling/Mager 1997, S.31f. Zur Diskussion über die vielfältigen Möglichkeiten der Verflechtung von Hausindustrie und Landwirtschaft vgl. Medick 1997, S.141ff, hier insbes. S.153ff 214 schaftlichen Arbeit - z.B. als Tagelöhner oder Wanderarbeiter - überlassen, den Frauen und Kindern hingegen die hausindustriell-gewerbliche Arbeit. (...)”635 Die Besitzverhältnisse in der Familie bewirkten demnach vermutlich Konstellationen, die die Rolle der Ehefrau und der Kinder im Erwerbsprozeß und ihre Bedeutung für die Überlebensgemeinschaft Familie zeitweilig noch verstärkten.636 Hinzu kam der zunehmende Kräfteverschleiß bei Johann Christoph Porz. Dem Tagelohn im Jahr 1835 beispielsweise ging er als 63jähriger nach. Zu den Folgen seiner späten Heirat gehörte in diesem Zusammenhang für die Kinder, daß ihre Mitarbeit eventuell schon frühzeitig in besonderem Ausmaß erforderlich war. Als eine Besonderheit der längerfristigen Entwicklung ist schließlich zu berücksichtigen, daß der Tod von zwei erwachsenen Kindern die Zahl der Arbeitskräfte in der Familie reduzierte. Nachdem die Tochter Catharina Margaretha im Jahr 1826 früh verstorben war, hatte vor allem der Selbstmord von Johannes im Jahr 1835 letztlich weitreichende Folgen. Von Regina Elisabetha und Anna Maria I, den beiden verbleibenden Töchtern, forderte er vermutlich auch verstärkte Bemühungen, zum Lebensunterhalt der Familie beizutragen. In besonderer Weise von dieser Anforderung betroffen war langfristig Johannes Nicolaus, ihr Bruder. Johannes Nicolaus blieb als einziger Sohn zurück und war nach dem Tod des Vaters im Jahr 1843 dann auch der einzige Mann in der Familie. Daß er erst 1850, 34jährig, heiratete, lag, neben den Entwicklungen in der Weberei, wohl auch in dieser Familienkonstellation begründet. 635 Medick 1997, S.154. Zur Familienwirtschaft und flexiblen Handhabung geschlechtsspezifischer Rollen vgl. auch ders. 1978, S.132ff. Einzuwenden ist in diesem Zusammenhang allerdings, daß, auch wenn ein im wesentlichen übereinstimmendes Merkmal im Heimgewerbe die Arbeit im Familienverband war, dennoch unterschiedliche Modelle und Möglichkeiten der Mitarbeit von Frauen möglich waren. Am Beispiel österreichischer Regionen stellt Mitterauer entsprechend fest: “In vielen Fällen erfaßt die Protoindustrialisierung nur die Frauen einer Region, etwa von Salinenarbeitern, von Bergarbeitern im Silberbergbau oder von Kleinbauern. In anderen Fällen sind die Männer nur in den Wintermonaten in der textilen Hausindustrie tätig. Dann entsteht sozusagen ein Familienbetrieb auf Zeit. Es gibt jedoch auch heimindustrielle Tätigkeiten, die ausschließlich oder vorwiegend von Männern ausgeübt werden.” (Mitterauer 1990, S.141f) Mitterauer nennt für den textilen Bereich als Beispiel die Maschinenstickerei. (Ebd., S.142) Nicht auszuschließen ist eventuell auch, daß die Möglichkeiten und Grenzen geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung in der Barchentweberei enger gezogen waren als in der Leineweberei, in der Frauen und Männer ihre Rollen und Arbeiten vollständig tauschen konnten. Der vergleichsweise kompliziert zu bedienenden Webstuhl läßt immerhin Bedenken zu, ob dies auch in der Barchentweberei ohne weiteres möglich war. Da unterschiedliche Arbeitsteilungen im Zusammenhang mit anderen Fragen, zum Beispiel der innerfamilialen Stellung der Frau und ihres ´Selbstbewußtseins´, durchaus weitreichendere Konsequenzen haben konnten, ist der kritischen Aufforderung Mitterauers zuzustimmen: “Diese Vielfalt unterschiedlicher Akzentuierungen müßte berücksichtigt werden, wenn von der protoindustriellen Familienwirtschaft die Rede ist.” (Ebd.) 636 Anschließen läßt sich hier auch der weiterführende Hinweis von Mitterauer: “Die Tätigkeitsbereiche ländlicher Frauen unterscheiden sich dann innerhalb einer Region je nach Besitzgröße - eine schichtspezifische Differenzierung, die bei der Behandlung geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung vielfach nicht beachtet wird.” (Mitterauer 1990, S.305) 215 Mit Johann Nicolaus starben die männlichen Nachkommen der ´Porzens´ bereits 1854 aus. Aus der gesamten Familie Porz gingen letztlich nur wenige Weber hervor.637 Zum Nachwuchs gehörten zum einen nicht viele Söhne. Zum anderen trugen deren relativ geringe Lebensdauer und ihr steigendes Heiratsalter in der dritten Familiengeneration zu dieser Entwicklung bei. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts lassen sich unter den männlichen Nachkommen der Familie noch zwei Weber ausmachen, die zeitweilig auf zusätzliche Erwerbsquellen angewiesen waren.638 Aus der Familie von Johann Christoph Porz blieben schließlich die ledigen Schwestern Regina Elisabetha und Anna Maria I mit ihren Kindern zurück, deren Lage in dieser Situation wohl ohne weiteres als ausgesprochen prekär eingeschätzt werden kann. Sie war es aber auch zuvor schon, noch während die beiden Frauen über die Mitarbeit im Gewerbebetrieb der Familie ihr Auskommen suchten. Daran, daß ihre Einbindung in die hausindustrielle Produktion langfristig nicht ausreichen konnte, den Lebensunterhalt zu bestreiten, kann es kaum Zweifel geben. In Frage steht eher, wann dieser Zeitpunkt erreicht war. Das war vermutlich spätestens 1843 der Fall, als der Vater starb und die Weberei wohl endgültig in die Krise geriet. Selbst wenn die Weberei weiterhin noch geringe Einkommensmöglichkeiten bot und Regina Elisabetha sie gemeinsam mit ihrem Bruder, der Schwester und Mutter nutzen konnte, ist kaum anzunehmen, daß die ´Porzens´ davon allein leben konnten. Hinzu kamen die beiden kleinen Kinder, die Regina Elisabetha zu versorgen hatte. Ihr ältester Sohn war bereits 1836 gestorben. Der 1833 geborene Sohn von Anna Maria I konnte immerhin schon zur Mitarbeit herangezogen werden. Ihre beiden anderen Kinder hatten nur kurze Zeit gelebt, das jüngste war 1841 nach “1/2 Stunde (...), dem Gerüchte nach, erfroren (...)”. Ergänzt wurde die Familie schließlich vermutlich noch durch Eva Elisabetha König, die voreheliche Tochter von Anna Maria Gernlein, die ebenfalls mehrfach ledige Mutter war. Die familiäre Situation erforderte, wie ja offenbar schon zu Lebzeiten von Johann Christoph Porz und unter noch besseren Erwerbsbedingungen, weitere Einkünfte. Zu vermuten ist deshalb, selbst bei eventuell zuvor schon hin und wieder beanspruchter Armenunterstützung, daß Regina Elisabetha und ihre Schwester dann auch einer Arbeit außerhalb der eigenen Familie nachgingen. 637 Vgl. Überlick IV, S.217. Anna Ottilia Porz (1763-1808) hatte keinen Barchentweber geheiratet. Ihr Ehemann war der Schuhmachermeister Johann Peter Marckert. 638 Vgl. ebd. 216 Überblick IV: Männliche Nachkommen von Angehörigen der Familie Porz Kilian Porz ca. 1737-1800 Barchentwebermstr. Johann Martin 1768-1838 Barchentwebermstr. Anna Catharina 1794-1855 Sebastian 1804-1853 Webergeselle, Dienstknecht (1823) Michael ....-.... Sattler keine Nachkommen Anna Ottilia I 1763-1808 Johannes 1788-1811 keine Berufsangabe Carl Wilhelm 1796-.... Schuhmachermstr. Johann Christoph 1772-1843 Barchentwebermstr., Tagelöhner (1835, 1840) Joh. Christoph 1799-.... Schneidermeister Anna Maria I 1808-1866 Joh. Heinrich 1833-.... keine Berufsangabe Karl Valentin 1863-1937 Weber, Flurhüter Regina Elisabetha 1811-1891 Anna Maria II 1837-1917 Karl Nicolaus 1867-.... Fabrikbesitzer in Friedersdorf Georg 1840-.... Weber, Polizeidiener Karl Sebastian 1872-.... Backsteinfabrikarbeiter in Roßlau/Elbe Johannes ....-1835 keine Berufsangabe, vermutl. Weber Joh. Nicolaus 1816-1854 Webergeselle, Dienstknecht (1835) kein Sohn keine überlebenden Nachkommen Ferdinand 1880-.... keine Berufsangabe 217 Das ´Feld des Möglichen´ war begrenzt. Für Frauen kamen am ehesten wohl der ´Dienst im fremden Haus´, als Magd oder städtisches Dienstmädchen, oder eine Arbeit im Tagelohn beim Bauern in Frage.639 Diesen Alternativen war eine jeweils stark dominierte Position nicht nur im Verhältnis zum Arbeitgeber, sondern auch innerhalb der hierarchischen Schichtung des Dienstpersonals gemeinsam.640 In der Art ihrer Tätigkeit unterschieden sich Tagelöhner und Tagelöhnerinnen ebenfalls kaum von der Dienstmagd und dem Knecht.641 Voneinander abgrenzen lassen sich Gesinde und Tagelöhner einmal entlang ihrer Vertragsdauer. Das Beschäftigungsverhältnis von Knechten und Mägden war auf ein oder zwei Jahre befristet,642 während Tagelöhner eher “(...) ausnahmsweise auch für längere Zeit (...)”, ansonsten aber tageweise entlohnt wurden.643 Im weiteren gehörten die Tagelöhner, anders als das Gesinde, nicht zum Hausverband der Familie, für die sie arbeiteten. Diese Differenz ist wesentlich, weil sie ein jeweils anderes Abhängigkeitsverhältnis begründete. Knechte und Mägde “(...) tauschten nicht nur ihre Arbeitskraft gegen Lohn. Sondern sie unterstanden auch als Personen der Herrschaft des Hauses - bis hin zur Verantwortung des Hausherrn für ihren Kirchgang und bis hin zum weitver- 639 Auf dem Land wuchs mit der landarmen und landlosen Bevölkerung das Potential an Knechten und Mägden. In den Städten weitete sich Im 19. Jahrhundert die Dienstbotenhaltung aus. Sie ging erst gegen Ende des Jahrhunderts wieder zurück. (Vgl. G. Schildt 1993, S.24. In den Großstädten Europas nahm die Dienstbotenhaltung bereits seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu. Vgl. Mitterauer 1983, S.101) Ausschlaggebend für diese Entwicklung, die mit dem Aufstieg des Bürgertums zusammenhing, waren zunehmend Prestigegründe und weniger landwirtschaftliche Notwendigkeiten. (Vgl. ebd.) Ausführlich zu den Entwicklungen im Bereich des häuslichen und landwirtschaftlichen Gesindes im 19. Jahrhundert vgl. Kocka 1990a, S.109ff. Zum häuslichen Dienstpersonal während der Industrialisierung vgl. ausführlich auch Engelsing 1978, S.225ff 640 Vgl. zur Hierarchie für das städtische Personal G. Schildt 1993, S.107, zum Agrarbetrieb und der Stellung der Mägde vgl. Weber-Kellermann 1987, S.160ff. Vgl. auch Kocka 1990b, S.145. Zur “Verweiblichung der Dienstboten” im Zusammenhang mit der industriellen Revolution vgl. Gerhard 1981 [1978], S.50ff, entsprechend auch Knapp 1984. Zur Frage nach der innerhalb des Gesindes praktizierten Solidarität stellt Weber-Kellermann fest, daß ihr “(...) oft eine interne hierarchische Gesinnung entgegen(stand)”. (Weber-Kellermann 1987, S.172; vgl. auch dies. 1983, S.38) Zur Gesindehierarchie vgl. auch Mitterauer 1990, S.275ff. Gerhard betont am Beispiel Preußens, daß auch Gesindeordnungen einer “Solidarisierung” entgegenwirkten. (Vgl. Gerhard 1981 [1978], S.58.) Für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts rückt G. Schildt dann die “(...) (unverkennbar) allgemeine Frontstellung zwischen Gesinde und Herrschaft (...)” in den Blick. (G. Schildt 1986, S.75) 641 Zur Beschreibung der Arbeitsbereiche von Magd und Knecht vgl. Weber-Kellermann 1987, S.167ff. G. Schildt (1993) gibt für städtische Dienstmädchen und ländliche Mägde einen Überblick über Aufgabenfelder auf S.51ff. Vgl. zu den häufig unspezifischen Aufgabenfelden auch Kocka 1990a, S. 109ff 642 Vgl. Mitterauer 1983, S.72. Bei häuslichem Personal wurden die Verträge über kürzere Zeiträume geschlossen. (Vgl. ebd.) Zum Dienstbotenwechsel, den ökonomischen Motiven dafür und dem Einfluß der Eltern vgl. Mitterauer 1990, S.269ff. Vgl. auch die Beschreibungen bei Weber-Kellermann 1987, S.174ff. 643 Simon 1995, S.23 218 breiteten hausherrlichen Recht, sie zu züchtigen. (...)”.644 Tagelöhner hingegen verfügten noch vergleichsweise “selbständig (...) über ihre Arbeitskraft (...)”.645 Daß Töchter von Angehörigen der ´Porzens´ im Dienst im fremden Haus zeitweilig in vergleichsweise umfassend kontrollierter und abhängiger Position gearbeitet haben, ist für die Nachkommen von Anna Ottilia I und Eva Margaretha belegt.646 Sie waren in der Stadt, dort aber wohl durchaus in bäuerlichen Wirtschaften tätig. Dies traf zumindest für die beiden Töchter von Anna Ottilia I zu: Anna Ottilia II war 1834 als Dienstmagd in Ostheim. Ihre Schwester, Anna Elisabetha I, war um 1809 als Magd in Eisenach beschäftigt. Darauf verweist das Kirchenbuch im Zusammenhang mit der Geburt ihres unehelichen Kindes im darauffolgenden Jahr. Ein entsprechender Eintrag gibt Aufschluß darüber, daß auch Eva Margarethas Tochter um 1810 auswärts, ebenfalls in Eisenach, gearbeitet hat. Über die wirtschaftlichen Verhältnisse, die als Motiv für diese eingegangenen Dienstverhältnisse angenommen werden können, und über die Handlungsstrategien in der Weberfamilie Porz geben diese Hinweise allerdings keinen Aufschluß. Anna Ottilia II und Anna Elisabetha I wurden in einer Schuhmacherfamilie groß, der Vater von Anna Margaretha war ein Schneider. Beide Familien folgten einer anderen Handlungslogik als die Weber, deren Erwerb auf der Mitarbeit aller Angehörigen beruhte. “Ein wesentliches Kennzeichen der Ökonomie der heimindustriellen Familien war, daß nicht das individuelle Arbeitseinkommen in seinem Verhältnis zur individuellen Arbeitsleistung, sondern das kollektive Familieneinkommen über längere Zeiträume hinweg der Maßstab des Handelns war: Nicht der Arbeitsaufwand und sein jeweiliges Verhältnis zum erzielbaren Stückpreis und nicht der Ertrag je Arbeitsstunde machten die Rationalität dieser häuslichen Ökonomie aus, sondern das Interesse an einem Gesamteinkommen, das den Unterhalt der Familie auch bei Preiseinbrüchen oder Auftragsmangel sicherzustellen vermochte. (...)” 647 644 Kocka 1990b, S.145f, vgl. auch ders. 1990a, S.126f 645 Simon 1995, S.23, vgl. auch Kocka 1990a, S.126 und im weiteren zu den freien Tagelöhnern ebd., S.196ff 646 Vgl. dazu Überblick V, S.220. Die vielfältige Frauenarbeit und damit jeweils verbundene Beteiligung am Erwerbsprozeß erschwert es, ihr in einer Graphik gerecht zu werden. Angegeben werden nur die für wenige Angehörige belegten sowie die in einigen Fällen vermuteten oder eventuellen außerhäuslichen Erwerbstätigkeiten. Sie sind auch bei anderen Frauen der Familie, die hier keine weitere Beachtung finden, deshalb nicht auszuschließen. Vor allem aber waren alle Frauen innerhalb ihrer Familie durch ihre Arbeit, ob in der Hauswirtschaft oder im Gewerbe, am Erwerb beteiligt. 647 Sieder 1987, S.81 219 Überblick V: Weibliche Nachkommen von Angehörigen der Familie Porz Kilian Porz ca. 1737-1800 Barchentweber Eva Margaretha 1760-1788 Anna Margaretha 1786-1865 um 1810 im Dienst in Eisenach Elis. Christiane 1787-1839 Anna Ottilia I 1763-1808 Anna Elisabetha I 1786-1828 um 1809 Magd in Eisenach Anna Ottilia II 1790-.... Dienstmagd in Ostheim Johann Martin 1768-1838 Barchentwebermstr. Anna Elisab. II 1793-.... Anna Cath. 1794-1855 Barbara Elisabetha 1797-1827 evtl. Dienst im fremden Haus Cath. Margaretha 1806-1826 Anna Maria I Regina Elisabetha 1808-1866 1811-1891 evtl. Dienst im evtl. Dienst im fremden Haus, fremden Haus, später vermutlich später vermutl. Tagelohn Tagelohn Anna Maria II 1837-1917 Elise 1857-.... Anna Margaretha 1772-nach1803 Johann Christoph 1772-1843 Barchentwebermstr., Tagelöhner Anna Margaretha 1866-1951 Mathilde 1870-1932 1890 Dienstmagd (in Unterkatz) Georg 1840-.... Weber, Polizeidiener Emma Margarethe 1874-.... Anna Elisabetha 1844-1867 Eine Tochter im Dienst in Schafhausen 220 Weil die Logik der Protoindustrie dagegen sprach, die Kinder in den Dienst im fremden Haus zu schicken, ist unwahrscheinlich, daß Regina Elisabetha und Anna Maria I bereits in jungen Jahren als Dienstmägde außerhalb ihrer Familie beschäftigt waren. Ähnliches gilt für den Tagelohn, selbst wenn das Hausgewerbe dann nur vorübergehend von ihnen vernachlässigt wurde. Auch daß Johann Christoph Porz als Tagelöhner die Weberei unterbrach, ist zunächst kein Argument dafür, daß seine Töchter ihm folgten. Im Gegenteil konnten sie durch seine Abwesenheit eher noch stärker in den innerfamiliären Erwerbsprozeß eingebunden werden. Im übrigen war zunächst folgerichtig, daß Johann Christoph und gerade nicht die Frauen der Familie in den Tagelohn gingen, weil ihre Verdienstmöglichkeiten hier noch geringer als die der Männer waren. 648 Diese spezifischen Arrangements und Arbeitsteilungen funktionierten allerdings unter der Voraussetzung, daß die Barchentweberei selbst bei erforderlichem Nebenerwerb der Männer noch eine wesentliche Erwerbsquelle blieb. Das aber muß auch vor der Krise der 1840er Jahre nicht immer der Fall gewesen sein. Denkbar ist, daß bei phasenweise besonders niedrigen Verdienstmöglichkeiten oder vorübergehendem Arbeitsmangel in der Weberei für die Frauen ebenfalls eine andere Erwerbstätigkeit lohnenswerter oder notwendig wurde. Beispiele dafür, daß Kinder der Weberfamilie auswärts stark abhängig beschäftigt waren, gibt es: Mathilde Rauch, die Mutter von Richard Schmidt, war 1890 Dienstmagd in Unterkatz. In den Jahren zuvor war die in ihrer Herkunftsfamilie betriebene Plüschweberei in die Krise geraten. Mathildes Mitarbeit im Gewerbe versprach wenig Gewinn, wobei in diesem Fall gegenüber der Barchentweberei eventuell doch insofern andere Voraussetzungen zu berücksichtigen sind, als die Plüschweberei hauptsächlich Männerarbeit gewesen sein soll. Für die Töchter der Barchentweber Johann Martin und Johann Christoph Porz ist zwar nicht belegt, daß sie in jungen Jahren außerhalb ihrer Familie gearbeitet haben. Daß Sebastian, Sohn von Johann Martin, und Johann Nicolaus, der Bruder von Regina Elisabetha und Anna Maria I, vorübergehend als Dienstknechte gearbeitet haben, zeigt aber immerhin an, daß entsprechende Handlungsorientierungen in der Familie nicht am Habitus scheiterten, sondern durchaus zu ihm und seinen Möglichkeiten gehörten. 648 Zu geschlechtsspezifischen Einkommensdifferenzen vgl. Gerhard 1981 [1978], S.51, entsprechend auch Knapp (1984), die von “erhebliche(r) Lohndiskriminierung erwerbstätiger Frauen” spricht. (Ebd., S.84). Belege für unterschiedlichen Verdienst der Tagelöhner und Tagelöhnerinnen im Eisenacher Oberland lassen sich für die 1880er Jahre anführen. Danach erhielten Tagelöhner dann “(...) bei der Getreideernte (...) gewöhnlich die 13. Garbe als Lohn, im Uebrigen: die Männer 1 Mk. bis 1 Mk. 50 pro Tag, außerdem Kartoffelland, Klee oder etwas Wiesenfläche und unentgeltliche Holz- und Düngerfuhren geleistet. Die Frauen erhalten, außer ebenfalls etwas Land, 80 Pfg. bis 1,10 Mk. pro Tag.” (Gau 1883, S.27) 221 Für einen Dienst im fremden Haus gibt es bei den Töchtern von Johann Christoph und Johann Martin allerdings kaum einen konkreten Anhaltspunkt. Einziges Indiz dafür könnte sein, daß die Väter ihrer unehelich geborenen Kinder in entfernteren Orten lebten.649 Das belegt zwar natürlich nicht, daß die Frauen Kaltensundheim verlassen haben. Immerhin aber fiel die Geburt dieser Kinder in eine Zeit, für die zumindest von wirtschaftlichen Schwierigkeiten in ihren Herkunftsfamilien ausgegangen werden kann. Als Argument für einen Dienst im fremden Haus würde die Kombination von unehelichem Kind mit auswärtigem Vater und materieller Lage im Hause Porz für die Familie von Johann Martin darauf deuten, daß seine Tochter Barbara Elisabetha während der ersten großen Agrarkrise entsprechend beschäftigt war.650 Ihr Sohn, dessen Vater im südlich von Ostheim gelegenen Unsleben wohnte, kam Anfang 1818 zur Welt. In der Familie von Johann Christoph Porz wurden die beiden Kinder von Anna Maria I, deren Väter aus Eisenach und Ostheim kamen, 1833 und 1835 geboren. Daß es sich bei dem Vater des zweiten Kindes um den ostheimer “Schwanenwirt” handelte, von dem anzunehmen ist, daß er Personal beschäftigte, scheint zwar die Vermutung zu stützten, daß Anna Maria I bei ihm gearbeitet hat. Allerdings ist auch möglich, daß sich beide in Kaltensundheim begegneten. Es gab im Dorf zumindest eine dem “Schwanenwirt” gleichnamige Familie. Den Wohnort des außerehelichen Vaters mit dem Arbeitsort der Porz-Töchter gleichzusetzen, würde bei Regina Elisabetha schließlich darauf deuten, daß sie 1843 in Urspringen in der Nähe von Ostheim beschäftigt gewesen wäre. Das Jahr 1843 entspricht immerhin dem angenommenen Zeitpunkt, an dem für sie spätestens erforderlich war, eine eigene Erwerbstätigkeit aufzunehmen. Auch, daß Regina Elisabetha bereits 32 Jahre alt war, muß einem Dienst im fremden Haus 649 Damit verbunden ist die Annahme, daß auswärtige Aufenthalte der Töchter eher auf eine umfassende Dienstverpflichtung im fremden Haus als auf eine mit größeren Freiheiten verbundene Arbeit im Tagelohn deuten, die dennoch nicht auszuschließen ist. Hingegen lassen sich Hinweise auf Beschäftigungen in der näheren Umgebung eher in Verbindung mit dem Tagelohn bringen. Es war zwar auch möglich, in einem Nachbarort Dienstmagd zu werden, aber unwahrscheinlicher. Dafür spricht, daß die Landwirtschaft in der Region eher saisonal zusätzliche Arbeitskräfte erforderte, während der Bedarf an festem Personal vergleichsweise gering war. Daß es ihn durchaus gab, ist zwar sogar mit den Nachkommen der Familie, durch Mathilde Rauch, belegt. Sie wurde allerdings erst in den 1880er Jahren Dienstmagd, damit unter anderen Bedingungen als sie zwei Generationen zuvor noch galten. Vergleichsweise größere Möglichkeiten im Tagelohn belegen für Kaltensundheim die Zahlen aus dem Jahr 1858: Die 34 Bauern im Dorf beschäftigten sieben Dienstboten. Als Tagelöhner und Handarbeiter waren insgesamt 100 Kaltensundheimer tätig, unter ihnen 49 Frauen. (Vgl. Ortschronik 1858, o.S.) 650 Vgl. zur Orientierung auch Überblick V, S.220 222 nicht widersprochen haben.651 Mitterauer weist am Beispiel zahlreicher österreichischer Gemeinden darauf hin, “(...) daß es kein ´Normalalter´ für den Eintritt in den Gesindedienst gibt. Der Eintritt richtet sich nicht nach einer einheitlichen gesellschaftlichen Regel, sondern nach individuellen Gegebenheiten der jeweiligen Familienverhältnisse.”652 Die materielle Not mag bei Regina Elisabetha für eine Arbeit auch als Magd im Jahr 1843 gesprochen haben. Dagegen, daß sie ihre Familie nach dem Tod von Johann Christoph verließ, spricht vielleicht, daß inbesondere ihre Mutter, die der Verlust des Ehemanns nicht nur wirtschaftlich in eine Notsituation brachte, gerade während dieser Zeit die Unterstützung ihrer Kinder brauchte. Wenn auch vielleicht die unwahrscheinlichere Variante, bleibt letztlich nicht auszuschließen, daß Regina Elisabetha Porz eine zeitlang, aber kaum über viele Jahre hinweg, als Dienstmagd gearbeitet hat. Angenommen werden kann auch, und dies scheint eventuell eher zu vermuten, daß sie bereits vor dem Tod von Johann Christoph Porz, abhängig von den jeweiligen Arbeitsmöglichkeiten in der Barchentweberei, zeitweilig in der näheren Umgebung auf den Tagelohn oder andere Beschäftigungsverhältnisse mit vergleichbarer Tätigkeit ausgewichen ist. Dafür, daß dies auch nach 1843 der Fall war, spricht zunächst, daß der Vater von Caspar, ihrem fünften Kind, das 1846 geboren wurde, der kaltensundheimer Bauer Erasmus Danz war, bei dem sie möglicherweise gearbeitet hat. Der Nachwuchs, den Regina Elisabetha zu versorgen hatte, mußte sie zwar nicht daran hindern, Kaltensundheim auch längerfristig zu verlassen. Die Kinder konnten zu fremden Personen in Pflege gegeben werden.653 Ihre Unterbringung im elterlichen Haushalt, die unter anderem 651 Üblicherweise war der “Gesindestatus” zwar ein “Durchgangsstadium, ein Abschnitt des Lebens bis zur Heirat, bis zur Verdingung als Tagelöhner oder (...)” hin zu verschiedenen anderen Lebenswegen, Auf- oder Abstiegskarrieren, die Kocka benennt. (Kocka 1990b, S.146f, entsprechend ders. 1990a, S.133ff) Eine Ausnahme war aber nur der lebenslange Dienst, was nicht ausschließt, ihm noch im Alter von über 30 Jahren nachzugehen. Regina Elisabethas Cousine Anna Ottilia war 44jährig Dienstmagd in Ostheim. (Vgl. Überblick V, S.220) 652 Mitterauer 1990, S.261 653 Inwieweit Frauen den Dienst im fremden Haus auch mit Kind fortsetzen konnten, hing vom jeweiligen Interesse an Arbeitskräften bei den Arbeitgebern ab. Es war im städtischen Haushalt “fast nie” (vgl. Mitterauer 1983, S.71), im bäuerlichen Haushalt, abhängig von dessen Größe und anfallender Arbeit, teilweise durchaus vorhanden. (Vgl. Mitterauer 1990, S.280f, Weber-Kellermann 1987, S.178ff) Um Arbeit aufnehmen zu können, wurden die Kinder häufiger nicht von den Müttern selbst betreut, sondern zu Verwandten oder Bekannten gegeben. (Vgl. dazu auch Weber 1984) “Über die Kinder unverheirateter Bauernmägde werden keine Tagebücher geführt. Sie kommen in den ersten Wochen ihrer Geburt irgendwohin in Pflege. Sie sind dann den Müttern, die sie geboren, und dem Vater, der sie gezeugt, in neunzig von hundert Fällen selten mehr als eine Last, an der sie finanziell schwer zu tragen haben. Das Pflegegeld, das für ein solches Kind gezahlt werden muß, ist, gemessen an dem kargen Geldlohn ländlicher Dienstboten, ein schon sehr ins Gewicht fallender Betrag. Ihn für lange Jahre leisten zu müssen, legt den Betroffenen harte Verzichtleistungen auf.” (Ebd., S. 288f) Zur Vermutung, daß Pflegeeltern als ´Engelmacher´ eine von den Müttern nicht unerwünschte Funktion übernahmen (vgl. ebd., S.289), äußert sich G. Schildt kritisch. (Vgl. G. Schildt 1993, S.111) 223 eventuell kostengünstiger war, scheint aber naheliegender. Nachdem Anna Maria Gernlein, die Mutter, im Jahr 1853 gestorben war, entfiel dann diese Möglichkeit, die Regina Elisabetha allerdings vermutlich schon zuvor nicht für ein auswärtiges Dienstverhältnis genutzt hat. Ihre Kinder waren 1853 neun, dreizehn und sechzehn Jahre alt. Anzunehmen ist, daß zumindest die beiden älteren, unter ihnen auch Anna Maria Porz II, die spätere Ehefrau von Tobias Rauch, bis dahin längst gemeinsam mit Regina Elisabetha zum Unterhalt der Familie beigetragen haben.654 Die Frage nach den Beschäftigungsverhältnissen außerhalb der eigenen Familie und dem Ausmaß der damit verbundenen Abhängigkeit ist im Blick auf die Erfahrungen und Handlungsstrategien von Regina Elisabetha Porz relevant. Hinsichtlich ihrer wirtschaftlichen Verhältnisse allerdings machte es kaum einen großen Unterschied, ob sie als Magd oder als Tagelöhnerin gearbeitet hat. Ihr Einkommen war in jedem Fall eher gering. “Bei allen Formen des Gesindedienstes war es insgesamt sehr schwierig, die finanziellen Möglichkeiten zu einer selbständigen Haushaltsgründung zu erreichen. Ein Bauernsohn konnte heiraten, sobald der Vater zur Übergabe bereit war bzw. in Gebieten mit Stammfamilienstruktur der Heirat des zukünftigen Hoferben zustimmte. Ein Handwerksgeselle hingegen brauchte lange, bis er die Mittel für Hausstandsgründung, Meisterprüfung und Meistermahl erspart hatte. Noch schwieriger war es für eine Magd oder ein städtisches Dienstmädchen, die für eine Eheschließung notwendige Ausstattung zu erarbeiten. Die größten Probleme stellten sich hinsichtlich der Hausstandsgründung zumeist für Tagelöhner.”655 Regina Elisabetha Porz mußte von ihrem Einkommen schließlich eine ganze Familie ernähren. Daß die Hälfte ihrer Nachkommen früh starb, spricht für die sichere Vermutung, daß es dabei erhebliche Probleme gab. Für den Zeitraum von 1834 bis 1850, in dem ihre Kinder geboren wurden, waren Pauperismus, Beschäfti- 654 Unter den für das Jahr 1858 verzeichneten 100 Tagelöhnern und Handarbeitern waren 27 Kinder unter 14 Jahren. Vgl. Ortschronik 1858, o.S. - Dafür, daß Kinder ländlicher Unterschichten in Notsituationen auch frühzeitig in Gesindedienst gegeben wurden, gibt Mitterauer (1990) verschiedene Beispiele. Danach “(hatten) in Familien, in denen solche Not herrschte, (...) die Erstgeborenen die geringsten Chancen auf ein längeres Zusammenleben mit den Eltern oder dem verwitweten Elternteil. Vom Zwang, einen Esser vom Tisch wegzubekommen, waren primär sie betroffen. Mit acht Jahren auf Zeit und nach dem Ende der Schulpflicht mit zwölf auf Dauer in den Gesindedienst überzutreten, scheint für die Mutter hier der frühest denkbare Zeitpunkt gewesen zu sein.” (Ebd., S.262) Bei dem eher geringen Bedarf an Gesinde im Eisenacher Oberland scheint unwahrscheinlich, daß Regina Elisabetha ihre Tochter Anna Maria II weggab, es kann aber auch in diesem Fall letztlich nicht ausgeschlossen werden, zumal Anna Maria II in den äußerst schwierigen 1840er Jahren ein dafür geeignetes Alter erreichte. 655 Mitterauer 1983, S.73. Zur Entwicklung des Einkommens vgl. Kocka 1990a, S.131ff 224 gungsprobleme und steigende Preise, insgesamt prägend.656 Besonders problematisch entwickelte sich die Situation in den 1840er Jahren, nach dem Tod des Vaters und dem Rückgang der Weberei. Nach 1844 mußten drei, zeitweilig vier Kinder versorgt werden. Existentielle Probleme bestanden bis weit in die 1850er Jahre. Im Tagelohn war Regina Elisabetha nicht ganzjährig beschäftigt war. Kurzfristige Krisen, zum Beispiel Ernteausfälle, schränkten ihre Arbeitsmöglichkeiten und ihr Einkommen vorübergehend weiter ein. Kostensenkend wirkte, daß die ´Porzens´, auch nachdem die im Familienverband betriebene Weberei an Bedeutung verloren hatte, als Notgemeinschaft gemeinsam einen Haushalt führten. Die Familie lebte ´Auf der Bleiche´.657 Nachdem die Eltern gestorben waren, haben Regina Elisabetha und ihre Schwester, Anna Maria I, dort weiterhin zusammengelebt. Zumindest starben beide Frauen im Haus Nr. 65. Nach dem Tod von Anna Maria I im Jahr 1866 blieb Regina Elisabetha nicht allein. Bereits 1863 lebten ihre Tochter, Anna Maria II, und Tobias Rauch mit ihrem Kind und ebenfalls noch der Mutter von Tobias Rauch auf der Bleiche Nr. 65.658 Bis dahin hatte sich auch die materielle Lage für Regina Elisabetha Porz insofern entspannt, als ihre überlebenden Kinder inzwischen selbst für ihren Unterhalt sorgen konnten. Der 1840 geborene Sohn Georg profitierte als Weber vom Aufschwung, den die Plüschweberei seit Mitte der 1850er Jahre in Kaltensundheim nahm.659 Entsprechend positiv entwickelte sich die Lage auch bei Tobias Rauch und Anna Maria II, die vermutlich schon 1857 zusammenlebten, als ihr erstes Kind geboren wurde. Regina Elisabethas jüngere, 1844 geborene, Tochter Anna Elisabetha, die sich im Jahr 1867 erhängte, bestritt seit dem Ende 1850er Jahre vielleicht ebenfalls zumindest einen Teil ihres Lebensunterhaltes selbst. Falls Regina Elisabetha auch in der Folgezeit arbeiten ging, verblieb ihr demnach seit dem Ende der 1850er Jahre, sie war inzwischen über 45 Jahre alt, mehr Einkommen als zuvor für sich und ihren eigenen Bedarf. Ihr Alter sprach nicht dagegen, noch weiterhin erwerbstätig zu bleiben. Im Zusammenhang mit der Intensivierung und Förderung der Landwirtschaft wurde ihre Arbeit in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vermutlich auch besser entlohnt, wobei allerdings ihre mit 656 Entsprechende Hinweise geben die kaltensundheimer Chronik und das Tagebuch von Cyriax Walter. Vgl. ausführlicher dazu Abschnitt 2.1.1.1. in diesem Kapitel 657 Vgl. dazu die Karte auf S.170 658 Dort wurde im Juni 1863 ihr drittes Kind geboren. Johann Adam Rauch war im Januar 1863 gestorben. 659 Zur Entwicklung der Plüschweberei vgl. Abschnitt 1.3.4.1. in diesem Kapitel 225 zunehmendem Alter nachlassende Arbeitskraft zu berücksichtigen ist. Langfristig wurde sie sicher von Anna Maria II und Tobias Rauch unterstützt. Denkbar ist auch, daß Regina Elisabetha ihre Erwerbstätigkeit schon in jüngeren Jahren aufgab, zumal das Familieneinkommen mit der Plüschweberei stieg. Zugleich nahm mit den Enkelkindern aber auch die Zahl der Angehörigen zu, deren Unterhalt bestritten werden mußte. Nachdem sich die Lage jedenfalls eine zeitlang vergleichsweise günstiger entwickelt hatte, traf Regina Elisabetha Porz, wie auch viele Paare, später die Altersarmut. Sie starb kurz nach ihrem 80. Geburtstag, im Jahr 1891. Die Sozialgesetzgebung, mit der eine Altersrente ab dem 70. Lebensjahr eingeführt wurde, trat 1889 in Kraft. Es scheint nicht abwegig, daß Regina Elisabetha, wie vielleicht schon in früheren Jahren, als ihre Kinder klein waren, erneut ohne eine zumindest zeitweilige Unterstützung der Gemeinde nicht auskam. Für zunehmende Prekarität in ihren letzten Lebensjahren spricht auch die problematische Entwicklung in den Familien ihrer beiden Kinder, die sich von der Plüschweberei ernährten. Kontinuierlich ausreichende Versorgung konnten sie seit den 1880er Jahren kaum gewährleisten. 1882 war der Schwiegersohn Tobias Rauch als Hirte für die Gemeinde tätig. Im gleichen Jahr kam im Schäferhaus Kaltensundheims, in dem häufiger die Armen des Ortes untergebracht wurden,660 eine Tochter von Georg Porz zur Welt, die tags darauf dort auch starb. Für wirtschaftliche Probleme in der Familie von Georg, dem Sohn von Regina Elisabetha, spricht ebenfalls seine spätere Beschäftigung als Polizeidiener in Aschenhausen. 2.2.1.2. Berufliche Qualifikationen: Entwertungsprozesse, Umstellungsstrategien und Abhängigkeiten im Erwerbsleben Bei den Barchentwebern der Familie Porz markieren zum einen sowohl die zeitweiligen Entwertungen ihrer beruflicher Kompetenzen als auch der Verlust an institutionalisiertem Bildungskapital im Generationenwechsel den sozialen Abstieg in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Entwicklungen verliefen in beiden Linien ähnlich: Die Brüder Johann Christoph und Johann Martin erwarben beide, wie ihr Vater Kilian, noch den Meistertitel. Ihre Söhne wurden dann jeweils Webergesellen. Bei den Töchtern setzte sich der Abwärtstrend fort. Ihre Arbeit erforderte kein spezifisches Kulturkapital und war entsprechend gering geschätzt. Zum anderen 660 Im Kirchenbuch wurden Schäferhaus, Gemeinde- und Armenhaus als Unterkünfte der Bedürftigen genannt, zu denen häufiger auch die lediggebliebenen Männer und Frauen der Gemeinde gehörten. (Vgl. dazu auch die Spalte ´Bemerkungen im Kirchenbuch´ in Anhang 11 und 12) 226 zeichnete sich im Erwerbsleben der ´Porzens´ eine Zunahme abhängiger Beschäftigungen ab. Die Entwicklung in der Weberei brachte zwar eine teilweise “Vermännlichung einer weiblichen Tätigkeit”661 mit sich, wurde aber vor allem doch wohl als eine Verweiblichung von Männerarbeit klassifiziert. Mit den weiterhin einbezogenen Frauen jedenfalls blieb die Wertschätzung der beruflichen Kompetenz der Männer vom Makel des Weiblichen beeinträchtigt. Er galt in der Leineweberei vielleicht insofern stärker als in der Barchentweberei, als hier bestimmte Arbeiten eventuell doch eher noch den Männern vorbehalten waren.662 Gleichzeitig waren traditionelle Geschlechterrollen für die innerfamiliäre Arbeitsteilung auch bei ihnen kaum und ohnehin weit weniger ausschlaggebend als etwa bei den Schmieden, die zumindest ihr Handwerk üblicherweise ohne Beteiligung der Frauen ausübten. Innerhalb der Weberei läßt sich die Barchentweberei im weiteren als eine gegenüber der Leineweberei höher qualifizierte und höher bewertete Tätigkeit einstufen.663 Der Leineweber “(...) brauchte (...) nur bescheidene Fertigkeiten, billigen, einheimischen Rohstoff und einen einfachen und daher nicht sehr teuren Webstuhl.”664 Während sich die Leineweberei auch zum Nebenerwerb eignete, “(...) konnte man (Barchentweber) nur als besonders geschulter Fachmann und damit praktisch nur hauptberuflich sein.”665 Einerseits mochten diese Tätigkeitsmerkmale dem Barchentweber “mehr Sozialprestige”666 als dem Leineweber einbringen. Daß das Gewerbe als hauptberuflich betriebenes seine wesentliche Einkommensquelle war, brachte ihn auf der anderen Seite in vergleichsweise größere Abhängigkeit vom Verleger.667 Dies galt auch für die tendenziell eher landlosen ´Porzens´. Allerdings ist anzunehmen, daß sich die Abhängigkeit vom Verleger erst längerfristig und über verschiedene Phasen in der Familie einstellte.668 Für Kilian Porz wäre dabei von einer noch 661 Mitterauer 1990, S.301 662 Dies ist im Zusammenhang mit der nachstehenden Einschätzung von Stromers denkbar. Vgl. auch S.215, Anm.635 663 Vgl. auch Abschnitt 2.1.1.2. in diesem Kapitel 664 Stromer 1978, S.89 665 Ebd. 666 Ebd. 667 Vgl. ebd. 668 Ausführlich dazu vgl. Schlumbohm 1978 227 vergleichsweise größeren Selbständigkeit auszugehen. Das Verlagswesen breitete sich vermutlich erst mit Zunahme der Barchentweberei im Verlauf der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts im Dorf aus. Möglich, daß Kilian Porz seine Produkte zunächst selbständig auf dem Markt und direkt an den Verbraucher absetzte. Ebenfalls denkbar ist dann eine Arbeit im Kaufsystem, die ihn bereits stärker an seinen Abnehmer band. Voraussetzung für den Erhalt der Selbständigkeit war die Möglichkeit, Rohstoffe eigenständig beziehen und finanzieren zu können. Daß dies in der Generation von Johann Christoph Porz langfristig noch gewährleistet war, scheint zweifelhaft. Für seine Abhängigkeit vom Verleger spricht bei ihm auch die zeitweilige Umstellung auf den Tagelohn, die für einen bis dahin selbständigen Weber vielleicht noch weniger denkbar war. Im Tagelohn ging Johann Christoph Porz ein abhängiges und weisungsgebundenes Beschäftigungsverhältnis ein, das zudem sein kulturelles Kapital entwertete. Unselbständigkeit traf dann mit geringqualifizierter Arbeit zusammen. Dabei blieben die Beziehungen, die Johann Christoph zum Verleger und, im Tagelohn, zum Arbeitgeber unterhielt, allerdings auf einen bestimmten Austausch von Leistungen begrenzt. In demgegenüber größere Abhängigkeit begaben sich sein Sohn Johann Nicolaus und sein Neffe Sebastian aus der Familie von Johann Martin, deren Dienst als Knecht auch weniger deutlich bemessen und unspezifischer war.669 Noch stärker galt dies bei Regina Elisabetha für den Fall, daß sie als Dienstmagd beschäftigt war. Sie wurde dann eventuell nicht nur zu landwirtschaftlichen, sondern auch zu hauswirtschaftlichen Arbeiten herangezogen.670 Die Männer der Familie, die im Tagelohn oder als Knecht beschäftigt waren, arbeiteten nicht ständig, sondern nur zeitweilig außer- bzw. unterhalb ihrer beruflichen Qualifikation. Entsprechende Unterscheidungen lassen sich bei den Frauen so nicht vornehmen. Um Möglichkeiten, einen Beruf zu erlernen und institutionalisiertes Kulturkapital zu akkumulieren, war es für sie weitaus schlechter bestellt. Ihre, im Kontext der allgemeinen Bewertung von unbezahlter wie entlohnter Frauenarbeit, geringen Chancen auf materielle und symbolische Anerkennung fanden auch darin ihren Ausdruck. Innerhalb der eigenen Familie und im Feld der Weber konnten ihre 669 Dies galt für die “große Mehrheit” der “wenig qualifizierten, einfachen” Bediensteten. (Kocka 1990b, S.145) 670 Im bäuerlichen Haushalt waren Grenzen kaum zu ziehen, wobei die Mägde allerdings, ebenso wie die städtischen Dienstmädchen, “(...) immer die anstrengendste, schmutzigste und schwerste Arbeit (...)” bekamen. (G. Schildt 1993, S.107) “(...) Mägde (wurden) vorzugsweise mit der schwersten und ungesundesten Frauenarbeit beschäftigt, der Arbeit auf dem Feld. Die zweitschwerste Arbeit war die Arbeit im Stall. Die Arbeit im Garten und im eigentlichen Haushalt mutete einen im Vergleich dazu idyllisch an.” (Ebd., S.63) 228 Kompetenzen im Bereich der Haushaltsführung und im Gewerbe zwar notwendig, respektiert und für die Männer auch ein ausschlaggebendes Kritierium bei der Wahl der Partnerin sein.671 Die ´Vermännlichung´ der Weberei wertete aber nicht die Arbeit der Frauen auf, sondern die der Männer ab. Als gesellschaftlich gering- oder unqualifiziert eingestuft war dann auch der Erwerb, dem Regina Elisabetha Porz im Tagelohn, als Magd oder anderweitig außerhalb der Familie nachging. Für beide, Männer und Frauen der Familie, galt schließlich eine gewisse ´Austauschbarkeit´ im Arbeitsprozeß. Die Tätigkeiten der ´Porzens´ erforderten zwar Kompetenzen, die jeweils persönlich angeeignet werden mußten, deren Gelingen aber in relativ geringem Maß von einer bestimmten Person abhingen. Dies läßt sich für ihre Arbeiten in der Landwirtschaft wie für die Weberei anführen, die zum einen ein Massengewerbe war, und die zum anderen sogar den Geschlechtern ermöglichte, einander, wenn auch nicht in jedem Fall vollständig, zu ersetzen. 2.2.1.3. Wirtschaftliche und politische Teilhabe: Nachbarn ohne Gemeindefunktion Alle Männer der Familie Porz erwarben Nachbarrechte,672 behielten sie aber eventuell nicht in jedem Fall dauerhaft. Die prekäre Entwicklung der materiellen Lage im 19. Jahrhundert läßt durchaus vermuten, daß Nachbarrechte vorübergehend ruhten oder entzogen wurden. Bei Johann Christoph Porz galt entsprechendes auch im Zusammenhang mit seiner langjährigen Abwesenheit. Welchen konkreten wirtschaftlichen Nutzen die Angehörigen aus dem Nachbarrecht ziehen konnten, ist nicht belegt. Da die Familie vermutlich so gut wie kein Land einbrachte, ist davon auszugehen, daß ihre Rechte an der Gemeinheit und zur Viehhaltung vergleichsweise eingeschränkt waren. In politischer Hinsicht ermöglichte der Nachbarstatus den männlichen Angehörigen die Teilnahme an den Gemeindeversammlungen, bei deren Entscheidungen und Wahlen sie stimmberechtigt waren. 671 Obwohl die “Personalisierung der Partnerwahl” zunahm, kam es auch weiter auf das “Maß der Handfertigkeit” der Brautleute an. (Sieder 1987, S.84f) “Auch bei Heimarbeitern blieb die Ehe vor allem anderen eine Arbeitsbeziehung (...).” (Ebd., S.86) 672 Zu Möglichkeiten und Formen wirtschaftlicher und politischer Teilhabe vgl. ausführlicher Abschnitt 2.1.1.3. in diesem Kapitel 229 Höhere Gemeindefunktionen oder Ämter übernahmen die ´Porzens´ nicht. In niederem Gemeindedienst, als Polizeidiener in Aschenhausen, war unter den direkten Nachkommen der Familie nur Georg Porz in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Bei seinen Vorfahren schien eine Wahl in höhere Funktionen zum einen aufgrund ihrer Mobilität eher unwahrscheinlich. Kilian Porz war als Neuankömmling zunächst nicht in die Dorfgemeinschaft integriert. Ähnliches galt für seinen Sohn, Johann Christoph Porz, der viele Jahre außerhalb Kaltensundheims verbrachte. Zum anderen erfüllte die Familie auch in anderer Hinsicht kaum die Voraussetzungen für ein politisches Amt. Dagegen sprach zunächst der Mangel an eigenem Land. Bei Johann Christoph kam hinzu, daß die rückläufige Entwicklung der Barchentweberei ihn später in existentielle Not brachte. Ungeeignet, politische Funktionen zu übernehmen war er dann außerdem, weil der Name Porz mit steigender Zahl illegitimer Kinder in der Familie kaum mehr für Integrität im Sinne der herrschenden Moral stand. Der Mangel an politischen Teilnahmerechten, der zu den Merkmalen eines Gesindestatus gehörte673, galt für Regina Elisabetha Porz und ihre Schwester, Anna Maria I, auch ohne einen Dienst im fremden Haus. Als Frauen waren sie von einer entsprechenden Beteiligung ohnehin ausgeschlossen. In wirtschaftlicher Hinsicht konnte ihnen das Heimatrecht zugutekommen, das im allgemeinen mit dem Recht auf Unterstützung im Armutsfall verbunden war.674 2.2.1.4. Soziale Beziehungen: wenig ´ehrbare´ Verbindungen und Abstieg mit dem eigenen Sozialmilieu Die Weberfamilie Porz praktizierte soziale Beziehungen unter Voraussetzungen, die sich von denen der Schmiedefamilie Rauch zum Teil deutlich unterschieden. Fremd zu sein, neue Menschen kennenzulernen und bestehende Verbindungen aufzugeben, waren Erfahrungen, die zwar auch die Schmiede als wandernde Gesellen machten, die bei den ´Porzens´ aber insgesamt stärker ausgeprägt und von vergleichsweise größerer Bedeutung waren. Die Schmiede kehrten in absehbarer Frist nach Hause und zu vertrauten Beziehungen zurück. Anders war es bereits bei Kilian Porz, der seine Eltern, mit denen er eventuell schon gemeinsam umgezogen 673 Vgl. dazu Kocka 1990b, S.146. Die Stellung von Knechten und Mägden, die nur begrenzt rechtsfähig waren, “(...) (glich) in vielen Hinsichten (...) der von unmündigen Kindern”. (Ebd., vgl. auch Kraus 1981, S.257) 674 Vgl. zum Heimatrecht allgemein Kraus 1981. Zu den Rechten und der Rechtsfähigkeit von Frauen vgl., am Beispiel Preußens, Gerhard 1981 [1979]. 230 war, auf Dauer verließ, dann aber mehr als 40 Jahre in Kaltensundheim lebte. Noch andere Wege ging in der nachfolgenden Generation Johann Christoph Porz. Er kam schließlich zurück nach Kaltensundheim, allerdings erst nach mindestens zehnjähriger Abwesenheit, während der er mehrfach seinen Wohnort wechselte. Die genannten Erfahrungen trafen auf ihn, und, anders als bei wandernden Schmieden, zugleich auf alle Familienangehörigen, auch die Ehefrau und die Kinder, in besonderer Weise zu. Auch die unterschiedlichen Berufe und Betriebsformen schufen einen jeweils anderen Rahmen für die sozialen Beziehungen der Rauchs und der ´Porzens´. Die Schmiede fertigten ihre Produkte außerhalb ihrer Wohnung und standen mit ihren Kunden in direkter Verbindung. Dem Barchentweber entstanden über seine Erwerbstätigkeit vermutlich weniger Kontakte innerhalb der Gemeinde. Zumindest für Johann Christoph Porz ist anzunehmen, daß er kaum direkte Handelsbeziehungen mit den Kaltensundheimern unterhielt. Gewebt schließlich wurde in der Wohnung, während der Arbeitszeit blieb die Familie also eher unter sich. Die ´Porzens´ waren deshalb nicht isoliert. Sie waren in ein anderes Beziehungsfeld eingebunden, in dem die Voraussetzungen für Verbindungen, die Integration und Anerkennung in der Gemeinde versprachen, insgesamt geringer waren als es zunächst noch bei den Schmieden der Fall war. Besonders ungünstig beschaffen waren sie in der Familie von Johann Christoph. Hier verband sich langjährige Abwesenheit mit hausindustrieller Arbeit, deren Entwicklung schließlich außerdem noch dauerhafte Krisen beförderte. Die unterschiedlichen Voraussetzungen wurden dann auch praktisch konkret. Zwar überschnitten sich die Kreise, in denen die beiden kaltensundheimer Herkunftsfamilien von Richard Schmidt ihre Beziehungen knüpften.675 Die ´Porzens´ waren aber doch anders vergemeinschaftet als es, vor allem in ihren guten Zeiten, die Rauchs waren. Die Heiraten der Weber und der Webertöchter im Dorf zeigen, daß die Weberfamilien vor allem unter sich blieben, was mit deren steigender Zahl auch zunehmend wahrscheinlicher wurde. Bei den insgesamt 163 Ehen, die in Kaltensundheim zwischen 1748 und 1834 von Barchentwebern geschlossen wurden, war in 133 Fällen der Beruf des Schwiegervaters angegeben. Danach heirateten 56 Barchentweber in Weberfamilien ein.676 Ähnlich schlossen auch Webertöchter, die zwischen 1801 und 1850 in Kaltensundheim heirateten, am häufigsten die Ehe mit 675 Vgl. dazu auch Abschnitt 2.3. in diesem Kapitel 676 Vgl. Anhang 4 231 einem Weber. In 84 von 99 Fällen war der Beruf des Ehemannes im Kirchenbuch angegeben. 43 von ihnen waren Weber.677 Im weiteren standen Weber- und Gerberfamilien intensiver miteinander in Beziehung. Zwischen 1748 und 1834 heirateten 21 der 133 Barchentweber, für deren Schwiegerväter die Berufe im Kirchenbuch notiert waren, die Tochter eines Gerbers.678 Acht Barchentweber kamen auch selbst aus einer Gerberfamilie.679 Daß von einigen Schwiegervätern der Webertöchter, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts heirateten, der Beruf ebenfalls ausgeübt wurde, ist nicht auszuschließen. Allerdings war unter den 84 Ehemännern der Webertöchter, deren Beruf angegeben, kein Gerber.680 Hingegen schlossen sieben der Frauen eine Ehe mit einem Maurer, während bis 1834 nur ein Barchentweber eine Maurertochter heiratete.681 Schließlich entstanden bei den Webern noch häufiger Verbindungen zu Schuhmachern und Schneidern. Dabei fällt auf, daß unter den 124 Barchentwebern, die zwischen 1748 und 1834 heirateten und deren Väter mit Beruf angegeben wurden, kein Schuhmachersohn war.682 Sieben der Barchentweber heirateten aber entsprechend ein.683 Bei den Eheschließungen der Webertöchter in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war der Bräutigam in neun Fällen ein Schuhmacher.684 Unter den Frauen waren nur vier, die einen Schneider heirateten.685 Hingegen gingen zwölf der Barchentweber, von denen insgesamt auch sechs aus einer Schneiderfamilie kamen686, mit einer Schneidertochter die Ehe ein.687 677 Vgl. Anhang 7 678 Vgl. Anhang 4 679 Vgl. Anhang 3 680 Vgl. Anhang 7. Daß Webertöchter und Gerber heirateten, kam in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts allerdings vor, wobei die Eheschließungen der Webertöchter für den Zeitraum nicht systematisch recherchiert sind. 681 Vgl. Anhang 4 und Anhang 7. Bei den Maurern hängt die Differenz teilweise vermutlich auch mit den unterschiedlichen Zeiträumen zusammen, für die die Heiraten der Weber und Webertöchter erfaßt sind, wobei im weiteren auch grundsätzlich die unterschiedliche Fallzahl zu berücksichtigen ist (99 Webertöchter, 163 Barchentweber). Der Maurerberuf wurde vor allem seit Ende des 18. Jahrhunderts bedeutsamer und war entsprechend in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zahlreicher ausgeübt als im 18. Jahrhundert. 682 Vgl. Anhang 3 683 Vgl. Anhang 4 684 Vgl. Anhang 7 685 Vgl. ebd. 686 Vgl. Anhang 3 687 Vgl. Anhang 4 232 Den Vergemeinschaftungen der kaltensundheimer Weber im allgemeinen entsprachen auch die der ´Porzens´. Die Familie unterhielt keinen engeren Kontakt zur ´Dorfelite´, zumindest entstanden über Heiraten und Patenschaften keine Beziehungen zu Gemeindevertretern in höheren Funktionen. Sie bewegte sich in einem sozialen Feld, dessen Angehörige eher wenig vermögend, jedenfalls häufig Inwohner waren, und deren berufliche Kompetenzen ebenfalls keinen Anlaß zu besonderer Anerkennung gaben.688 Es waren wenig ´ehrbare´ Verbindungen, die die beiden Töchter von Kilian Porz eingingen.689 Auch die soziale Lage der Familien, in sie einheirateten, entwickelte sich bereits im 18. Jahrhundert prekär: Anna Ottilia I, die jüngere Tochter, heiratete 1783 den Schuhmachermeister und Inwohner Johann Peter Markert. Sein Vater war Schneidermeister gewesen und hatte sein Einkommen als Gemeindeknecht aufgebessert; dies offenbar schon längere Zeit vor seinem Tod im Jahr 1781, zu dem im Kirchenbuch notiert ist, daß er die letzten Jahre “vom Gichte gelähmt” war. Als Ende 1783 der erste Sohn der 688 Zu den ´Wahlverwandten´ der Familie Porz vgl. auch Abschnitt 2.3. in diesem Kapitel 689 Der Dieb und der Ehebrecher, die es hier gab, galten als ´ehrlos´. (Vgl. Zunkel 1975, S.17) 233 Eheleute geboren wurde, war Johann Peter Markert bereits “der Dieberey höchst verdächtig davongegangen”. Er verbrachte anschließend, gemeinsam mit seinem Bruder Jacob, der am Delikt offenbar beteiligt war, einige Zeit im “Zuchthaus”. Als im November 1785 das von Jacob Markerts Ehefrau während seiner Abwesenheit außerehelich gezeugte Kind geboren wurde, waren die beiden Brüder erst kurze Zeit wieder auf ´freiem Fuß´. Anlaß zum Diebstahl hatten Johann Peter Markert vielleicht schon wirtschaftliche Probleme gegeben, in die die Familie während seines Aufenthalts im Zuchthaus wohl auf jeden Fall und eventuell auch längerfristig geriet, weil ihm der Diebstahl noch anschließend das Vertrauen seiner Kunden entzog. Über gegenseitige Patenschaften waren die ´Porzens´ und die Familie von Johann Peter Markert kaum verbunden. Lediglich Johann Christoph Porz wurde im Jahr 1799 Pate bei den Markerts, als deren siebtes Kind geboren wurde. Intensivere Beziehungen bestanden scheinbar zwischen den Familien der Geschwister Johann Martin und Eva Margaretha Porz. “Nach erhaltener Dispensation ihrer unehelichen Schwangerschaft” hatte Eva Margaretha im Jahr 1785 den erst 20jährigen Johann Friedrich Eichhorn geheiratet, der, wie bereits sein Vater, Schneidermeister war. Nach dreijähriger Ehe starb Eva Margaretha. Sie hinterließ ihrem Ehemann zwei Kinder. Johann Friedrich Eichhorn heiratete daraufhin erneut und wurde während dieser zweiten Ehe, im Jahr 1801, außerdem Vater eines außerehelichen Kindes. Seit den 1790er Jahren arbeitete er zusätzlich als Gemeindebäcker. Die Verbindung zu den ´Porzens´ hielt auch nach dem Tod von Eva Margaretha. Angehörige der Familien von Johann Friedrich Eichhorn und Johann Martin Porz übernahmen füreinander Patenschaften. Johann Martin Porz war mit der über fünf Jahre älteren Anna Catharina Möhrer, der Tochter eines kaltensundheimer Barchentwebermeisters, verheiratet. Als sie im Jahr 1808 starb, blieb Johann Martin mit fünf Kindern zurück, von denen die jüngsten erst vier, acht und elf Jahre alt waren. Im gleichen Jahr schloß er seine zweite Ehe, mit Anna Elisabetha Marckart, die ebenfalls aus einer Barchentweberfamilie stammte. Anna Elisabetha Marckart war 33 Jahre alt, ledig und hatte zwei Söhne. Im ersten Fall hatte sich der Vater zu seinem Kind bekannt. Das Problem, die Männer für ihre außerehelich gezeugten Kinder zur Verantwortung zu ziehen, wird am Beispiel der Kirchenbucheintragung zur Taufe des zweiten Kindes von Anna Elisabetha Marckart besonders anschaulich: “Johann Valentin Marckart, das zweyte von Annen Elisabethen Marckartin, weyl. Heinrich Marckarts eltesten Tochter in Unehren erzeugtes Kind, zu welchem sich der Schuknecht Martin Marckart, Jacob Marckarts Sohn, als er in eine schwehre Krankheit fiel, in welcher ich ihn besuchte, 234 für den Vater erklärte, aber nachstehnds im Fürstl. Amt durch einen cörperlichen Eid solche That wieder abgeschwohren hat, und mir ein anderweitiger Thäter nicht bekannt geworden, wurde den eilften März Mittags 12 Uhr gebohren, und d. 12ten eiusd. getauft.” Mit steigender Zahl lediger Mütter und Paare in Kaltensundheim wurden die ´Porzens´ auch häufiger Paten bei unehelichen Kindern. Dies bei nicht zur Verwandtschaft gehörenden Müttern oder Paaren, vorrangig aber beim Nachwuchs der eigenen Töchter und Söhne. In der Familie von Johann Christoph Porz wurden nur Patenschaften für uneheliche Kinder übernommen, wobei der Erwerb der Eltern nicht angegeben ist. Für die Kinder von Johann Christoph und Anna Maria Gernlein, die ja alle in verschiedenen Orten außerhalb Kaltensundheims geboren wurden, finden sich ebenfalls keine Hinweise auf die Berufe der Paten. Es scheint insgesamt so, daß sich das Beziehungsfeld der ´Porzens´ über die Generationen hinweg zwar veränderte, dabei aber kein grundlegend anderes wurde.690 Patenschaften in der Familie von Kilian Porz zeigen Verbindungen zu Schuhmachern, Barchentwebern und Bleichern, außerdem zur Familie eines Weißgerbers, eines Gemeindebäckers und eines Brauers an. Die Beziehungen der Angehörigen nachfolgender Generationen unterschieden sich zumindest im Blick auf die Berufsangaben kaum. Unter den Paten der Kinder von Regina Elisabetha waren ebenfalls ein Schuhmacher und die Witwe eines Webers. Die Generationen der Familie wichen hier insofern voneinander ab, als Kilian Porz keine Patenschaft für uneheliche Kinder übernahm, deren Zahl in Kaltensundheim aber auch erst in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts stieg.691 Während die Vergemeinschaftungen einerseits Kontinuität vermuten lassen, wurden sie andererseits vielleicht auch unverbindlicher. Darauf deuten die eher flüchtigen Beziehungen der Kinder von Johann Christoph und Johann Martin Porz, aus denen Nachwuchs ohne eine dauerhafte Verbindung hervorging. Die vier Töchter der ´Porzens´ blieben unverheiratet, und die Söhne entzogen sich ihrer Verantwortung: Johann Nicolaus wurde 1836 Vater eines unehelichen Kindes, dessen Mutter nicht seine spätere Ehefrau war. Sein Bruder Johannes erhängte sich, bevor seine Tochter geboren wurde. 690 Vgl. auch Abschnitt 2.3. in diesem Kapitel 691 Vgl. dazu nachfolgenden Abschnitt 2.2.2. 235 Auffällig schließlich ist, daß im Beziehungsfeld der ´Porzens´ zunehmend Verbindungen mit Personen oder Angehörigen von Familien entstanden, deren Erwerb auf wenig qualifizierter Arbeit beruhte. Johann Nicolaus heiratete die Tochter des Gemeindeschäfers. Vater eines der Kinder seiner Schwester, Anna Maria I, war der Sohn eines Hirten. Unter den Paten der Kinder von Regina Elisabetha waren ein Dienstknecht und ein Schweine- und Ziegenhirte. Diese Veränderungen in den Beziehungen deuten zwar vielleicht auf einen ´Milieuwechsel´ in der Generation von Regina Elisabetha und ihren Geschwistern. Sie lassen sich aber, anders als in der Schmiedefamilie, deren verändertes Beziehungsnetz bei Johann Adam Rauch und seinen Nachkommen dokumentiert, daß sie das gesellschaftliche Feld wechselten, doch eher noch als ein Abstieg mit dem ´Milieu´ verstehen. Der genannte Schweine- und Ziegenhirte beispielsweise kam mütterlicherseits aus einer Barchentweberfamilie. Mit ihm trafen Johann Adam und Tobias Rauch im übrigen auf Verwandtschaft, von der sich ihre Familienlinie in der Vergangenheit vermutlich eher abgegrenzt hatte. Der Schweine- und Ziegenhirte war Martin Bocksberger, eines von sechs unehelichen Kindern der Tagelöhnerin Ursula Elisabetha Rauch, die mit Christian Bocksberger, der aus Bibra kam und zeitweilig Knecht in Kaltennordheim war, dauerhaft zusammenlebte.692 Ursula Elisabetha Rauch war eine Urenkelin von Hanß Peter Rauch, dem jüngsten, 1689 geborenen, Sohn des Schmieds Johannes Rauch sen., dessen Nachkommen Barchentweber wurden. 693 Die Familie von Ursula Elisabetha Rauch stand mit den ´Porzens´ schon Ende des 18. Jahrhunderts in engerer Verbindung. Johann Martin Porz wurde 1799 Pate bei einem Bruder von Ursula Elisabetha. Die Veränderungen in den Beziehungen der Familie Porz dokumentieren vor allem die Entwicklungen in ihrem gesellschaftlichen Feld. Zu ihnen gehörten zunehmend uneheliche Geburten, Ledige und die Notwendigkeit, Erwerbsmöglichkeiten in der Landwirtschaft nachzugehen, was auch verstärkten Kontakt zu Hirten und Gesinde bedingte. Angehörige dieser Gruppe waren auch öfter unter den Eltern unehelicher Kinder zu finden, deren Väter und Mütter im weiteren vor allem zu Weber- und auch zu Schuhmacher- und Schneiderfamilien gehörten694, die, wie bereits an den Heiraten der Weber und Webertöchter abzulesen war, häufiger vergemeinschaftet waren. Die lediggebliebenen Frauen und Männer Kaltensundheims kamen ebenfalls 692 Martin Bocksberger wurde nicht nur Pate beim jüngsten Sohn von Regina Elisabetha Porz. Er war auch Vater des unehelichen Kindes der Schwägerin von Johann Nicolaus Porz. 693 Vgl. Überblick III, S.180f 694 Vgl. nachfolgenden Abschnitt 2.2.2. 236 überwiegend aus Weberfamilien. In den meisten Fällen übten die ledigen Männer auch selbst den Weberberuf aus.695 Entwicklungen, die es innerhalb der Familie verstärkt bei Johann Christoph Porz und seinen Nachkommen gab, trafen demnach vor allem Berufsgruppen, mit deren Angehörigen die ´Porzens´ Beziehungen unterhielt und die auch sonst untereinander in Verbindung standen. Dabei bildeten Weber, Gerber, Schuhmacher und Schneider keine homogene Gruppe, sondern unterschieden sich nach ihren Ressourcen und vermutlich auch ihrem Habitus. Familie Porz gehörte zu den Besitzarmen und damit den tendenziell am stärksten Unterprivilegierten innerhalb der Großgruppe der Weber. Dafür, daß ihre Position schließlich auch eine Entsprechung in den Beziehungen der Töchter fand, sprechen die ledigen Mütter der Familie, die auf Dauer unverheiratet und scheinbar ohne festen Partner blieben. Regina Elisabetha und ihre Schwester, Anna Maria I, waren zwar keine Ausnahme in Kaltensundheim. Sie gehörten aber doch zu einer Minderheit, nicht nur insgesamt im Dorf, sondern auch unter den Webern.696 Die vermutlich stärkere Außenseiterposition von Regina Elisabetha Porz schlug sich auch darin nieder, daß sie keine Patenschaften für Kinder anderer Familien oder Mütter übernahm. Von besonderer Bedeutung waren für die `Porzens´ schließlich die Beziehungen innerhalb der eigenen Kernfamilie. Als mögliche Folgen der Mobilität führt Mitterauer “Instabilität” und auch “Zerfall der Familie” an.697 Entsprechendes gab es zunächst wohl in der Familie von Kilian Porz, der seine Eltern und vermutlich existierende Geschwister verließ. Eine Generation später kann für die Beziehungen durchaus folgenreich gewesen sein, daß Johann Christoph viele Jahre von seinen Geschwistern entfernt lebte. Innerhalb seiner eigenen Familie gab es dann keinen mobilitätsbedingten ´Zerfall´. Johann Christophs Kinder waren während der ´mobilen Phase´ vermutlich zu jung, um sich von der Familie zu trennen. Daß sie später zusammenhielten, zeigt sich an ihrem gemeinsamen bzw. in unmittelbarer Nachbar- 695 Vgl. ebd. 696 Vgl. ebd. 697 Mitterauer 1990, S.143. Mitterauer zielt hier auf die Abgrenzung von Formen des Zusammenlebens bei Bauern. Darauf, daß die bei ihnen häufigeren “(...) klassische(n) trigenerative(n) Familienkonstellationen” in proto-industriellen Familien eher die Ausnahme bilden, verweist auch Medick (1978, S.130). “Dennoch zeigt sich eine starke Integrationskraft des Familien- und Verwandtschaftssystems in anderer Richtung. Kernfamilienhaushalte, in denen zusätzlich Witwen, unverheiratete Geschwister, Nichten und Neffen des Ehepaars wohnen, erscheinen relativ häufig.” (Ebd.) 237 schaft gelegenen Wohnort.698 Der Zusammenhalt war sicherlich zweckrational begründet. Dafür sprechen die Arbeitsorganisation innerhalb der Hausindustrie und auch die Lage der unverheirateten Mütter. Gleichzeitig hatte “(...) die textile Hausindustrie (...) häufig über die Bedingungen gemeinsamer Arbeit eine starke Familialisierung zur Folge. Wenn alle Familienmitglieder durch Weben, Spinnen und Spulen an der Textilproduktion beteiligt sind, so ist die familiale Kooperation sicher intensiver als in bäuerlichen Familienwirtschaften.”699 Der objektiv überlebensnotwendige Zusammenhalt konnte so auch dem subjektiven Empfinden der ´Porzens´ entsprechen und zumindest relativ selbstverständlich sein.700 2.2.2. Handlungsspielräume, Handlungsziele, Handlungsstrategien: Erfahrungen von Mobilität und Gelegenheitsorientierung Die Schmiedefamilie Rauch hatte in sozialer Anerkennung bzw. Respektabilität, in Autonomie und einem standesgemäßen Auskommen nachvollziehbar wesentliche Leitmotive ihrer Praxis.701 Für sich genommen, werden diese Handlungsziele kaum geeignet sein, die Vorfahren von Richard Schmidt voneinander abzugrenzen. Denn bei den ´Porzens´ sind entsprechende Ziele nicht weniger plausibel. Diese Plausibilität allerdings stellt sich für jede der beiden Familien anders her: Während soziale Anerkennung oder Respektabilität, Selbständigkeit und ein gesichertes Auskommen von den Rauchs auch erfahren wurden, gab in der Familie Porz dann eher der Mangel daran zu entsprechenden Bestrebungen den Anlaß. Zu den für ihren Habitus grundlegenden Erfahrungen gehörten eine vergleichsweise geringe Anerkennung, bestenfalls begrenzte und auch nicht selbstverständlich mögliche Eigenständigkeit sowie erhebliche Anstrengungen für ein schon deshalb unsicheres Auskommen, weil es weitestgehend auf gewerblicher Tätigkeit beruhte und damit insbesondere von konjunkturellen Schwankungen abhing. Es waren zunächst vor allem die Handlungsspielräume und die Handlungsstrategien, die beide Familien voneinander unterschieden. Ihre jeweils anderen Praktiken 698 Vgl. Abschnitt 2.2.1.1. in diesem Kapitel. Der Bruder von Regina Elisabetha und Anna Maria I zog vermutlich nach seiner Heirat im Jahr 1850 von der Bleiche Nr. 65 ins Nachbarhaus (Nr. 66). Tobias Rauch und Anna Maria II, die Anfang der 1860er Jahre zur Regina Elisabetha zogen, hatten zuvor auf der Bleiche Nr. 66 gewohnt. 699 Mitterauer 1990, S.141 700 Allerdings folgten Kinder und Eltern in proto-industriellen Familien auch unterschiedlichen Interessen. Kooperation oder Loyalität war von daher nicht ohne weiteres selbstverständlich. Vgl. auch nachfolgenden Abschnitt 2.2.2. 701 Vgl. Abschnitt 2.1.2. in diesem Kapitel 238 und Erfahrungen legen dann allerdings ebenfalls nahe, daß zum einen selbst gleichlautende Handlungsmotive von ihnen verschieden gedeutet wurden. Die Vorstellungen, die Rauchs und ´Porzens´ mit Selbständigkeit und sozialer Anerkennung verbanden, waren vermutlich nicht identisch. Und zum anderen deuten ihre im ´Krisenfall´, aber nicht nur dann, verfolgten Strategien schließlich auf unterschiedliche Präferenzen und Gewichtungen von Handlungsmotiven. Dies spricht sowohl für die Bedeutung des Feldes und ungleiche Möglichkeiten wie auch für Differenzen im Habitus der ´Porzens´ und der Rauchs.702 Für die Weberfamilie ist hier zunächst auch der Frage nachzugehen, inwieweit ihre Handlungsstrategien auf Veränderungen im Habitus deuten. Auch in diesem Fall standen die Neigungen der Angehörigen und ihre Chancen, sie zu realisieren, in zunehmend angespanntem Verhältnis. Die Entwicklung der Handlungsspielräume schloß die ´Porzens´ im 19. Jahrhundert von Möglichkeiten, soziale Anerkennung, Selbständigkeit und ein ausreichendes Einkommen zu erlangen, noch stärker aus als zuvor. Mit dem Feld änderten sich auch Praktiken der Familienangehörigen. Ihre Umstellungen erstreckten sich auf Erwerbs- und Familienleben. Johann Christoph Porz wurde Tagelöhner, sein Sohn Dienstknecht, die Töchter blieben ledig, Regina Elisabetha hatte sechs uneheliche Kinder. Wie bei den Schmieden, lassen sich aber auch die Veränderungen in dieser Familie nicht als plötzlicher Bruch, sondern als Resultat längerfristiger Prozesse verstehen. Ihre während des sozialen Abstiegs hervorgebrachten Praktiken standen zudem, und wiederum analog dessen, was bereits für die Rauchs festzustellen war, in einer Beziehung zur Vergangenheit der Familie, die eher auf Kontinuität statt auf diskontinuierliche Entwicklungen deutet. Die Begrenzung der Handlungsspielräume erforderte Arrangements, die bereits zuvor in der Familie vorhandene Dispositionen verstärkten. Nicht vollkommen neu entstanden, wurden diese Dispositionen dann in abgewandelter Form praktiziert. Die langfristige Perspektive deutet demnach, wie schon bei den Schmieden, erneut eher auf Varianten bzw. Metamorphosen im Habitus, nicht auf völlig gewandelte Aneignungen eines Feldes, das auch für die ´Porzens´ kein vollkommen anderes wurde. Familie Porz handelte unter anderen Voraussetzungen als die Schmiede. Ausschlaggebend dafür waren zunächst ihre Besitzverhältnisse. Das Vermögen der Rauchs beruhte zwar auch wesentlich, aber nicht allein auf kulturellem Kapital. Ihr verblieben selbst langfristig immerhin zumindest noch kleinstbäuerliche Existenzgrundlagen. Von vergleichbaren Möglichkeiten ausgeschlossen, waren die ´Por- 702 Vgl. dazu vor allem nachfolgenden Abschnitt 2.3. 239 zens´ weitestgehend auf ihre Arbeitskraft und berufliche Kompetenz als Weber angewiesen. In der Praxis beförderten diese Handlungsvoraussetzungen bestimmte Gewohnheiten und Strategien, die teilweise deutlich andere als die der Schmiede waren: Die Ressource Arbeitskraft wurde in der Familie Porz ausgeschöpft, indem möglichst viele Angehörige in die Weberei einbezogen wurden. Mit der familienwirtschaftlichen Produktionsweise und Konzentration auf das Gewerbe rückte dann eher Haus- als Landbesitz in den Mittelpunkt der Bestrebungen nach existentieller Sicherheit und auch nach Selbständigkeit.703 Neigung und Notwendigkeit trafen hier zusammen. Der primäre Wunsch nach einem Haus oder zumindest anteiligem Besitz daran entsprach den begrenzten Möglichkeiten, Land zu erwerben. Ob Kilian Porz Besitzrechte an einem Haus erwarb, ist offen. Anders als seine Söhne, wurde er im Kirchenbuch zumindest nicht als Inwohner angegeben. Aus den Einträgen ist insgesamt aber ersichtlich, daß hausrechtliche Abhängigkeiten nicht in jedem Fall notiert wurden. Den erwerbsmäßigen Voraussetzungen nach scheint jedenfalls für Kilian noch am ehesten denkbar, daß er in den Besitz eines Hauses gelangen konnte, was er in dem Fall aber nicht behielt, jedenfalls nicht an seine Söhne vererbte. Es war dann vermutlich auch eher Symbol der Selbständigkeit als des ´Wohlstands´. Daß mit dem Kauf eines Hauses eine dauerhafte Verschuldung einherging, war zumindest deshalb häufiger der Fall, weil die Gewerbetreibenden ihr Eigentum nicht auf der Grundlage von Ersparnissen, sondern aus dem laufenden Einkommen finanzierten.704 Die Verschuldung schränkte dann auch die erreichte Unabhängigkeit vom ´Vermieter´ und von Arbeitsleistungen, die er gegebenfalls forderte, in anderer Hinsicht ein. Auf die Besitz- und Erwerbsverhältnisse läßt sich auch die Mobilität, eine andere Strategie der Einkommenssicherung, zurückführen. Ohne eigenes Land, verloren die ´Porzens´ kein Vermögen, wenn sie den Wohnort wechselten. Mobilität war von daher möglich, deshalb aber längst keine nur freiwillige, sondern im Zusammenhang mit den Handlungsspielräumen gegebenfalls auch notwendige Wahl. Die Entscheidung darüber fiel bei Johann Christoph Porz zu Beginn des 19. Jahrhunderts vermutlich auf der Grundlage geringer Einkommenschancen, die sich ihm in Kaltensundheim boten. Zugleich war Mobilität auch eine langfristig erworbene Disposition im Habitus der Familienangehörigen. In den beiden vorangegangenen 703 Vgl. Medick 1978, S.110f, ders. 1997, S.328; vgl. entsprechend auch Braun 1960, S.33 und Sieder 1987, S.80 704 Vgl. Medick 1978, S.110 240 Generationen, bei Kilian Porz und seinen Eltern, hatte es jeweils entsprechende Erfahrungen gegeben. Daß Kilian Kaltensundheim nicht mehr dauerhaft verließ, spricht nicht uneingeschränkt, aber doch für ein über einen längeren Zeitraum hinweg ausreichendes Einkommen, während später auch Altersgründe ausschlaggebend für seinen Verbleib im Dorf gewesen sein können. Die Vermögensstruktur und damit verbundene Arbeitsorganisation der ´Porzens´ hatte auch Folgen für ihre inner- und außerfamiliären sozialen Beziehungen.705 Die Ehen ihrer Angehörigen bestätigen, daß die Heirat eher “(...) kein Mittel der Transaktion von materiellem und symbolischem Kapital (war) (...).”706 Daß sich die Heiratsstrategien der Männer dabei vermutlich auch nicht in erster Linie an der Möglichkeit orientierten, über die Ehefrau in den Besitz von Land bzw. zu kleinbäuerlicher Existenz zu gelangen, ist zwar plausibel. Allerdings ist hier wiederum der Zusammenhang von Neigung und Handlungsspielraum zu berücksichtigen, der die Not auf dem Weg inkorporierter Grenzen zur Tugend werden ließ.707 Für eine funktionierende Familienwirtschaft war jedenfalls vor allem bedeutsam, die Partnerinnenwahl am Kriterium ihrer Arbeitserfahrung, im weiteren vielleicht auch an eventuell vorhandenen Ersparnissen, auszurichten.708 Es konnte diesen Anforderungen durchaus entgegenkommen, wenn die Frau älter war ihr Ehemann, wobei sie zugleich jung genug sein mußte, die für die protoindustrielle Familie wichtige Nachkommenschaft gewährleisten zu können. Aus diesem Grund mußte nur für Johann Christoph Porz, der erst 33jährig heiratete, wesentlich sein, eine jüngere Frau zu heiraten. Er war auch zehn Jahre älter als Anna Maria Gernlein. Bei seinen Eltern war der Vater der jüngere, die Mutter zwei Jahre älter. Johann Christophs Bruder, Johann Martin Porz, war zweimal verheiratet und in beiden Ehen der jüngere Partner.709 Da ihm seine erste Ehefrau, die ihn als 27jährige heiratete, bereits fünf Kinder hinterließ, spielte für die zweite Ehe das Alter seiner Frau eine untergeordnete Rolle. Johann Martin mußte dann vor allem möglichst rasch eine Partnerin finden, um seinen Familienbetrieb aufrecht erhalten zu können. Daß sie zwei uneheliche Kinder hatte, war dabei ebenfalls nicht wesentlich. 705 Vgl. auch vorangegangenen Abschnitt 2.2.1.4. 706 Mooser 1984, S.301. Die Äußerung steht bei Mooser im Kontext des Vergleichs von Heiratsvoraussetzungen bei Frauen “der besitzlosen Klasse” und zukünftigen Bäuerinnen. 707 Wobei es in Kaltensundheim durchaus soziale Mobilität zwischen dem Besitz nach zwar benachbarten, aber doch verschiedenen Gruppen gab. Vgl. dazu nachfolgenden Abschnitt 2.3. 708 Vgl. Mooser 1984, S.301 709 Medick belegt allerdings für die Gruppe der Weber in Laichingen, daß zumindest das durchschnittliche Heiratsalter der Frauen zwischen 1658 und 1884 beständig niedriger lag als das der Männer. Einzige Ausnahme war im Zeitraum von 1724 und 1749 die geringfügige Abweichung von 26,7 Jahren bei den Frauen gegenüber 26,4 Jahren bei den Männern. (Vgl. Medick 1997, S.322) 241 Im Blick auf die “häusliche Ordnung” der Kaltensundheimer teilt die Kirchenchronik um die Mitte des 19. Jahrhunderts als eine allgemeine Beobachtung “(...) die höchst nachtheilige Gewohnheit der Männer (...)” mit, “(...) ihren Weibern die ganze Hauswirtschaft zu überlassen, namenthlich alle Bedürfnisse herbeizuschafffen, als Nahrungsmittel, Kleidung und Schuhe, Bettzeug und Wäsche, ohne jedoch das nöthige Geld zu verdienen und herzugeben (...)”. Diese Bemerkungen lassen durchaus vermuten, daß sich mit dem Ende der Barchentweberei auch die Geschlechterrollen in zuvor protoindustriellen Familien veränderten. Bis dahin allerdings ließ die Struktur und Organisation der gewerblichen Produktion eine streng geschlechtsspezifische Arbeitsteilung bei den ´Porzens´ nicht zu. Hier unterschied sie sich sehr wesentlich von der Schmiedefamilie, zumal das jeweilige Rollenverständnis nicht auf das Arbeitsleben beschränkt blieb. Geschlechterhierarchien äußerten sich bei Handwerker- und Bauernfamilien nicht nur in der “(...) strikte(n) Unterscheidung von Arbeitsgebieten des Mannes und solchen der Frau”.710 Das Patriarchat herrschte hier darüber hinaus. Der “Ehemann und Vater” war mit “(...) der Rolle des privilegierten Konsumenten (...)” ausgestattet, “(...) der aus seinen Vorrechten bei Essen, Trinken und Bekleidung einen Zugewinn an inner- und außerfamiliärem Ansehen bezog (...)”.711 Die gegenseitige Übernahme und Angleichung der Geschlechterrollen in protoindustriellen Familien führte hingegen auch im Konsumbereich zu Übereinstimmungen, wobei sich “(...) gerade im Statuskonsum (...) die Tendenz zur Gleichberechtigung der Geschlechter deutlich manifestiert zu haben (scheint)”.712 710 Sieder 1987, S.90 711 Ebd., S.92 712 Ebd. Auf Kleidung und andere Attribute des Lebensstils zur Dokumentation gesellschaftlicher Positionen und Zugehörigkeiten geht Medick sehr ausführlich ein. (Vgl. Medick 1997, S.379ff) Explizit grenzt er sich dabei von Bourdieu (1982) ab. Entscheidendes Argument dafür sind nicht die nach Schicht- oder Klassenzugehörigkeit jeweils verschieden eingesetzten Attribute des Lebensstils, die auch bei Medick über den Zusammenhang von Besitz und Beruf mit der Kleidung angedeutet werden. Die Kritik setzt in dem Punkt an, daß, so Medick, “(...) Bourdieu (...) dem entscheidenden Moment der Ehre kein Gewicht (gibt). In seiner Gegenüberstellung von Ober- und Unterschichtenkultur behauptet er für das Kleidungsverhalten der ´einfachen Leute´ einen ´Realismus´, der - im Unterschied zur ästhetisch-repräsentativen Kleidungskultur der Oberschicht - weniger an der zeichen- und symbolhaften Bedeutung der Kleidung als vielmehr an Zweckmäßigkeit und funktionsgerechter Verwendung interessiert sei. (...) Im Unterschied zu Bourdieu wird in der folgenden Untersuchung zu einer örtlichen ´Kultur des Ansehens´ sichtbar, daß alle sozialen Gruppen und Individuen mit der Kleidung ein soziales Ausdrucksverhalten verbinden, das über bloße Funktionen hinausgeht, das auf Ehre orientiert ist, ja sogar die sittliche Dimension von ´Anstand´ und ´Ansehen´ betont.” (Medick 1997, S.381) - Medick argumentiert aus der Perspektive der Akteure, daß ihr Umgang mit Kleidung und Mode bestimmte Wertvorstellungen und beanspruchte Ehre demonstriert. Bourdieu argumentiert über die Beziehungen zwischen Handlungsspielräumen und Praktiken sozialer Gruppen und die Beziehungen zwischen sozialen Gruppen mit Herrschaft. Danach sind die Aussichten auf Ehre im Sinne gesellschaftlicher Anerkennung in den Unterschichten gering. Das bedeutet nicht, daß sie mit ihren Praktiken keine Ehrvorstellungen verbinden, wie in der Fallstudie im übrigen auch Richard Schmidt belegt. Bourdieu würde Medick 242 Der Konsum sogenannter Luxusgüter erstreckte sich unter anderem auf Tee, Kaffee, Wein, Tabak, Schokolade und ähnliche Genußmittel sowie auf Modeartikel wie beispielsweise Schmuck. Er setzte bestimmte Handelsverflechtungen voraus, die im konkreten Fall nicht näher angegeben werden können. Konsumgewohnheiten und Freizeitverhalten der ´Porzens´ sind entsprechend ebenfalls nicht belegt. Allerdings gründete die Protoindustrie, anders als die traditionellen “(...) Formen innerdörflichen Austauschs zwischen Bauern und Handwerkern (...)”, auf dem “Ware-Geld-Prinzip”.713 Es ist durchaus anzunehmen, daß Familie Porz, zumindest in ihrer Ernährung, eventuell auch im Bereich der persönlichen Ausstattung mit Kleidung und anderen Artikeln, der ländlichen Tradition gegenüber andere Gewohnheiten entwickeln konnte.714 Entsprechende Luxusgüter waren allerdings “(...) nicht nur eine Erscheinung guter Konjunkturen und noch weniger Indiz eines allgemein relativ guten Lebensstandards”.715 Sie waren an bestimmte Gelegenheiten gebunden und implizierten Verzicht an anderer Stelle, “(...) um dann in der Prestigemusterung der sonntäglichen Öffentlichkeit zu bestehen”.716 Das öffentliche Verhalten der Besitzlosen und Besitzarmen zielte auf den Anspruch und die Demonstration von Selbständigkeit. Es war praktisch ´unangepaßt´ und bedeutete Distanz wie Distanzierung von bäuerlichen Gruppen, war dabei aber vor allem doch mit dem Wunsch nach Zugehörigkeit und “sozialer Gleichheit”717 verbunden. Mooser versteht den “ganze(n) ´Luxus´” entsprechend als “(...) Teil einer Strategie der sozialen Sicherung und Reputation”.718 hier vermutlich zustimmen, allerdings den über Kleidung o.ä. demonstrierten Anspruch auf Zugehörigkeit zur respektierten Gesellschaft nicht unbedingt, wie Medick, als Ausdruck von Selbstbewußtsein deuten. Funktionalität als Disposition im Habitus widerspricht letztlich bestimmten Vorstellungen von Ehre, Anstand usw. nicht, sondern impliziert sie in der Differenz zu anderen Haltungen zwangsläufig. Bourdieu interessiert primär die klassenspezifische Differenz der Praktiken und Vorstellungen, die, mit einheitlichen Begriffen gefaßt, gemeinhin geltend scheinen. Hier wäre vor allem auch zu klären, welchen Ehrbegriff Medick zugrundelegt. Bourdieu hat in seiner Studie über die kabylische Gesellschaft, die zur später, in der Analyse der französischen Gesellschaft, entwickelten Theorie wesentlich beitrug, zunächst den Ehrbegriff verwendet, um handlungsleitende Prinzipien herauszuarbeiten, anschließend mit dem Habitusbegriff argumentiert. (Vgl. Bourdieu 1979 [1972]) Kritik zu teilen wäre in dem Punkt, daß Bourdieus Analysen zum ´Habitus der Notwendigkeit´ (vgl. Bourdieu 1982, S.585) nicht hinreichend differenzieren zwischen verschiedenen Unterschichtenmilieus, in denen durchaus verschiedene Habitusvarianten und damit auch Vorstellungen von Ehre und Anstand unterschiedlich praktiziert werden. Dies belegt auch die Familie von Richard Schmidt. 713 Sieder 1987, S.73 714 Wobei gegebenfalls Kleiderordnungen oder andere ständische Reglementierungen zu berücksichtigen waren. Vgl. dazu Medick 1997, S.384ff 715 Mooser 1984, S.304 716 Ebd. 717 Ebd., S.303 718 Ebd., S.302 243 Die gegenseitige Übernahme und Angleichung der Geschlechterrollen in protoindustriellen Familien ging nicht nur mit tendenziell ´gleichberechtigten´ Konsumgewohnheiten einher. Auch “(...) im erotisch-sexuellen Bereich (glichen sich) die Verhaltensweisen der Geschlechter an (...)”719, zeigten sich Frauen ähnlich unbefangen und aktiv wie die Männer. Der Vorwurf der ´Sittenlosigkeit´ galt den Mädchen und Frauen für ihr ´unangepaßtes´ Verhalten hier in besonderer Weise720, betraf aber die Gruppe der besitzarmen Protoindustriellen insgesamt. Sie waren ´unvernünftig´, weil sie ihre Familien und Konsumgewohnheiten auch ohne Vermögen begründeten. Aus der Sicht der so Klassifizierten waren die Strategien durchaus rational. Die Chance zur Selbständigkeit war für sie unauflöslich mit Familienwirtschaft verbunden. Und selbst der Konsum von Genußmitteln folgte nicht allein demonstrativen Zwecken, sondern auch dem vernünftigen Ziel, lange Arbeitszeiten durchzuhalten und damit das Einkommen zu sichern.721 Verstanden als “(...) Versuch, auch unter dürftigen Bedingungen ein wenigstens teilweise selbstbestimmtes Leben führen zu können (...), (läßt sich) die ´Sittenlosigkeit (...) in diesem Licht als eine schichtenspezifische Wahrnehmung kultureller Freiheitschancen lesen, die den Unterschichten zuzugestehen den Bauern und Gebildeten offenbar große Mühen bereitete”.722 Eine Ehe als Voraussetzung für wirtschaftliche Selbständigkeit schlossen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nur wenige Angehörige der ´Porzens´. Vor allem die Töchter der dritten Familiengeneration blieben unverheiratet: 719 Sieder 1987, S.89 720 Vgl. ebd. 721 Vgl. Mooser 1984, S.302, Sieder 1987, S.93. Sieder ergänzt zum ´unvernünftigen´ Konsum, daß es sich hier um eine “(...) Reaktion der Heimarbeiter auf das für sie zunächst ungewohnte Geldeinkommen (...)” handelte. (Ebd.) 722 Mooser 1984, S.301 244 Lediglich die beiden Töchter von Eva Margaretha, die den Schneider Friedrich Eichhorn geheiratet hatte, gingen eine Ehe ein. Neben den insgesamt vier Töchtern der beiden Weber Johann Martin und Johann Christoph Porz blieben auch die drei weiblichen Nachkommen ihrer Schwester Anna Ottilia I, die mit dem Schuhmacher Johann Peter Markert verheiratet war, ledig.723 Die beiden überlebenden Söhne der Schuhmacherfamilie hingegen heirateten ebenso wie, wenn auch spät, ihre beiden Cousins aus den Weberfamilien Porz.724 Einer der Gründe dafür, daß die Töchter unverheiratet blieben, mag ihre den Eltern gegenüber loyale Haltung gewesen sein.725 Dies ist denkbar zumindest für die Nachkommen der Weber. Regina Elisabetha und ihre Geschwister waren als “´lebendes Kapital´”726 ihrer Eltern mit steigendem Alter von zunehmend wirtschaftlichem Nutzen für sie. Daß Johann Christoph Porz und Anna Maria Gernlein daran interessiert waren, ihre Kinder im eigenen Familienbetrieb zu beschäftigen, ist von daher plausibel. Deren Motiv zum Verbleib kann durchaus, jedenfalls eine zeitlang, gewesen sein, den Eltern die notwendige Unterstützung zu gewähren. Gleichzeitig ist aber auch davon auszugehen, daß Regina Elisabetha und ihre Geschwister ein Interesse daran hatten, ein von den Eltern, von denen sie für ihre Arbeit vielleicht 723 Für die 1790 geborene Tochter Anna Ottilia II ist dies nicht belegt, weil sie Kaltensundheim dauerhaft verließ und auswärts als Dienstmagd arbeitete. Immerhin war sie noch als 44jährige ledig. 724 Johann Christophs Sohn Johannes, der sich 1835 erhängte, wird hier nicht als Lediger angeführt, weil er höchstens etwa 23 Jahre alt war und von daher durchaus noch hätte heiraten können. 725 Vgl. dazu die Hinweise bei Sieder 1987, S.98 726 Ebd., S.95 245 nur “ein Taschengeld zugestanden”727 bekamen, unabhängiges Leben zu führen. Der Mangel an Besitz und Vermögen in der Familie schränkte den Einfluß, den Johann Christoph Porz und Anna Maria Gernlein auf die Lebensplanung ihrer Kinder nehmen konnten, weitgehend ein.728 Während sich die Schmiedesöhne allein aufgrund der Erwartung, das Erbe der Väter antreten zu können, sowohl deren Reglementierungen als auch der sozialen Kontrolle ihres gesellschaftlichen Feldes unterwerfen mußten, verfügten die Nachkommen der ´Porzens´ hier über andere ´Freiheiten´. Daß Regina Elisabetha und Anna Maria I ledig blieben, ist mit einer möglichen Rücksichtnahme auf die Eltern allein sicherlich nicht zu erklären, zumal sich deren Interessen auch ändern konnten. In der zweiten Hälfte der 1830er Jahre verstärkte sich vielleicht ihr Wunsch, die eigenen Kinder verheiratet zu sehen, um sie, ihren unehelichen Nachwuchs und auch sich selbst besser versorgt zu sehen. Bei rückläufigen Erwerbsmöglichkeiten in der Barchentweberei und dem relativ hohen Alter von Johann Christoph Porz eröffneten sich ihm und seiner Ehefrau eventuell über Schwiegersöhne noch am ehesten Perspektiven für eine Altersversorgung. Spätestens der Tod von Johann Christoph im Jahr 1843 brachte die Frauen der Familie in eine Situation, in der ein Ehemann oder ein Partner, der Ernährerfunktionen übernehmen konnte, auch aus zweckrationalen Erwägungen wünschenswert sein mußte. Regina Elisabetha war dann zwar bereits 32 Jahre alt. Eine Eheschließung, die in früheren Jahren wahrscheinlicher gewesen wäre, war damit aber noch nicht ausgeschlossen.729 Es war letztlich wohl kaum freiwillig gewählt, daß Regina Elisabetha und ihre Schwester, Anna Maria I, unverheiratet blieben. Entsprechendes ist ebenfalls für ihre lediggebliebenen Cousinen anzunehmen. Inwieweit es auch im “persönlichen Stil”730 und damit im Habitus begründet war, daß die Frauen keinen ´passenden´ Partner für sich fanden, ist offen. Zur Erklärung tragen Entwicklungen der Zahl der Eheschließungen und der Ledigen im Zusammenhang mit sozialen Lagen bei: Im allgemeinen entwickelte sich die wirtschaftliche Situation sowohl insgesamt als auch phasenweise, unter anderem abhängig von Erwerbsgrundlagen, Berufs727 Ebd., S.98 728 Vgl. ebd., S.86 729 Bei etwa zwei Drittel der kaltensundheimer Webertöchter, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts heirateten, war im Kirchenbuch das Heiratsalter angegeben. 19 dieser insgesamt 65 Frauen waren 30 Jahre oder älter. Vgl. Anhang 9 730 Vgl. Abschnitt 6. im I. Kapitel 246 gruppenzugehörigkeit und Preisen, zusätzlich kritisch. Vermutlich zu Beginn des Jahrhunderts und dann auf jeden Fall seit den 1830er Jahren war die Lage in der Familie von Johann Christoph Porz prekär, in der seines Bruders sind Probleme auch in den 1820er Jahren erkennbar.731 Geringe Einkommen erschwerten ihren Kindern eine Eheschließung. Dabei deutet die Entwicklung der Heiratszahlen in Kaltensundheim, für sich genommen, nicht auf zunehmend wirtschaftliche Problemlagen bzw. nicht auf einen Zusammenhang zum Heiratsverhalten. In den ersten drei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts wurden jeweils ähnlich viele Ehen geschlossen. Es gab zwar einen Rückgang, der aber nicht gravierend war: Im Zeitraum von 1801 bis 1810 heirateten 58 Paare im Dorf, zwischen 1811 und 1820 waren es 54 und im darauffolgenden Jahrzehnt 53.732 Die Zahlen waren schon seit den 1790er Jahren etwa konstant, in denen 54 Ehen geschlossen wurden. Gegenüber den 65 Brautpaaren in den 1780er Jahren hatte es hier allerdings eine deutlichere Abnahme gegeben.733 In den 1830er Jahren schließlich stieg die Zahl der Eheschließungen auf 67 und betrug im darauffolgenden Jahrzehnt noch 60.734 Der Zahl der Webertöchter, die in Kaltensundheim heirateten, stieg, wie auch ihr Anteil an den Eheschließungen insgesamt, ebenfalls in der ersten Hälfte des 18. Jahrhundert kontinuierlich an.735 Sie waren in diesem Zeitraum insgesamt etwa zu einem Drittel an den Heiraten im Dorf beteiligt, wobei ihr Anteil seit den 1820er Jahren insgesamt bei ungefähr 40% lag. 736 Der Eindruck, daß Regina Elisabetha und Anna Maria Porz I, die von dieser Entwicklung ausgeschlossen blieben, in Kaltensundheim zu einer Minderheit gehörten, wird im weiteren zwar bestätigt, ebenfalls aber relativiert. Im Verhältnis zur Entwicklung der Einwohnerzahl erscheinen die zunächst konstanten und nach 1830 steigenden Heiratszahlen in etwas anderem Licht. Für die ersten drei Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts ist die Zahl der Kaltensundheimer nicht belegt, wobei tendenziell eher von einer Zunahme, jedenfalls wohl kaum von einer Abnahme, auszugehen ist. Im Zeitraum zwischen 1833 und 1858 stieg die Zahl der Dorfbewohner dann insgesamt von 704 auf 934, bis 1844 bereits auf 848.737 Daß in den 1830er Jahren 731 Vgl. dazu Abschnitt 2.2.1.1. in diesem Kapitel 732 Vgl. Anhang 8 733 Die Zahlen für die 1780er und die 1790er Jahre ergeben sich aus der Aufstellung in Anhang 2 734 Vgl. Anhang 8 735 Vgl. ebd. Im einzelnen aufgeführt sind die Zahlen in Anhang 7 736 Vgl. Anhang 8 737 Vgl. Abschnit 1.1. in diesem Kapitel 247 mehr Paare in Kaltensundheim als zuvor heirateten, steht entsprechend nicht im Zusammenhang mit erweiterten Handlungsspielräumen und Heiratschancen. Über sie geben auch nicht die Eheschließungen, sondern erst die Lediggebliebenen im Dorf Aufschluß. Deren, vor allem bei den Frauen, steigende Zahl zeigt, daß eine Heirat während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und ebenfalls bereits in den 1790er Jahren hier weniger selbstverständlich war als zuvor und auch später. Dabei ist die Frage nach den Lediggebliebenen und ihrem zahlenmäßigen Verhältnis zu den Verheirateten allerdings nur sehr vage und mit einigem Aufwand zu beantworten. Über die Sterbebücher sind die Unverheirateten zwar zu ermitteln; ihr Todeszeitpunkt sagt aber zunächst wenig aus. Probleme resultieren im weiteren vor allem daraus, daß ein Zeitraum festzulegen ist, in dem sich der Ledigenstatus manifestierte. Weil sich das in der anschließenden Aufstellung zusammengefaßte Ergebnis seiner Entstehung nach nicht unmittelbar erschließt und sicher auch Anlaß für Einwände geben kann, sind zunächst einige Erklärungen notwendig: Ausgegangen wird hier davon, daß eine Eheschließung der Ledigen im dritten Lebensjahrzehnt, im Alter zwischen 20 und 29 Jahren, am wahrscheinlichsten gewesen wäre.738 Entsprechend wurden unter den Sterbefällen nur die unverheirateten Frauen und Männer berücksichtigt, die mindestens 30 Jahre alt wurden.739 Der Beginn des untersuchten Zeitraums, das Jahr 1780, erfaßt alle in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts geborenen Ledigen, die dreißigjährig oder älter starben und ermöglicht einen Vergleich mit den späteren Zahlen. Das Ende des Untersuchungszeitraums, das Jahr 1920, gewährleistet einen Überblick über alle740, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert im “wahrscheinlichsten Heiratsalter” von 20 bis 29 Jahren ledig blieben. 738 Diese Annahme orientiert sich am Heiratsalter der Webertöchter in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Es war in 65 von 99 Fällen angegeben. Die Mehrheit dieser Frauen, 42, heiratete im Alter von 20 bis 29 Jahren. (Vgl. Anhang 9) 739 Zu berücksichtigen ist allerdings, daß eine Heirat in höherem Alter zwar unwahrscheinlicher, deshalb aber nicht auszuschließen war. Von den in vorstehender Anmerkung genannten 65 Webertöchtern heirateten immerhin 19 erst dreißigjährig oder älter. (Vgl. Anhang 9) Zum Vergleich kann die Untersuchung von Schlumbohm (1994) angeführt werden: Im Kirchspiel Belm nahm die Zahl lediger Frauen, die Schlumbohm auf der Grundlage des Zensus zunächst für das Jahr 1812 ermittelt, bei den über Dreißigjährigen ebenfalls deutlich ab, ihr Anteil an den 30-34jährigen betrug aber noch 8,2%, der an den 35-39jährigen 9,2%. Bei den Männern war 1812 sogar noch gut ein Viertel der 30-34jährigen ledig, von den 35-39jährigen noch 9%. Die Volkszählung des Jahres 1858 ergab dann mehr ledige Frauen und Männer in höherem Alter. (Vgl. ebd., S.642ff und die Diskussion der Tabelle auf S.137ff) Das spricht eventuell für die Zunahme von dauerhaft Ledigen, die es auch in Kaltensundheim im 19. Jahrhundert gab. Die Zahlen bei Schlumbohm sprechen aber auch für die Entwicklungen des Heiratsalters, deren Berücksichtigung auf der Grundlage der unvollständigen Altersangaben bei den heiratenden Webertöchtern Kaltensundheims hier nicht möglich war. 740 Abgesehen natürlich von den Ledigen, die den Ort verliessen. 248 Zwischen 1780 und 1920 starben 93 ledige Frauen und 66 ledige Männer im Alter von mindestens 30 Jahren in Kaltensundheim.741 Das “wahrscheinlichste Heiratsalter” erreichten die meisten von ihnen zwischen den 1790er Jahren und 1850. Nach Jahrzehnten zugeordnet, ergibt sich für diesen Zeitraum folgende ungefähre Verteilung:742 Zeitraum lediggebliebene Frauen im ´wahrscheinlichsten Heiratsalter´ lediggebliebene Männer im ´wahrscheinlichsten Heiratsalter´ Zahl der Eheschliessungen 1791-1800 10 6 54 1801-1810 6 5 58 1811-1820 19 8 54 1821-1830 7 6 53 1831-1840 12 5 67 1841-1850 9 7 60 Während in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts 294 Paare im Dorf heirateten, blieben nach der dargelegten Berechnung in dieser Zeit insgesamt 53 Frauen und 31 Männer im “wahrscheinlichsten Heiratsalter” ledig. Dabei lagen die Zahlen bei den Männern über die Jahrzehnte einigermaßen konstant und auch jeweils unter denen der Frauen. Für die Frauen hingegen scheint es vor allem im zweiten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts schwierig gewesen, eine Ehe zu schließen. In dieser Zeit waren unter anderem die drei lediggebliebenen Töchter aus der Schuhmacherfamilie von Anna Ottilia Porz I und die ältere der beiden unverheirateten Töchter des Webers Johann Martin Porz im “wahrscheinlichsten Heiratsalter.” 743 Bei Regina Elisabetha und ihrer Schwester, Anna Maria I, fiel es in die 1830er Jahre, in denen 741 Zu den lediggebliebenen Frauen vgl. Anhang 11. Unter ihnen waren 23, die im Alter zwischen 30 und 40 Jahren starben. Zu den lediggebliebenen Männern vgl. Anhang 13. Unter ihnen waren 15, die zwischen dem 30. und 40. Lebensjahr starben. 742 Zur Verteilung der Ledigen im “wahrscheinlichsten Heiratsalter” auf die vorangegangenen und späteren Jahrzehnte vgl. die vollständige Tabelle in Anhang 15. Die Zuordnung gibt die Verhältnisse nur sehr ungenau wieder, weil das dritte Lebensjahrzehnt der Ledigen meist in zwei Jahrzehnte fiel, sie aber nur jeweils einem Jahrzehnt zugerechnet wurden. Im Einzelfall entschieden wurde die Zuordnung wie folgt: Lag das dritte Lebensjahrzehnt beispielsweise zwischen 1805 und 1815, wurde die Person noch dem Zeitraum von 1801-1810 zugewiesen. Begann das dritte Lebensjahrzehnt im Jahr 1806, dann erfolgte die Zuordnung im Zeitraum von 1811-1820. 743 Die Lebensdaten der Frauen sind in Überblick V, S.220, angegeben. 249 es um Chancen im ´Heiratsfeld´ für die Frauen wiederum schlecht und scheinbar schlechter bestellt war als für die Männer. Wie zu erwarten, da die Weber die größte Berufsgruppe im Dorf stellten, waren unter den lediggebliebenen Frauen vor allem Webertöchter.744 Unter den Vätern der 53 Frauen, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts im “wahrscheinlichsten Heiratsalter” waren, gab es 27 Weber.745 Von den 19 Frauen, bei denen eine Eheschließung am ehesten im Zeitraum von 1811 bis 1820 erwartbar war, kamen zwölf aus einer Weberfamilie. 15 Webertöchter heirateten in dem Jahrzehnt. Zwischen 1831 und 1840 waren es 26. Mit Regina Elisabetha und Anna Maria Porz I blieben dann fünf weitere Frauen, die einen Weber zum Vater hatten, ledig. Daß gleich mehrere Kinder ledig blieben, ließ sich für insgesamt 13 Familien feststellen.746 Meistens waren es zwei, in einem Fall auch vier Töchter. Aus neun Familien gingen unverheiratete Geschwister hervor, für die eine Eheschließung vor allem in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts anzunehmen gewesen wäre.747 Zu ihnen gehörten die Familien von Johann Christoph und von Anna Ottilia Porz I.748 Bei aller Ungenauigkeit in der Berechnung zeigt sich doch immerhin, daß Regina Elisabetha als Ledige nicht zur Ausnahme in Kaltensundheim wurde.749 Gleichzeitig gehörten die Töchter der ´Porzens´ zu einer Minderheit im Dorf. Und warum gerade sie zu den lebenslang Unverheirateten gehörten, erklärt deren insgesamt steigende Zahl allein nicht. Zu vermuten ist in jedem Fall wohl ein Zusammenhang mit den Besitz- und Vermögensverhältnissen der Familie. Im Kirchspiel Belm kamen die Frauen, die 45jährig oder älter noch ledig waren, 1858 “(...) fast alle aus landlosen 744 Bei 79 von insgesamt 93 Frauen war der Beruf des Vaters angegeben. 45 von ihnen kamen aus einer Weberfamilie. (Vgl. Anhang 12) - Bei den lediggebliebenen Männern war es vermutlich ähnlich, wobei hier weniger Angaben vorliegen. Die Berufe, die sie ausübten, waren in 38 von 66 Fällen angegeben, die Berufe ihrer Väter in 31 Fällen. 15 unverheiratete Männer waren Weber, neun kamen aus einer Weberfamilie. (Vgl. Anhang 14) 745 Diese und die nachstehenden Zahlen lassen sich auf der Grundlage der Angaben in Anhang 11 errechnen. 746 Wobei ungeklärt ist, in wievielen Familien, aus denen ein unverheirateter Sohn oder eine ledige Tochter hervorging, weitere Nachkommen existierten. Verweise auf unverheiratete Geschwister lediger Frauen und Männer finden sich in Anhang 11 und Anhang 13 747 Diese Zahl läßt sich auf der Grundlage der Angaben in Anhang 11 und Anhang 13 errechnen. 748 Die Familie von Johann Martin Porz gehörte in der Aufstellung nicht dazu, obwohl seine beiden Töchter ebenfalls ledig blieben. Da eine von ihnen noch 29jährig starb, ist sie unter den lediggebliebenen Frauen in Anhang 11, der erst 30jährige berücksichtigt, nicht aufgeführt. 749 Wobei auch Rahmen des “european marriage pattern”, neben dem hohen Heiratsalter, der lebenslange Ledigenstatus nicht untypisch ist. Vgl. Schlumbohm 1994, S.137, zum europäischen Heiratsmuster vgl. Mitterauer 1983 250 Familien”.750 Besitz hat auch Medick als für die Laichinger Bevölkerung insgesamt “(...) bestimmende Größe in der Differenzierung des Heiratsalters (...)”751 herausgearbeitet. Entsprechend unterschied sich das Heiratsalter der Laichinger nicht nur zwischen verschiedenen, sondern auch innerhalb der Erwerbsgruppen. Am Beispiel der vor allem zahlreichen Weber des Ortes belegt Medick “(...) die möglichen Verkürzungen einer nur berufsspezifisch orientierten Auswertung (...)”. 752 Darauf, daß die kaltensundheimer Weber ebenfalls keine homogene Gruppe bildeten, deuten in dem Zusammenhang auch die Unterschiede im Heiratsalter ihrer Töchter während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.753 Die Ehelosigkeit der Töchter von Johann Christoph Porz entsprach demnach der unterprivilegierten Position der Familie, die sie unter anderem mit dem Schuhmacher Johann Peter Markert teilte, einem der Angehörigen einer anderen Berufsgruppe in der Verwandtschaft, dessen drei Töchter ledig blieben. Bereits bei Kindern aus Familien, die immerhin noch über ein eigenes Haus oder Anteile daran verfügten, war eine Eheschließung oft erst nach dem Tod der Eltern und bei Übernahme ihrer Wohnung möglich, weil “(...) Häuser (...) nur in seltenen Fällen auf dem freien Markt zu erwerben (waren)”.754 Die Besitzarmut der ´Porzens´, die ihren Töchtern keinen Raum zur Verfügung stellen konnten, um einen eigenen Hausstand zu gründen, hinderte sie auch insofern an einer Ehe. Hinzu kamen die im weiteren Handlungsfeld, noch relativ unabhängig von den verfügbaren Finanzen der Familie, begrenzten Chancen, ein Haus zu erwerben oder sich darin einzumieten. Der für Kaltensundheim seit den 1830er Jahren belegte Bevölkerungsanstieg läßt zunehmende Wohnungsnot vermuten. Zumindest blieb die zwischen 1846 und 1874 um 119 Bewohner gewachsene Gemeinde gleichbleibend auf 168 Wohnhäuser verteilt.755 Zu berücksichtigen ist schließlich ebenfalls, daß die Entscheidung über eine Eheschließung nicht nur nach dem Willen der Paare fiel, sondern unter anderem auch heiratspolitischen Beschränkungen unterlag.756 Von diesen und anderen Problemen 750 Schlumbohm 1994, S.139 751 Medick 1997, S.318 752 Ebd., S.323. Zum Zusammenhang von Heiratsalter und Besitz der Weber vgl. ebd., S.322 753 Vgl. Anhang 9 754 Medick 1997, S.328 755 Vgl. Abschnitt 1.1. in diesem Kapitel 756 Inwieweit sie die Paare in Kaltensundheim konkret an der Eheschließung hinderte, ist allerdings offen. Zur “Grenze” der Bereitschaft von Männern und Frauen im Kirchspiel Belm, “(...) über die hinaus sie nicht bereit waren, sich obrigkeitlichen Einschränkungen oder aber den Pressionen des 251 berichtet der spätere Bürgermeister Kaltensundheims, Cyriax Walter, in seinem Tagebuch: Zunächst verwehrten die Eltern seiner Verlobten Christine ihre Zustimmung zur Heirat, “(...) und wir mußten uns fügen. So kam es, daß unsere 1.ste Tochter Maria, geb. am 2. Decb 1831, vor unserer Trauung das Licht der Welt erblickte.”757 Da Cyriax Walter auch “im Eltern Hause (...) keine Stütze (fand), auch keine Ruhe (...),” begann er seine “eigene Wirtschaft” in gemietetem “Quartier”. Vom “Ober Konsistorium zu Eisenach” erhielt er schließlich noch 1831 “(...) den fehlenden Elterlichen Causens” für eine Ehe mit Christine. “Hiermit glaubte ich, alles gewonnen zu haben, ich wurde Meister und gedachte, mich sofort Trauen zu laßen, allein ich hatte mich sehr geirrt, jetzt trat das H. Schutzamt wegen fehlenden Vermögens entgegen, und ich wurde mit der Trauung abgewiesen; jetzt stand ich wieder auf dem alten Fuße, und ich entschloß mich, die Sache dem ferneren Schicksal zu überlaßen.” Erst im Sommer 1833 erhielt Cyriax Walter dann, begünstigt dadurch, daß “ein neuer Amtmann (...) nach Kaltennordheim (kam), (...) die Trauerlaubnis”, und konnte Christine noch heiraten, bevor das gemeinsame zweite Kind geboren wurde.758 Daß Regina Elisabetha ledig blieb, ist primär den familiären Besitzverhältnissen und, sofern noch ihrem ´persönlichen Stil´, wohl kaum einem gegenüber den Vorfahren geänderten Habitus ´zuzuschreiben´. Kilian Porz schloß seine Ehe 1759, in einer Zeit, in der kaum jemand im Dorf auf Dauer unverheiratet blieb.759 Für seine Kinder wurde es bereits schwieriger, auf ´legitimem´ Weg eine Familie zu gründen.760 Johann Christoph heiratete spät, die Ehe seiner Schwester Eva Margaretha kam vielleicht nicht allein aufgrund ihrer Schwangerschaft zustande, wurde aber wohl aus diesem Anlaß geschlossen. In der vierten Generation, die den lediggebliebenen Frauen der Familie folgte, blieb eine Heirat schwierig, gelang den wenigen der unehelich geborenen Kinder, die das Erwachsenenalter erreichten, dann aber doch. Zumindest die beiden überlebenden Kinder von Regina Elisabetha heirateten, und auch die uneheliche Tochter von Anna Elisabetha II, die zur Schuhmacherfamilie von Anna Ottilia Porz I und Johann Peter Markert gehörte, schloß 1843 eine Ehe mit einem Schuhmacher. Insgesamt lag die Zahl der dauerhaft Unverheirateten nach 1860 in Kaltensundheim wieder so niedrig wie sie bis 1760 Marktes zu beugen” und den Möglichkeiten, sie zu umgehen, vgl. die Hinweise bei Schlumbohm 1994, S.112 757 Walter o.J., S.138 758 Ebd. 759 Vgl. Anhang 15 760 Vgl. Anhang 15. Das “wahrscheinlichste Heiratsalter” der Töchter von Kilian Porz lag in den 1870er, das der Söhne in den 1790er Jahren. 252 gewesen war.761 Allerdings wanderten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch Dorfbewohner ab, unter ihnen vermutlich vor allem junge Leute.762 Zu den Folgen der erwerbsmäßig zunehmend begrenzten Handlungsspielräume in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gehörten nicht nur häufiger verzögerte Heiraten und vergleichsweise viele Frauen und Männer, die keine Ehe schlossen. Im gleichen Zeitraum stieg auch die Zahl der unehelichen oder “illegitimen” Kinder. Dies nicht nur in Kaltensundheim. Insgesamt “(lag) Deutschland (...) hinsichtlich der Illegitimität unter den europäischen Ländern im 19. Jahrhundert ziemlich weit vorne. (...)”.763 Und Gerhard Schildt nennt im weiteren dann auch Thüringen als ein Gebiet mit “relativ hoher Unehelichkeit”.764 In sozialer Hinsicht war Illegitimität vor allem in den Unterschichten verbreitet.765 Entsprechendes galt auch für “schwangere Bräute”.766 Bei den Angehörigen der ´Porzens´ waren die unehelichen Kinder überwiegend Nachkommen der dritten Familiengeneration: 761 Vgl. Anhang 15 762 Einzuschränken ist ebenfalls, daß die Sterbefälle nur bis 1920 berücksichtigt sind. Unter den später Verstorbenen waren eventuell noch Ledige, deren “wahrscheinlichstes Heiratsalter” in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts lag. 763 G. Schildt 1983, S.26 764 Ebd. 765 Vgl. ebd., S.30 766 Vgl. Schlumbohm 1994, S.129. Im osnabrückischen Kirchspiel Belm waren Frauen bereits im 17. Jahrhundert häufig schwanger, wenn sie heirateten. Ihr Anteil sank Mitte des 18. Jahrhunderts nur vorübergehend und blieb in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hoch. (Vgl. ebd., S.125) In Kaltensundheim waren voreheliche Konzeptionen, jedenfalls nach den Kirchenbüchern zu urteilen, bis Ende des 18. Jahrhunderts selten. 253 Die Entwicklungen in der Familie, deren ledige Frauen keine Ausnahme im Dorf bildeten, waren auch im Blick auf ihre unehelichen Kinder nicht ungewöhnlich. Sie wurden zwischen 1810 und 1860, und damit während der Zeit geboren, in der es zahlreiche ledige Mütter im Dorf gab. Sie kamen häufig aus Weberfamilien.767 Und auch unter den lediggebliebenen Frauen war Regina Elisabetha Porz kein Einzelfall. Bei 33 der 93 Frauen, die zwischen 1780 und 1920 im Alter von 30 oder mehr Jahren unverheiratet starben, war angegeben, daß sie Kinder hatten.768 Da überwiegend nur die noch lebenden Nachkommen notiert waren, lag die Zahl der Mütter unter den lediggebliebenen Frauen vermutlich um einiges höher. Mehrheitlich schließlich kamen die ledigen Mütter wohl aus Weberfamilien. Darauf deuten die vorhandenen Angaben, denen zufolge 20 von 31 Müttern, bei denen in der Herkunftsfamilie ausgeübte Berufe eingetragen waren, einen Weber zum Vater hatten.769 Von den ledigen sowie den lebenslang unverheirateten Müttern im Dorf und der eigenen Verwandtschaft unterschied sich Regina Elisabetha dann durch die Anzahl ihrer Kinder, die eher eine Ausnahmeerscheinung in Kaltensundheim war. Es gab zwar mindestens noch drei andere Frauen mit fünf bzw. sechs unehelichen Kindern770; zwei von ihnen allerdings lebten dauerhaft mit ihrem Partner zusammen, der dann auch jeweils Vater aller Kinder der Frau war. 767 Vgl. Anhang 10 768 Vgl. Anhang 12 769 Vgl. ebd. 770 Mit einer von ihnen, Ursula Elisabetha Rauch, standen die ´Porzens´ auch in engerer Verbindung. Vgl. vorangegangenen Abschnitt 2.2.1.4. 254 In den 1780er und 1790er Jahren lag der Anteil der unehelichen an den insgesamt geborenen Kindern in Kaltensundheim noch bei jeweils etwa 5%.771 Der steigende Anteil im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts bedeutete dann absolut ebenfalls noch keine nennenswerte Zunahme. Es wurden 15 uneheliche Kinder geboren, in den 1790er Jahren waren es zwölf. Allerdings ging die Zahl der Geburten nach 1800 deutlich zurück, auf insgesamt 193 gegenüber 279 im Jahrzehnt zuvor.772 Nach 1810 stieg die Zahl der Geburten, und vor allem die der unehelichen.773 Von 224 zwischen 1811 und 1820 geborenen Kindern waren 48, mehr als 20%, “illegitim”. Sowohl absolut wie anteilig blieben die unehelichen Geburten der 1820er und 1830er Jahre hinter diesen Zahlen zurück. Im zweiten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts waren auch besonders viele der lediggebliebenen Frauen Kaltensundheims im “wahrscheinlichsten Heiratsalter”.774 In den 1820er und 1830er Jahren kamen weniger uneheliche Kinder (38 bzw. 39) bei gleichzeitig steigenden Geburtenzahlen zur Welt. Zwischen 1841 und 1850 wurden dann, bei gegenüber dem vorangegangenen Jahrzehnt etwa konstanter Geburtenzahl, wieder mehr illegitime Kinder geboren. Es waren 58, ihr Anteil lag erneut bei etwa 20%. Etwa entsprechend hoch lagen die Zahlen auch Anfang der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch. Daß die Zahl der unehelichen Geburten noch in den 1850er Jahren, nach Einführung der Plüschweberei, hoch blieb, scheint zunächst für diejenigen zu sprechen, die die häufig noch im 18. Jahrhundert gestiegene Zahl illegitimer Geburten als Ausdruck einer “sexuellen Revolution”, eines “radikalen Mentalitätswandel(s)” und auch aufgehobener “äußere(r) wie innere(r) Zwänge” vor allem bei den Frauen verstehen.775 Dieser Position ist zu widersprechen, weil sie die materiellen Grundlagen und deren Beziehung zu Handlungsmotiven und -strategien nicht hinreichend 771 Vgl. Anhang 10 772 Vgl. ebd. In den 1790er Jahren wurden auch mehr Kinder als in den 1780er Jahren (insges. 224) geboren. Bei den Eheschließungen war das Verhältnis umgekehrt. Gegenüber 44 Heiraten in den 1770er Jahren stieg die Zahl in den 1780er Jahren auf 65 und ging im anschließenden Jahrzehnt auf 54 zurück. (Berechnung auf der Grundlage der Angaben in Anhang 2) Die hohe Geburtenzahl in den 1790er Jahren war demnach vermutlich noch eine Folge der im Jahrzehnt zuvor gestiegenen Heiratszahlen. 773 Zu den anschließenden Zahlen vgl. Anhang 10 774 Wobei Schlumbohm für das Kirchspiel Belm feststellen konnte, daß uneheliche Geburten nicht jederzeit mit einem hohen Heiratsalter der Frauen korrespondierten. (Vgl. Schlumbohm 1994, S.130f) 775 Vgl. G. Schildt 1983, S.89. G. Schildt faßt die Diskussion und unterschiedliche Positionen, die hier im einzelnen nicht näher ausgeführt werden, zusammen. (Vgl. ebd., S.86ff) 255 berücksichtigt. Zwar wird der Zusammenhang zwischen “höherer sexueller Aktivität und steigender Illegitimität”776 zum Handlungsmotiv der Frauen hergestellt und ist insoweit noch plausibel. Dieses Motiv allerdings wird zum einen “(...) im Drang zu individueller Selbstverwirklichung” gesehen, die “traditionelle Normen und Gemeinschaftsbindungen” auflöst.777 Zum anderen wird “(...) die zunehmende Zahl unehelicher Geburten” im weiteren als “ein Zeichen der Frauenemanzipation” gedeutet.778 Beides scheint im Hinblick auf das konkrete Handlungsfeld wenig schlüssig. Möglichkeiten selbstbestimmter Lebensführung waren an bestimmte Voraussetzungen gebunden und nur in bestimmten Grenzen erreichbar. Abgesehen davon, daß uneheliche Kinder die Mütter Diskriminierungen aussetzten und ihre Chancen auf ein unabhängiges Leben nicht unbedingt beförderten, konnte der Wunsch danach auch kaum die Lösung aus tradierten Verhältnissen und Lebensformen beinhalten. Dazu gab es zumindest bei den kaltensundheimer Webern und den ´Porzens´ unter ihnen keine Chance und damit auch keinen Anlaß. Selbstbestimmung war an eine Heirat als Voraussetzung für ein besseres Einkommen und die Unabhängigkeit von den Eltern oder auch der Gemeindeunterstützung gebunden. Dafür, daß Heiratsabsichten relevant blieben, sprechen auch die Entwicklungen in Kaltensundheim. Die mit der Plüschweberei seit der Mitte der 1850er Jahre erweiterten Handlungsspielräume beförderten zwar zunächst scheinbar keinen Rückgang der illegitimen Geburten, der aber über verbindlichere Beziehungen schließlich doch eintrat. Die Zahl der Eltern unehelicher Kinder, die nach deren Geburt heirateten, stieg seit 1855.779 Dies spricht für die Auffassung, die sich deutlich dagegen wendet, steigende Illegitimität als Resultat von Frauenemanzipation und “sexueller Revolution” zu deuten. Sie geht auch nicht von einem “veränderte(n) Sexualverhalten” aus. ”Vielmehr seien traditionelle Verhaltensweisen beibehalten worden, die unter veränderten Strukturen zu einem Anwachsen der Illegitimität geführt haben.”780 Dieser Position ist insgesamt eher zuzustimmen, weil sie stärker das Feld berücksichtigt. Es scheint hier aber dann ebenfalls die komplexe Beziehung zum Habitus und vor allem zu seinen jeweiligen Besonderheiten nicht ausreichend hergestellt. 776 Ebd., S.89. G. Schildt referiert hier insbesondere die “(...) meist kritisch bis ablehnend” (ebd.) aufgenommene Position Edward Shorters, die der “sexuellen Revolution” der 1960er Jahre analoge Entwicklungen in den seit dem 18. Jahrhundert steigenden Illegitimitätszahlen annimmt. 777 Ebd., S.87 778 Ebd. 779 Vgl. Anhang 10 780 G. Schildt 1983 , S.88. G. Schildt bezieht sich hier auf die von Louise Tilly, Joan W. Scott und Miriam Cohen bezogene Gegenposition zu Shorter. 256 Festzuhalten ist zunächst, daß, wenn die Voraussetzungen zur Unehelichkeit der Kinder einerseits eher im Feld mit seinen materiellen und politisch bedingten Handlungsspielräumen als im “radikal” gewandelten Habitus lagen, die Praktiken deshalb andererseits noch kein bloßer Reflex auf das Feld und seine Möglichkeiten waren. Tobias Rauch und Anna Maria Porz II gehörten zu denen, die erst als Eltern gemeinsamer Kinder heirateten. Ihre, der 1863 geschlossenen Ehe, vorausgegangene Familiengründung wurde durch die Plüschweberei zwar begünstigt. Die Verbindlichkeit ihrer Beziehung hing vermutlich aber nicht allein an dieser Bedingung, sondern entsprach auch den mit dem Habitus verbundenen Vorstellungen von ´Ehrbarkeit´ bei Tobias Rauch. Das Beispiel spricht für die Bedeutung des Habitus, deutet zugleich aber auch darauf, daß beibehaltene Motive durchaus variabel praktiziert werden konnten. Tobias Rauch vereinbarte seine vermutlich von der Herkunftsfamilie übernommenen Vorstellungen von Beziehungen mit unehelichen Kindern, die es unter seinen direkten Vorfahren und vermutlich auch in deren Vorstellung nicht gab. Entsprechende Varianten, die auf Habitusmetamorphosen verweisen, sind auch bei den Frauen nicht auszuschließen. Veränderungen im Sexualverhalten und Ehewunsch müssen einander nicht widersprochen haben. Denkbar ist, daß Regina Elisabetha bei geringen Chancen auf Ehe und ein selbständiges Leben vielleicht eher als ihre Vorgängerinnen in der Familie bereit war, über die Aufnahme sexueller Beziehungen Heiratsabsichten zu verfolgen. Schließlich war der Heiratswunsch nur ein Motiv, auf das sich die Praxis nicht reduzieren läßt. In dem Zusammenhang ist dann auch zu überlegen, ob die sexuellen Beziehungen, die Regina Elisabetha Porz unterhielt, dauerhaft an Möglichkeiten einer Eheschließung orientiert waren. Daß sie sich beispielsweise von der Beziehung zum Bauern Erasmus Danz, dem Vater von Caspar, ihrem fünften Kind, daß 1846 geboren wurde, eine Ehe versprach, ist nicht auszuschließen, den Bedingungen nach aber auch nicht zwingend anzunehmen. Erasmus Danz, Vater von vier bereits herangewachsenen Kindern, war immerhin verheiratet. Eine Ehescheidung war zwar möglich, eine Ehe mit Regina Elisabetha Porz aber kaum angestrebt. Längerfristige wäre dazu Gelegenheit gewesen. Erasmus Danz´ Ehefrau starb zwei Wochen nach der Geburt von Caspar. Ihr Tod war, auch wenn ihm eine längerfristige Krankheit vorausging, für Regina Elisabetha vermutlich nicht absehbar, als sie die Beziehung zum Bauern aufnahm. Anzunehmen, daß Regina Elisabetha schließlich nicht mehr nur orientiert an Heiratsabsichten sexuelle Beziehungen einging, heißt nicht, daß ihr eine Ehe nicht 257 wichtig gewesen wäre. Mit dem Alter und zugleich zunehmenden Problemen, den Lebensunterhalt zu bestreiten, rückte die Bedeutung einer Heirat vielleicht sogar noch verstärkt in den Blick. Gleichzeitig wurden unter diesen Bedingungen die Chancen geringer. Mangelhafte Aussichten führten dann aber nicht ohne weiteres zur ´Selbstdisziplinierung´ und zum völligen Verzicht auf ein Sexualleben. In dieser Variante kamen weder gravierender Habituswandel noch Emanzipation zum Ausdruck, sondern der Versuch, ohne langfristige Perspektiven wenigstens kurzfristig sich bietende Gelegenheiten zu nutzen, den eigenen Bedürfnissen zu folgen. Eine andere Möglichkeit, Habitus und Feld zu arrangieren, gab es kaum, und sie schien auch wenig sinnvoll. Es gab für Regina Elisabetha nicht viel zu verlieren. Respektabilität und eine selbstbestimmte Lebensführung waren bei zunehmender Kinderzahl,781 geringem Einkommen und ohne Besitz nicht erwartbar und auch in der Herkunftsfamilie schon nicht gewährleistet. Der Verzicht auf das Sexualleben hätte daran vermutlich kaum etwa ändern können, und zumindest in jungen Jahren innerhalb des eigenen Sozialmilieus eventuell eher noch die Chancen auf eine eigene Familie und Anerkennung reduziert. Mit der Beziehung zum Bauern Danz schließlich war zwar das Risiko eines weiteren unehelichen Kindes verbunden, das unter anderem Kosten verursachte. Und in dieser Hinsicht gab es für die ledige Mutter schon noch etwas zu verlieren. Praktisch aber versprach diese Beziehung vielleicht auch Gewinn, wenn Regina Elisabetha mit ihrer Hilfe die Konkurrenz aus dem Feld schlug, mit der sie gemeinsam auf Beschäftigungsmöglichkeiten in der Landwirtschaft angewiesen war. Dies muß dann, ebenso wie die Folgen der sexuellen Beziehungen, ein Leben als ledige Mutter, von Regina Elisabetha nicht intendiert gewesen sein. Praktisch muß auch nicht der Fall gewesen sein, daß die Beziehung zu dem Bauern ihr Vorteile verschaffte. Daß es nur ebenso im ´Feld des Möglichen´ lag wie eine Heiratsabsicht, deutet noch einmal an, daß sich Handlungsstrategien ihr allein nicht unterordnen lassen. Letztlich erklärt die pauschale Annahme eines weithin geltenden Ehewunsches die konkrete Praxis und unterschiedliche Handhabungen nicht. Es gab sicherlich auch weiterhin Frauen in Kaltensundheim, die keine vorehelichen Sexualbeziehungen eingingen, und unter den Frauen, die sie aufnahmen, war die Bereitschaft dazu eventuell auch nicht gleichermaßen an bestimmte Bedingungen gebunden. Wie die Praxis insgesamt, entsprach auch das Sexualverhalten dem spezifischen Habitus und seinen Dispositionen: 781 Den Zusammenhang zwischen Sexualität und “weiblicher Ehre” thematisiert, allerdings am Beispiel des 16. Jahrhunderts, Burghartz (1992). 258 Der Zusammenhang zwischen der Unmöglichkeit langfristiger Planung und kurzfristig genutzten Gelegenheiten läßt sich bei den ´Porzens´ nicht erst für das Sexualleben von Regina Elisabetha herstellen. Durch die Gelegenheitsorientierung als eine handlungsleitende Strategie waren unterschiedliche Erscheinungen in der Familie, wie Umzüge, Tagelohn und die Beziehungspraxis, schon seit der Generation der Eltern von Kilian Porz, und vermutlich noch länger, ihrem Wesen nach systematisch miteinander verbunden. Motiviert wurden diese Orientierung und die verschiedenen Praktiken in jedem Fall durch die Besitzarmut der Familie, die zunächst zur räumlichen, dann zur beruflichen Flexibilität und schließlich auch zur Ehelosigkeit der Töchter entscheidend beitrug. Bei Kilian Porz und in seiner Herkunftsfamilie boten sich zwar noch bessere Gelegenheiten zu existieren, sie waren aber auch da nicht selbstverständlich und unmittelbar gegeben. Die häufigen Ortswechsel in relativ kurzen Abständen deuten dann bei Johann Christoph darauf, daß er schon als Weber verstärkt nach ausreichenden Erwerbsmöglichkeiten suchen mußte. Daß Umzüge, gegen die später auch Altersgründe sprachen, zunehmend sinnlos wurden und in keinem Verhältnis zu dem mit ihnen verbundenen Aufwand standen, erforderte schließlich eine Alternative vor Ort. Aus der Perspektive der Gelegenheitsorientierung war diese berufliche Umstellung auf den Tagelohn bei Johann Christoph Porz dann nur eine Variante der räumlichen Mobilität der Familie. Das Leben im ´Hier und Jetzt´ hatte ebenfalls Folgen auf der Ebene der Vergemeinschaftungspraxis der ´Porzens´. Ihre Besitzarmut begrenzte nicht nur den Einfluß der Eltern auf die Lebensplanung ihrer Kinder. Mit der räumlichen Mobilität, die sie verursachte, war zugleich die ganze Familie verstärkt der sozialen Kontrolle entzogen. Und vor allem beförderte sie zwangsläufig auch unbeständige und gelegenheitsorientierte Beziehungen. Die Töchter von Johann Christoph Porz praktizierten mit ihren eher flüchtigen Beziehungen zu Männern dazu dann wiederum nur eine Variante. Insgesamt entsprach der Beziehungsstruktur der relevanten Merkmale und ihrer Entwicklung ein Habitus der ´Porzens´, dessen Strategien primär am Einkommen orientiert und in dem Zusammenhang notwendigerweise auch familienorientiert und flexibel waren. Die Flexibilität schloß berufliche Umstellungsbereitschaft, innerfamiliär variable Arbeitsteilungen und außerfamiliär wechselnde Beziehungen ein. Dabei widerspricht “die Notwendigkeit weitgetriebener Unterordnung”, die zu den “prägenden Erfahrunge(n)” einer Magd gehörte782, der Möglichkeit, daß Regina 782 Kocka 1990b, S.148 259 Elisabetha im Dienst im fremden Haus stand, keineswegs. Im Gegenteil waren Gesinde und Webern mit der häufig geteilten Armut dann auch verschiedene Merkmale der Lebensführung gemeinsam. Bei den ´Porzens´ waren Ziel und Möglichkeiten, ein selbstbestimmtes Leben führen zu können, vor allem im 19. Jahrhundert mit Abhängigkeiten unauflöslich verbunden. Geringfügige Chancen auf Autonomie und eventuell auch Anerkennung gab es für die Familie vielleicht vorübergehend im 18. Jahrhundert. Nachdem aber bereits in der Herkunftsfamilie von Kilian Porz die Entscheidung über den Wohnort nicht allein dem ´freien Willen´ unterlag, sondern entlang der spezifischen Voraussetzungen und Erwerbsmöglichkeiten im Feld fallen mußte, gerieten Kilian und seine Familie dann zunehmend in Abhängigkeit vom Verleger. Die Entscheidungen darüber müssen den Angehörigen nicht leichtgefallen sein, waren aber im Sinne des Arrangements mit den gegebenen Möglichkeiten überlebensnotwendig. Letztlich mußten die ´Porzens´ auch im 18. Jahrhundert ihre Wünsche nach Selbständigkeit und Respektabilität zurückstellen. 260 2.3. Respektabilität der Schmiede und Gelegenheitsorientierung der Weber: Habitusdifferenzen und Grundmuster sozialer Kohäsion in den kaltensundheimer Herkunftsfamilien von Richard Schmidt Nicht anders als die Schmiedefamilie, hatten auch die ´Porzens´ ihre langfristig erfahrenen Möglichkeiten und Grenzen inkorporiert. Während Johann Christoph Porz 1835 im Tagelohn arbeitete, wurde Johann Adam Rauch im Jahr 1836 erstmals als Ölhändler im Kirchenbuch erwähnt.783 Beides lag demnach im ´Feld des Möglichen´. Daß sich der eine für die selbständige, der andere für die abhängige Arbeit entschied, war kaum zufällig, sondern entsprach der Differenz im Habitus der ´Porzens´ und der Rauchs, die auch im sozialen Abstieg überdauerte. Für Johann Christoph Porz war der Tagelohn das Naheliegendste. Die Erfahrungen seiner Familie, infolge mangelnden Besitzes vor allem auf Erwerbsgelegenheiten angewiesen zu sein, liessen vergleichsweise wenig Raum sowohl für ein ausgeprägtes Berufsethos als auch dafür, Entscheidungen nach eigenen und anderen Kriterien als dem Einkommen zu treffen. In diesem Sinne beförderten die Erfahrungen eine eher außengeleitete Handlungsstrategie. Die ´Porzens´ führten ein eher improvisiertes als langfristig geplantes Leben. Die Barchentweberei ermöglichte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zwar ein stückweit verläßlichere Verhältnisse, die aber selbst während dieser Zeit vermutlich nicht ausreichten, durch den Erwerb von Land vergleichsweise stabile Zukunftsperspektiven zu eröffnen. Die inkorporierte Planungsunsicherheit führte über Formen demonstrativen Konsums vermutlich auch eher zu kurzlebigen Investitionen in Strategien des gesellschaftlichen ´Mithaltens´. Die Erfahrungen der Schmiede waren andere und entsprechend waren auch ihre Handlungsmotive gewichtet. Die Rauchs folgten nicht dem Gelegenheitsprinzip, sondern enger gezogenen Respektabilitätsgrenzen, die Abgrenzung von unselbständiger Arbeit einschloß.784 Auf schwindenden kleinbäuerlichen Erwerbsgrundlagen, aber immer noch im Besitz von Land, konnte es sich die Familie auch eher leisten, Gelegenheiten auszuschlagen, die ihren Vorstellungen nicht entsprachen. Daß beispielsweise niemand aus der Familie in das östlich gelegene, nicht allzuweit entfernte Schmalkalden, einer der “exportorientierten Metallregionen”, ging und ebenfalls kein Angehöriger den Weg nach Suhl, in die Gewehrproduktion, ein- 783 Vgl. Abschnitt 2.1.1.1. in diesem Kapitel 784 Zu den Handlungsspielräumen, -zielen und -strategien der Schmiedefamilie vgl. Abschnitt 2.1.2. in diesem Kapitel 261 schlug, spricht für eine Handlungsstrategie, die im Verhältnis zu den ´Porzens´ eher als innengeleitet verstanden werden kann. Die Arbeit in einem dieser Orte hätte berufliche Spezialisierungen erfordert, kam aber wohl aufgrund der Betriebsformen nicht in Frage, die dem Selbstverständnis und Berufsethos der Rauchs widersprachen. In Schmalkalden “dominierte” das “Verlagsverhältnis”, in Suhl wurde in Manufakturen produziert.785 Dafür, daß räumliche Mobilität von den Rauchs auch nicht in der Weise gefordert war wie von den ´Porzens´, sorgte ihr Land. Die zeitweilig deutliche Übersetzung der Schmiede im 18. Jahrhundert war zwar vermutlich kaum Ausdruck reichlicher Ressourcen. Daß das Einkommen bedeutsam und nicht ohne weiteres gewährleistet war, ließ sich an den noch in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts erfolgten beruflichen Umstellungen ablesen.786 Und vermutlich wäre im Blick darauf auch zweckmäßig gewesen, wenn weitere Angehörige einem anderen Erwerb nachgegangen wären. Dennoch gewährleistete der Besitz im Vergleich mit den ´Porzens´ eine gewisse Planungssicherheit und ermöglichte in dem Sinne eine eher methodische Lebensführung. Deren Kennzeichen waren dann auch die Ansprüche an Selbständigkeit und Respektabilität, Grundhaltungen, die nicht auf den Erwerbsbereich begrenzt waren, sondern die, so wie die Dispositionen der ´Porzens´, ebenfalls zu “(...) systematischen Stellungnahmen (...)”787 führten, die allerdings anders ausfielen als in der Weberfamilie. Die bei den Rauchs verbleibenden Schmiedelinien verhielten sich auch im sozialen Abstieg eher noch sowohl räumlich immobil als auch beruflich unflexibel. Ihr Habitus überdauerte gewissermaßen seine Voraussetzungen und blieb bei Johann Adam Rauch noch nach dem Ausscheiden aus der beruflichen Tradition seiner Familie wirksam. Dem Habitus nach hatten die Familien Porz und Rauch scheinbar wenig miteinander gemein. Ihre unterschiedlichen Prioritäten, bei den einen Einkommen und Gelegenheitsprinzip, bei den anderen Selbständigkeit und Respektabilität, deuten nicht darauf, daß Voraussetzungen für eine “Wahlverwandtschaft” 788 vorhanden waren, die es in der Generation der Großeltern von Richard Schmidt dann dennoch gab. Wie konnten beide Familien zusammenkommen? Im Blick auf diese Frage bietet sich an, auf die Beziehungssoziologie Max Webers zurückzugreifen. Sie ermöglicht, den Zusammenhang zwischem dem Habitus und 785 Zu diesen Hinweisen auf Schmalkalden und Suhl vgl. Reininghaus 1990, S.21f. “In Schmalkalden bestanden 1714 zur Zeit der größten Blüte 500 Schmiedewerkstätten.” (Ebd., S.21) 786 Vgl. dazu Abschnitt 2.1.1.5.2. in diesem Kapitel 787 Bourdieu (1992), S.31. Vgl. auch Abschnitt 2. im I. Kapitel 788 Zur Wahlverwandtschaft, die auf ähnlichen oder übereinstimmenden geschmacklichen Vorlieben im Sinne der Habitustheorie beruht, vgl. Bourdieu 1982, S.373ff 262 den verschiedenen Ebenen sozialen Handelns herzustellen. Erworben wurde der jeweilige Habitus zwar auf der Grundlage unterschiedlicher Ressourcen, Handlungsspielräume und Lebenschancen; vermittelt wurde er aber über die Praxis und die alltäglichen Beziehungen. Entlang der Vergemeinschaftung, Vergesellschaftung und der Formen von Interessenwahrnehmung, die die Ebene von Kampf und Konkurrenz bei Max Weber bezeichnen,789 lassen sich für die Schmiedefamilie Rauch und die Weberfamilie Porz jeweils bestimmte Grundmuster sozialer Kohäsion790 herausarbeiten. Sie sind in der nachfolgenden Übersicht begrifflich voneinander abgegrenzt und fassen das Ergebnis der vorangegangenen ausführlichen Interpretation zu den älteren kaltensundheimer Vorfahren von Richard Schmidt zusammen.791 Näher einzugehen sein wird im weiteren zunächst noch einmal auf die Ebene der Vergemeinschaftung und der Alltagsbeziehungen beider Familien. Insgesamt stützen die Grundmuster sozialer Kohäsion folgenden Hypothesen: 1. Es waren verschiedene soziale Milieus, denen die Rauchs und ´Porzens´ angehörten. Die Unterschiede zwischen ihnen waren nicht auf den Habitus und die sozialen Positionen und Chancen begrenzt, sondern erstreckten sich auch auf die Ebene der Alltagsbeziehungen. 2. Zwischen beiden sozialen Milieus, denen die Familien angehörten, gab es zwar eindeutige Differenzen und Distanzierungen. Gleichzeitig war die Entfernung relativ bemessen. Im Verhältnis zu den großen Bauern und den wohlhabenden Dorfbewohnern waren ´Porzens´ und Rauchs auch miteinander verwandt oder Nachbarn. Im gesamten ´Sozialraum Kaltensundheim´ waren Begegnungen ihrer Milieus durchaus wahrscheinlich und, dies trifft insbesondere auf Familie Porz zu, wahrscheinlicher als Verbindungen mit sozial besser positionierten Gruppen. 3. Voraussetzung für das Zusammenkommen der Rauchs und der ´Porzens´ waren gleichwohl bestimmte Dynamiken, die mit sozialstrukturellen Veränderungen im Dorf einhergingen und von denen beide Familien, insbesondere die Schmiede, betroffen waren. Entsprechend waren auch ihre Kohäsionsmuster keineswegs starr. Auf den verschiedenen Handlungsebenen wurden die Verhältnisse und Beziehungen der Rauchs und der ´Porzens´ nicht nur 789 Zur den analytisch getrennten Ebenen des sozialen Handelns - Kampf, Vergemeinschaftung, Vergesellschaftung - vgl. Weber 1980 [1921/22], S.20ff 790 Vgl. auch Abschnitt 5. in Kapitel I. 791 Vor allem der vorangegangene Abschnitt 2.2.2. enthält bereits einige Abgrenzungen, auf die hier nicht mehr näher eingegangen wird. 263 reproduziert, sondern auch variiert. Wie die Begriffsbildung zwangsläufig bestimmte Abstraktionen enthält, gehen mit den Anforderungen an eine möglichst übersichtliche Darstellung hier ebenso notwendig auch Verkürzungen einher. Sie bewirken, daß soziale Mobilität, die es gab, in der Gegenüberstellung der Kohäsionsmuster nicht bildhaft wird. 4. Langfristig blieben die Grundmuster der sozialen Kohäsion bei den Schmieden und in der Familie Porz erhalten. Dies entspricht der Hypothese, daß soziale Mobilität nur begrenzt möglich war. Grundmuster sozialer Kohäsion in der Schmiedefamilie Rauch und der Weberfamilie Porz Schmiedefamilie Rauch Weberfamilie Porz Vergemeinschaftung: Alltagsbeziehungen, ´Heiratskreise´ - relativ breit gestreute Beziehungskreise, eher im ´mittleren´ Feld respektabler Familien; Kontakte auch im Feld der ´legitimen´ und der ´illegitimen´ Kultur - eher beständige, dauerhafte Beziehungen - eher hohe soziale Kontrolle - relativ begrenzte Beziehungskreise, eher im Feld der ´illegitimen´ Kultur und der unterprivilegierten Familien; Kontakte auch im ´mittleren´ Feld respektabler Familien - teilweise unbeständige, flüchtige Beziehungen - eher geringe soziale Kontrolle Habitus: Handlungsziele und -strategien, Deutungsmuster - eher patriarchalisch, stark ausgeprägte innerfamiliäre Arbeitsteilung - eher geringe Flexibilität und Mobilitätsbereitschaft - eher an Respektabilität und Selbständigkeit orientiert, abgrenzende Haltungen - eher innengeleitet - eher methodische Lebensfüh- - eher partnerschaftlich, geringer ausgeprägte innerfamiliäre Arbeitsteilung - eher hohe Flexibilität und Mobilitätsbereitschaft - eher an Einkommen und Gelegenheiten orientiert, geringe Abgrenzungen - eher außengeleitet - eher improvisierend, Leben rung, längerfristige Planungen Vergesellschaftung: - kleinbäuerliche Existenzgrund- soziale Positionen, Handlungsspielräume lagen, dabei auch Prekarität ´Krisenstrategien´ und Interessenvertretung - Mobilisierung sozialen Kapitals im Feld von Politik und Kirche im ´Hier und Jetzt´ - Besitzarmut, weitgehend prekäre bis unterste Soziallagen - Mobilisierung von Anpassungsstrategien 264 1667 berichtete der kaltensundheimer Pfarrer im Seelenregister über die Familie von Valten Schreiner wenig erfreuliches: Die Ehefrau sei “(...) ein altes versoffenes leichtfertiges Weib, stinckfaul darbei”. Ob der Pfarrer sie oder Valten Schreiner oder auch beide Eheleute für ein “Fiedel und ein diebisch Nichtsnutz” hielt, ist schwer zu erkennen, letztlich wohl auch kaum wesentlich. Daß die Tochter uneheliche Zwillinge mit dem Kühehirten Heinrich Bauß fritsch hatte, rückte ohnehin die ganze Familie in ein schlechtes Licht. Des Pfarrers Mitteilungen über den 18jährigen Valten Franck und seine Familie lesen sich ähnlich: Die “Vita” sei hier “nicht so gar friedlich. Er säuft gern, hat doch nichts”. Und “(...) dem Saufen sehr ergeben (...)” soll ebenfalls Hanß Zeiß gewesen sein, der auch bereits “(...) etliche mahl im Thurm gelegen” hatte, weil er wohl die “Zeche” nicht zahlen konnte. Anders verhielt es sich mit Heinrich Witzel, in der Wahrnehmung des Pfarrers “ein frommer Man(!)”, der mit seiner Familie “friedlich und christlich” lebte. Heinrich Witzel war Ackerbauer und “Krämer”. Er gehörte, wie der andere Bauer Witzel im Dorf, zu den wenigen Familien, die eine Dienstmagd hatten. Die Klassifikationen im Seelenregister geben ein Stück kaltensundheimer Realität wider, indem sie Aussagen über die Beziehungen der sozialen Gruppen zueinander enthalten. Die erwähnten Beispiele beschreiben den Gegensatz von Privilegierten und Unterprivilegierten, von ´legitimer´ und ´illegitimer´ Kultur.792 Als Repräsentant der ´legitimen´ Kultur, zu der auch der Bauer Heinrich Witzel gehörte, grenzte sich der Pfarrer von denen ab, die ohne gesellschaftliche ´Definitionsmacht´ waren und im Verhältnis zur herrschenden Norm und Ordnung als ´illegitim´ galten. Dabei schied die Vertreter der ´illegitimen´ und der ´legitimen´ Kultur nicht nur der Lebenswandel, sondern auch ihr Besitz. Der genannte Valten Schreiner war Kutscher, Valten Franck ernährte sich und seine Familie von der Handarbeit, Hanß Zeiß sorgte für “Nahrung” mit der “Papier Mühl”. Daß Prekarität mit ´illegitimen´ Praktiken einherging, traf natürlich nicht in jedem Fall zu. Es gab ebenfalls vereinzelt Dorfbe- 792 Der Begriff der ´legitimen´ Kultur wird hier in Anlehnung an Bourdieu (1982) verwendet, der die ´mittlere´ Kultur kleinbürgerlicher Fraktionen von ihr abgrenzt. (Vgl. ebd.) Eine ´illegitime´ Kultur schreibt Bourdieu den Unterklassen nicht zu. Er führt statt dessen aus: “Wer an die Existenz einer ´Kultur der unteren Klassen´ glaubt - schon diese Wortzusammenstellung bleibt unwillkürlich dem herrschenden Kulturbegriff verhaftet -, der wird bei näherer Betrachtung nichts als lose Fragmente einer mehr oder weniger alten Gelehrtenkultur auffinden (z.B. ein bestimmtes ´medizinisches´ Wissen), die gewiß in Abhängigkeit von den Prinzipien des Klassenhabitus ausgewählt und reinterpretiert und in dessen unitäre Weltsicht integriert wurden; aber er wird nicht die Gegenkultur antreffen, die er sucht, eine wirklich der herrschenden Kultur opponierende, die bewußt als Symbol einer gesellschaftlichen Stellung oder als Bekenntnis zu einer autonomen Existenz reklamiert sind.” (Ebd., S.616f) Hinweise auf eine Anlehnung an die ´legitime´ Kultur lassen sich auch in den über Konsum und andere Praktiken demonstrierten Ansprüchen auf Zugehörigkeit und Integration der Unterprivilegierten und Besitzlosen in der historischen Dorfgesellschaft finden. Angedeutet sind sie hier im vorangegangenen Abschnitt 2.2.2. 265 wohner wie Georg Rommel, der Fuhrmann war, aber auch Land hatte, und der doch ein “(...) ein gottloser und versoffener Mann (...)” gewesen sein soll, der “(...) alle tag vom Luder (lebte), (...) sich voll(saufte) und (...) dann alles zum Hauß nauß (jagte)”. Schließlich gab es auch Arme im Dorf wie die Witwe Catharina Voigt, die sich mit “waschen, nähen, flicken” ernährte, dabei aber den Catechismus “ziemlich” beherrschte und “christlich” lebte. Diese Gruppe der Unterprivilegierten fiel zwar nicht durch ´illegitime´ Praktiken auf. Ohne ökonomisches und soziales Kapital und ohne Möglichkeiten, politisch Einfluß zu nehmen, fehlten ihr aber dennoch die Voraussetzungen dafür, der ´legitimen´ Kultur anzugehören. Familie Porz gehörte zu den stärker Unterprivilegierten. Daß ihre Beziehungen tendenziell eher im Feld der ´illegitimen´ Kultur angesiedelt waren, bezeugen ihre recht zahlreichen unehelichen Kinder und die beiden Diebe in der Verwandtschaft, die aus der Familie Marckert kamen.793 Diese Verbindungen entstanden zwar erst seit dem Ende des 18. Jahrhunderts. Und als der kaltensundheimer Pfarrer im Jahr 1667 den Familien Schreiner, Franck, Zeiß, Rommel und Voigt ihren sozialen Ort zuwies, lebten die ´Porzens´ noch längst nicht in Kaltensundheim. Die Paten allerdings, die Kilian Porz und Sophia Magdalena Marckert für ihre fünf Kinder wählten, die zwischen 1760 und 1772 geboren wurden, gehörten zu den Nachkommen eben auch der kaltensundheimer Unterprivilegierten und Angehörigen der ´illegitimen´ Kultur des 17. Jahrhunderts, von denen zuvor die Rede war. 794 Die Wahl dieser Paten geschah nicht zufällig. Bei ihnen finden sich Muster von Handlungsstrategien und Beziehungen, die denen der ´Porzens´ entsprachen oder sehr nahe kamen. In den Familiengeschichten der Paten ergaben sich häufiger Konstellationen, in denen ein Partner von außerhalb kam.795 Gemeinsame Erfahrun- 793 Zu den sozialen Beziehungen der ´Porzens´ vgl. auch Abschnitt 2.2.1.4. in diesem Kapitel 794 Die Kinder von Kilian Porz und Sophia Magdalena Marckert sind in der Übersicht über die Generationenfolge der Familie zu Beginn des Abschnitts 2.2. in diesem Kapitel angegeben. Patin zu einer der Töchter war Kilians Mutter, Ottilia Porz. Soziale Herkunft und ´Heiratskreise´ der anderen vier Paten sind in Anhang 16 bis Anhang 19 dargestellt. 795 Dies verdeutlichen die Vorfahren von Eva Rosina Schmidt, die 1760 die Patenschaft bei Eva Margaretha Porz übernahm. (Vgl. Anhang 16) In der Generation ihrer Eltern, Großeltern und Urgroßeltern kam jeweils ein Partner nicht aus Kaltensundheim. Der Ehemann von Eva Rosina Schmidt, der Barchentweber Johann Erhard Juchheim, kam dann ebenfalls von außerhalb, aus Heiners bei Suhl. Eine Tochter der Eheleute heiratete wiederum einen auswärtigen Barchentweber, Joh. Wolff Herbart aus Sülzfeld. Ein Sohn dieser Generation starb schließlich 1879 im Armenhaus. (Vgl. ebd.) - Ein anderes Beispiel gibt Johann Martin Günter, der Pate des 1768 geborenen Johann Martin Porz. (Vgl. Anhang 17) Er war ein Leine-, Barchentweber und Bleicher aus Heidersbach bei Suhl. Seine Ehefrau, Catharina Elisabetha Zeiß, war in Kaltensundheim geboren, wo ihre Vorfahren väterlicherseits, Papiermüller, auch seit Beginn des 17. Jahrhunderts nachgewiesen sind. Die Mutter von Catharina Elisabetha Zeiß war zwar in Kaltensundheim geboren. Ihr Vater, der Schmied Heinrich Mihm, allerdings kam von außerhalb. Und die Großmutter von Catharina Elisabetha Zeiß, 266 gen von räumlicher Mobilität und von Besitzarmut, die auch Übereinstimmungen im Habitus vermuten lassen, deuten zunächst darauf, daß die Weberfamilie und ihre Paten dem gleichen sozialen Milieu angehörten. Dafür spricht auch, daß die Paten nicht nur jeweils mit den ´Porzens´, sondern auch untereinander vergemeinschaftet und durch Heiraten verbunden waren.796 Das Feld, in dem sich Familie Porz und ihre Wahlverwandten bewegten, war im weiteren allerdings auch heterogen. Die soziale Herkunft der Paten war nicht identisch und die Wege, die ihre Angehörigen bis ins 19. Jahrhundert gingen, folgten keinem einheitlichen Muster. In einem Fall gelang 1783 die recht respektable Heirat mit einem Cantor797, in einem anderen Fall führte die 1786 geschlossene Ehe zu Verbindungen mit der Schäferfamilie Börner und der Weberfamilie Kreiß, Familien, deren Besitzmangel, uneheliche Kinder und lediggebliebene Töchter eher in die Richtung der Zugehörigkeit zu den Unterprivilegierten und Angehörigen der ´illegitimen´ Kultur deuten, der sich auch die ´Porzens´ stärker anschlossen.798 Diese Entwicklungen weisen darauf, daß mit der Wahl der Paten unterschiedliche soziale Milieus zusammenkamen. Das galt offenbar auch bereits im 17. Jahrhundert. Bei den Vorfahren der Paten trafen diejenigen, deren Praktiken sie als ´illegitim´ auswiesen, zusammen mit scheinbar respektableren Unterprivilegierten die ebenfalls aus einer Schmiedefamilie kam, war in Kaltennordheim geboren. (Vgl. ebd.) - Der drittte Pate, der Schuhmacher Johann Christoph Hauck (vgl. Anhang 18) kam aus einer Familie, die väterlicherseits aus Kaltennordheim kam. Der Vater, Adam Hauck, hatte nach Kaltensundheim geheiratet, blieb aber in der Folgezeit mit seiner Familie dort nicht dauerhaft wohnen, sondern war, wie aus dem Kirchenbuch hervorgeht, zeitweilig abwesend. Die Mutter von Johann Christoph Hauck, Eva Margaretha Franck, kam aus einer kaltensundheimer Familie, deren Angehörige infolge mangelnden Vermögens im 17. Jahrhundert räumlich mobil waren. Ihr Vater war in Sinswinden bei Tann geboren, wo ihr Großvater eine zeitlang als Knecht beschäftigt war und woher auch seine Ehefrau kam. Die Mutter von Eva Margaretha Franck kam aus einer Familie, in der es väterlicherseits entsprechende Mobilität gab. (Vgl. ebd.) - In der Familie von Anna Margaretha Braungart schließlich, der Patin der 1772 geborenen Anna Margaretha Porz, kam der Vater, ein Barchentweber, von außerhalb. (Vgl. Anhang 19) 796 Die Beziehungen, die unter anderem zwischen den Familien der Paten bestanden, sind mithilfe der farblich (grau) hervorgehobenen Personen und Verweise in Anhang 16 bis Anhang 19 zu erschließen. Beispielsweise heiratete der Schuhmacher Johann Christoph Hauck, Pate der ´Porzens´, die Schwester von Anna Margaretha Braungart, die ebenfalls Patin bei den ´Porzens´ war. (Vgl. Anhang 18) Eine Tochter von Anna Margaretha Braungart heiratete später einen Enkel von Eva Rosina Schmidt, einer anderen Patin der ´Porzens´, deren Enkelin im übrigen einen Sohn von Anna Ottilia Porz und Peter Markert heiratete.(Vgl. Anhang 16) Anna Ottilia Porz war eine Tochter von Kilian Porz. 797 Eine Tochter des ´Porz-Paten´ Johann Martin Günter heiratete 1783 den Cantor Christian Wilhelm Sachs, dessen Vater ebenfalls Cantor war. Im übrigen heiratete eine andere Tochter von Johann Martin Günter den Sohn des Barchentwebers und lichtenbergischen Schultheiß Joh. Georg Firnhaber. (Vgl. Anhang 17) 798 Vgl. Anhang 19 267 und auch mit Angehörigen einer sozialen Gruppe, die über etwas mehr Besitz verfügte.799 Die Unterschiede zwischen den sozialen Gruppen, die vertikal durch ihr Vermögen getrennt waren und die sich in Habitus und Stil auch horizontal differenzierten, können hier nur vage angedeutet werden.800 Eine genauere Analyse der kaltensundheimer Milieus würde andere Voraussetzungen erfordern als hier gegeben sind, und sie käme auch einer anderen Aufgabe gleich. Im Blick auf Kohäsionsmuster und vorangestellte Hypothesen läßt die soziale Herkunft der Familien, mit denen die ´Porzens´ in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verbunden waren, zunächst vermuten, daß die Weberfamilie im 17. Jahrhundert selbst in einem ähnlichen gesellschaftlichen Feld angesiedelt war. Belegt ist diese Kontinuität für die ´Porzens´ zwar nicht, sie ist aber wahrscheinlich. Daß Regina Elisabetha und ihr Bruder Mitte des 19. Jahrhunderts auch Beziehungen zu Schweine- und Ziegenhirten und zu Schäfern unterhielten801, war dann doch eher keine ganz neue Erscheinung in der Familie. Was für Familie Porz erst seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu belegen ist, zeigen die bis ins 17. Jahrhundert zurückreichende Rekonstruktion der sozialen Herkunft ihrer Paten und die Vergemeinschaftungen dieser Wahlverwandten bis ins 19. Jahrhundert noch deutlicher: Es gab eine gewisse Ab- und Aufstiegsmobilität, ohne daß dabei die Grenzen der eigenen Herkunft gravierend überschritten wurden. Beleg dafür, daß es in Kaltensundheim möglich war, Beziehungen zu Angehörigen unterschiedlicher sozialer Milieus zu unterhalten, ist auch Familie Rauch. Sie war nach Besitz und Habitus im ´mittleren´ Feld respektabler Familien angesiedelt, dem im 17. Jahrhundert wohl die meisten Kaltensundheimer angehörten. Mit den Teilungen wurde der Besitz kleiner und, wie bei den Rauchs, nahm auch bei ihren Wahlverwandten die Bedeutung nicht-agrarischer Erwerbsquellen zu. Allerdings 799 Daß eher Mobile, Besitzarme und diejenigen, auf deren ´illegitime´ Praktiken der kaltensundheimer Pfarrer verwies, mit kleineren Besitzern und respektablen Familien, an denen der Pfarrer nichts auszusetzen hatte, zusammenkamen, deuten die Konstellationen der Vorfahren der Paten an. (Vgl. Anhang 16 bis 19) Auch gab es zwischen den Familien der Paten Unterschiede. Bei den kaltensundheimer Vorfahren von Anna Margaretha Braungart finden sich beispielsweise keine Hinweise auf ´illegitime´ Praktiken. Es scheinen hier auch eher noch kleinere Besitzer zusammengekommen zu sein. (Vgl. Anhang 19) 800 Die Hinweise, die der Pfarrer im Seelenregister gab, deuteten bereits darauf, daß es bei ähnlichem ´Kapitalvolumen´ doch Unterschiede im Habitus gab. Grob zu unterscheiden wären sicherlich mindestens vier soziale Gruppen: Einmal dem Vermögen nach stark Unterprivilegierte und eher kleinere bis mittlere Besitzer. Für jede dieser vertikal, durch einen Klassen- oder Schichtenunterschied getrennten Gruppen wäre im weiteren von mindestens zwei Fraktionen oder sozialen Milieus auszugehen: Einer in Habitus und Vergemeinschaftung eher respektablen und einer eher ´illegitimen´ Gruppe. 801 Vgl. Abschnitt 2.2.1.4. in diesem Kapitel 268 folgte Familie Rauch überwiegend nicht dem Muster, das für die Beziehungen im sozialen Milieu der ´Porzens´ wesentlich war. Im Milieu der Rauchs wurde Land eher noch zusammengehalten. Über Heiraten entstanden weniger Verbindungen zu mobilen und entsprechend besitzarmen und tendenziell landlosen Gruppen. Die Angehörigen der Schmiedefamilie heirateten eher in ´alteingesessene´ Familien ein, die im 17. Jahrhundert, auch wenn sie bereits darauf angewiesen waren, ein Handwerk auszuüben, doch zu den Ackerbauern im Dorf gehörten.802 Unter den direkten Vorfahren von Richard Schmidt war der letzte Schmied, Johann Adam Rauch, zugleich der erste, der 1823 in eine Familie einheiratete, die erst im 18. Jahrhundert nach Kaltensundheim gezogen war. Daß die Respektabilität der Rauchs nicht nur auf Beziehungen zu mittleren und kleinen Besitzern, sondern auch auf eine gewisse Nähe zur ´legitimen´ Kultur gründete, belegen ihre ´Heiratskreise´, in denen vor allem in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts Angehörige von Inhabern höherer politischer Gemeindefunktionen anzutreffen waren.803 Die Optionen, die Familie Rauch auf Vergemeinschaftungsebene hatte, waren insgesamt größer als die der ´Porzens´. Dadurch kam es dann auch zu Überschneidungen mit dem sozialen Milieu der Prekären und Angehörigen der ´illegitimen´ Kultur, in dem die Weberfamilie und ihre Wahlverwandten einen Schwerpunkt hatten. Die Rauchs orientierten sich in verschiedenen Richtungen. Im 17. Jahrhundert gehörten ein “Schäfer auf Frankenheim” und der kaltensundheimer Schuster Brosam ebenso zu den Paten der Schmiedenachkommen wie ein Angehöriger der Pfarrersfamilie. Auch in den Heiratsbeziehungen gab es Ausnahmen von der zuvor formulierten Regel. Hanß Rauch I804 heiratete im Jahr 1701 die Tochter eines aus Meiningen zugewanderten Sattlers, dessen Ehefrau ebenfalls nur wenig Land einbrachte. Sie war zudem geboren, bevor ihre Eltern geheiratet hatten.805 Eine der Töchter von Konrad (Cuntz) Rauch, dem Begründer der kaltensundheimer Schmiedefamilie, heiratete im 17. Jahrhunderts einen Nachkommen des “gottlosen und versofffenen” Heinrich Rommel, der “(...) alle tag im Luder (leb- 802 Zu den sozialen Beziehungen der Familie Rauch vgl. auch Abschnitt 2.1.1.4. in diesem Kapitel 803 Vgl. ebd. 804 Hanß Rauch I gehörte zu den Nachkommen von Mathäus Rauch. Dieser Teil der Familie schied Mitte des 18. Jahrhunderts aus der kaltensundheimer Schmiede aus. Vgl. Überblick II, vgl. auch Abschnitt 2.1.1.5.2. in diesem Kapitel 805 Vgl. auch Anhang 18. Die Familie von Hanß Rauch I taucht 1780 im Beziehungsnetz der ´PorzPaten´ auf. Seine Enkelin, Anna Barbara Rauch, hatte den Glaser Joh. Peter Möller geheiratet. Der Sohn dieser Eheleute schloß die Ehe mit einer Schwester von Johann Christoph Hauck, dem Paten von Johann Christoph Porz. (Vgl. ebd.) 269 te).”806 Auch im 18. Jahrhundert tauchen Angehörige der Rauchs im Beziehungsfeld der ´Porzens´ und ihrer Wahlverwandten auf. Sie gehörten dann allerdings kaum zur Familie der direkten Vorfahren von Richard Schmidt, sondern kamen aus anderen, überwiegend den Linien der Rauchs, in denen es zuvor berufliche Umstellungen gegeben hatte.807 Die Familie Opfermann, in die Johann Adam Rauch eingeheiratet hatte, taucht erst 1830 im Beziehungsfeld von Johann Martin Günter, dem Paten von Johann Martin Porz, auf. Dessen Nachkommen allerdings hatten sich auch anders orientiert als die ´Porzens´, mit denen dann scheinbar keine direkten Verbindungen mehr bestanden.808 Im Resultat ist festzuhalten, daß, soweit die Rekonstruktion der Vergemeinschaftungen erkennen läßt, die direkten Vorfahren von Richard Schmidt aus der Schmiedeund der Weberfamilie erst Mitte des 19. Jahrhunderts in unmittelbarer und enger Beziehung miteinander standen. Auf ihre unterschiedliche Milieuzugehörigkeit weist auch, daß die Namen bestimmter Familien, mit denen die ´Porzens´ enger verbunden waren, bei Johann Adam Rauch und seinen Vorfahren nicht auftauchen.809 Umgekehrt war das nicht anders. 806 Vgl. Anhang 16. In eine, in den Praktiken respektablere, aber unvermögende Familie, heiratete eine andere Tochter von Conrad (Cuntz) Rauch: Ottilia Rauch heiratete 1665 den Metzger Christian Vogt, dessen Mutter sich von “waschen, nähen, flicken” ernährte. Ottilia Rauch gehörte dann zu den älteren Vorfahren Johann Christoph Hauck, dem Paten von Johann Christoph Porz. (Vgl. Anhang 18). 807 Hinweise auf die Familie Rauch im Beziehungskreis der ´Porz-Paten´ sind in Anhang 16 bis Anhang 19 hervorgehoben (grau abgesetzt). Beispielsweise heiratete die Schwester von Eva Rosina Schmidt den Bäcker und Gemeindeknecht Johann Caspar Gattung. Er war in erster Ehe verheiratet gewesen mit Anna Margarethe Rauch, deren Großvater noch zu den Schmieden gehört hatte und deren Vater Weißgerber geworden war. (Vgl. Anhang 16) Ebenfalls in Anhang 16 taucht Ursula Elisabetha Rauch auf, eine Tochter des Rothgerbers Georg Wilhelm Rauch. Sein Großvater gehörte noch zu Schmieden. Der Nachkomme des unehelichen Sohnes von Ursula Elisabetha Rauch lebte später “in wilder Ehe” mit einer Enkelin von Anna Ottilia Porz, der Tochter von Kilian Porz. (Vgl. ebd.) Familie Hauck schließlich war mit Angehörigen der Rauchs verbunden, die zwar Schmiede geblieben waren, aber in Kaltennordheim lebten. Eine Tochter von Johann Christoph Hauck, dem ´Porz-Paten´, heiratete 1795 den Hufschmied Johann Rauch, dessen Urgroßvater die kaltensundheimer ´Großfamilie´ Rauch etwa hundert Jahre zuvor verlassen hatte. (Vgl. Anhang 18) 808 In der Familie von Johann Martin Günter gab es Ende des 18. Jahrhunderts eher respektable Verbindungen. In den Beziehungen dieser Familie tauchen im übrigen auch häufiger Schmiede auf. Ersichtlich ist auch, daß Johann Adam Rauch in eine Familie einheiratete, zu deren älteren Vorfahren ein Messerschmied gehörte. (Vgl. ebd.) Familie Porz orientierte sich eher im Beziehungsnetz der Braungarts, zu dem im 19. Jahrhundert häufiger uneheliche Kinder und lediggebliebene Töchter gehörten. (Vgl. Anhang 19) 809 Von Familien Kreiß, Börner, Abe und anderen, die eher mit ´Illegitimität´ in Verbindung zu bringen sind, hielt sich die Linie von Johann Adam Rauch offenbar fern. 270 Gezeigt hat sich dann ebenfalls die Nähe, die zwischen der ´Großfamilie´ Rauch und dem sozialen Milieu der ´Porzens´ zeitweilig bestand. In die kaltensundheimer Heiraten und Vergemeinschaftungen ermöglichen die Familien, aus denen die Paten von Johann Christoph Porz und seinen Geschwistern kamen, nur einen kleinen Einblick. Er bestätigt ein Ergebnis der Untersuchung Schlumbohms über soziale Mobilität im Kirchspiel Belm.810 Die Strukturen waren dort andere als im Eisenacher Oberland und in Kaltensundheim. Im osnabrückischen Anerbengebiet standen sich weitaus stärker Großbauern und Landlose gegenüber. Daß sich diese Gruppen im wesentlichen reproduzierten und zwischen ihnen kaum ein ´Austausch´ möglich war, hat Schlumbohm für den Zeitraum von 1771 bis 1860 belegt.811 Die “(...) schmale Schicht der Kleinbauern (...)” hingegen war im Kirchspiel Belm “offener”.812 Relativ ´durchlässige´ Schicht- und Milieugrenzen weist auch das kleinbäuerliche Kaltensundheim auf. Dabei ist zum einen zu vermuten, daß es, wie das Heiratsmuster der Familie Rauch andeutet, nicht der Regelfall war, daß diese ´mittleren´ Besitzer mit Besitzarmen und Landlosen eine Familie gründeten. Zum anderen ist denkbar, daß die mit dem Bevölkerungswachstum verbundene Ausweitung der Unterschicht und die gleichzeitig zunehmende ´Zersplitterung´ von Grundbesitz eine solche Entwicklung auch beförderten. Im Kirchspiel Belm nahm die Selbstrekrutierung der kleinbäuerlichen Schicht nach 1830 gegenüber den Jahrzehnten zuvor ab.813 Insgesamt allerdings kamen zwischen 1771 und 1860 “selbst” in dieser verhältnismäßig “offenen” Schicht “(...) über die Hälfte der Männer und Frauen aus kleinbäuerlichen Familien”.814 Um die Familien Porz und Rauch zusammenzubringen, bedurfte es vermutlich einer gewissen Dynamik, im wesentlichen einer Abwärtsmobilität der Schmiedefamilie. Damit, daß die konkreten Besitzverhältnisse der Kaltensundheimer und die sozialstrukturellen Veränderungen nicht belegt sind, bleibt auch der Blick auf Dynamiken, die die Ausbreitung der Weberei vermutlich vor allem in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auslöste, nur vage. Grob erkennbar ist zwar, daß im langfristigen Wechselspiel von Weberei und Landwirtschaft während dieser Phase deutlich das Gewerbe dominierte und der agrarische Betrieb eher sekundär war. Ausdruck 810 Schlumbohm 1994 811 Vgl. ebd., S.370ff. “Das hervorstechende Ergebnis ist die außerordentliche Immobilität: 90% der Männer und Frauen, die einen großen Hof besaßen, stammten von Eltern, die ebenfalls einen Vollhof ihr eigen nannten (...). Kaum geringer war der Grad der Selbstrekrutierung in der landlosen Schicht: 85% der Eigentumslosen war bereits als solche geboren. (...)” (Ebd., S.370) 812 Ebd. 813 Vgl. ebd., S.372ff (Tabelle 6.01) 814 Ebd., S.370 271 dieser Bewegung ist auch, daß dann Barchentweber die Ämter des hennebergischen und des lichtenbergischen Schultheißen in Kaltensundheim besetzten. Anzunehmen ist ebenfalls, daß die proto-industrielle Entwicklung im Dorf sowohl von den Besitzarmen und den Zugewanderten als auch von den Kleinbauern getragen wurde, wobei langfristig vermutlich die Angehörigen der ärmeren Kategorien überwogen. Welches Bild sozialer Schichtung daraus allerdings genau resultierte, wie sich die Besitzverteilung veränderte und bei welchen Gruppen das Vermögen konzentriert war, bleibt unklar. Medick hat für Laichingen815, einen Ort “auf der rauhen Alb” mit Kaltensundheim nicht unähnlichen Handlungsvoraussetzungen festgestellt, daß sich zwischen 1743 und 1821, als sich die Leineweberei besonders stark ausbreitete, die Zusammensetzung in der Gruppe der Reichen veränderte. Hatten zunächst vor allem “(...) 15 Bauern (...) die größten Anteile am Reichtum der oberen zehn Prozent (...)”, waren dann “(...) bis zum Jahre 1797 (...) 14 Weber zur größten Fraktion in der Gruppe der immobilien- und d.h. auch grundbesitzreichsten Haushalte des Fleckens geworden”.816 Anfang des 19. Jahrhunderts kehrte sich dieser Trend tendenziell um. Die wohlhabenden Weber hatten eher als die Bauern Probleme, “(...) ihren Immobilienreichtum zu halten oder gar zu mehren”.817 Gleichzeitig war im gesamten Zeitraum der Anteil am gesamten Immobilienbesitz bei den Reichen gestiegen; dies zu Lasten vor allem “(...) der Gruppe der mittleren 40 Prozent der Laichinger Haushalte”.818 In der unteren Gruppe der Steuerbürger Laichingens “stagnierte der Besitzanteil (...) bei 11-12% des Gesamtvermögens”.819 Real bedeutet dies sogar, daß sich der Besitz bei den Angehörigen dieser Gruppe verminderte, da sie zahlenmäßig zunahm.820 Diese Gruppe der “(...) ärmeren und wenig kapitalkräftigen unter den Laichinger Webern (...) wurde Anfang des 19. Jahrhunderts vom “(...) doppelte(n) Druck von Agrar- und Gewerbekrise, der sich durch die rigorosen staatlichen Steuereintreibungen und sonstigen Abschöpfungen der napoleonischen Zeit noch steigerte (...), besonders “hart” getroffen.”821 Im nordwestlich gelegenen Neckarhausen konzentrierte sich der Besitz anders, weniger stark bei den oberen zehn Prozent, eher in der mittleren Gruppe, und ebenfalls verfügte die untere Gruppe der Steuerbürger über größere Anteile am 815 Vgl. Medick 1997 816 Medick 1997, S.185f 817 Ebd., S.186 818 Ebd., S.185 819 Ebd. 820 Vgl. ebd. 821 Ebd., S.186 272 Besitz im Ort als es in Laichingen der Fall war.822 Die Verhältnisse in anderen Regionen sind demnach nicht ohne weiteres auf das Eisenacher Oberland übertragbar. Gleichzeitig deuten die Entwicklungen in Laichingen eine Dynamik an, von der, auch wenn sie eine etwas andere Gestalt annahm, der Tendenz nach ebenfalls für Kaltensundheim auszugehen ist. Den ´Porzens´ brachte sie kaum einen sozialen Aufstieg. Die Familie blieb tendenziell am unteren Rand der Dorfgesellschaft, schaffte aber in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vermutlich doch eine geringfügige Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse. In Verbindung damit kam es zu Varianten in der Kohäsion.823 Die ´Porzens´ waren in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts weniger auf Mobilität und auf Improvisation angewiesen. Vergleichsweise günstige Erwerbsverhältnisse führten zugleich zu mehr Stabilität zum einen in der sozialen Position, zum anderen auch in den Alltagsbeziehungen, die in Phasen hoher räumlicher Mobilität zwangsläufig unbeständiger waren. Und auf der Ebene von ´Krisenstrategien´ und Interessenvertretung war Anpassung nicht in dem Maß wie vor der Ausbreitung der Barchentweberei und wie während der schlechten Konjunkturen vor allem im 19. Jahrhundert gefordert. Gleichzeitig aber gab es für die Familie kontinuierlich, damit auch in günstigen Phasen, kaum Chancen, sich dem ´Markt´ und seinen Anforderungen zu widersetzen. “(...) Die Heimarbeiter (produzierten) schon bei relativ gutem Auftragsstand zu niedrigen Preisen (...).” 824 Soziale Position und ´Vereinzelung´ machten beständig eine Anpassung notwendig. Sie äußerte sich vornehmlich in individuellen Strategien. “Der Umstand, daß Heimarbeiter keine kollektive Organisation zur Durchsetzung ihrer Interessen zustande brachten, führte zu starker vertikaler Abhängigkeit, während eine horizontale Vergesellschaftung kaum zustande kam. (...)”825 Im Krisenfall bedeutete dies, daß die Heimarbeiter eher konkurrierten, indem sie ihre Arbeitskraft ´unter Wert´ anboten.826 Langfristig blieben die Grundmuster sozialer Kohäsion bei den ´Porzens´ nicht nur im Blick auf ihre Möglichkeiten der Interessenvertretung, sondern ebenfalls auf der Ebene der Vergemeinschaftung und der Vergesellschaftung erhalten. Die Variante beruhte auf einer Phase verhältnismaßig günstiger Erwerbsgelegenheiten. 822 Medick zieht hier die Ergebnisse der Studie von David Sabean in Neckarhausen zum Vergleich heran. Vgl. ebd., S.184 823 Vgl. S.264 824 Sieder 1987, S.80 825 Ebd., S.79. Hausgewerbetreibende und Heimarbeiter beschrieb Theodor Geiger auch in den 1930er Jahren als “außerordentlich schwer organisierbar”. (Geiger 1987 [1932], S.91) 826 Vgl. ebd., S.80f. Braun berichtet aus dem Zürcher Oberland davon, daß Heimarbeiter Materialien unterschlugen und ihre Verleger betrogen. (Vgl. Braun 1979 [1960], S.196ff) Diese Variante in den Handlungsstrategien der Weber “muß”, so Braun, “als eigentliche Selbsthilfe bewertet werden (...)”, (ebd., S.197) die auf die auf die Organisation der Betriebsform und ihre Zumutungen zurückzuführen ist. (vgl. ebd., S.197ff) 273 Auch bei den Rauchs wurde das Kohäsionsmuster variiert. 827 Die proto-industrielle Entwicklung beförderte eine Abwärtsbewegung der Familie. Ihre soziale Position veränderte sich, indem bei untergeordneter Bedeutung der Landwirtschaft zugunsten der Weberei ihre Existenz als Schmiede gefährdet wurde und sie selbst inzwischen auch über weniger Land verfügten als noch im 17. Jahrhundert. Mit diesen Entwicklungen gerieten zugleich Gewohnheiten methodischer Lebensführung und längerfristiger Planung stärker in Frage. Ebenfalls zum Nachteil der Rauchs änderten sich während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts schließlich ihre Chancen, mittels Einflußnahme im Feld der lokalen Politik eigene Interessen geltend zu machen. Die Dynamiken im Feld bewirkten zu verschiedenen Zeiten ein unterschiedliches Maß an Nähe und Distanz der beiden Familien. Rauchs und ´Porzens´ blieben ´ungleich´; auch der gemeinsame Abstieg im 19. Jahrhundert brachte sie weder in identische soziale Positionen, übereinstimmende Alltagsbeziehungen noch bewirkte er eine Angleichung im Habitus. Sie kamen erst zusammen, als in Kaltensundheim auch Agrar- und Gewerbekrise aufeinander trafen. Möglich wurde dies vermutlich über die geteilten Abstiegserfahrungen, die allerdings eher homolog als analog waren.828 Gemeinsamkeiten, die sich in den Familien abzeichneten, waren resignative bzw. anomische Tendenzen, die gleichwohl ein unterschiedliches Ausmaß erreichten. Darauf deutet die “Trunksucht” von Johann Adam Rauch im Verhältnis zu den beiden Selbstmorden in der Familie Porz, in der sich ein Bruder und eine Tochter von Regina Elisabetha erhängten. Im Verlauf der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bewegten sich beide Familien zwar vermutlich in anderer Logik als im 19. Jahrhundert aufeinander zu.829 Sie kamen sich aber bereits näher. Verbindungen entstanden dadurch nicht. Allerdings heirateten zwei Töchter des Schmieds Johann Georg II, der für die ´Großfamilie´, von deren Entwicklungen er profitierte, eine zeitlang ´unentbehrlich´ im Sinne der Schmiedetradition war,830 in den Jahren 1772 und 1785 jeweils Barchentweber. Beide Ehemänner kamen aus ´alteingesessenen´ Familien im Dorf. Die zwei Töch827 Vgl. S.264 828 Der Begriff der Homologie verweist auf die Gemeinsamkeit einer dominierten sozialen Position und auf insofern gemeinsame Erfahrungen, die aber aufgrund unterschiedlicher Positionierung im Sozialraum dennoch nicht übereinstimmen. Vgl. zur “Homologie der Räume” auch Bourdieu 1982, S.286ff 829 Annäherung entstand zunächst eher noch durch eine leichte Abwärtsbewegung der Schmiede bei zugleich leichtem Aufwärtstrend der Weber. Später, im beiderseitigen Abstieg, kamen dann eher nur die Schmiede den Webern ´entgegen´. 830 Vgl. Abschnitt 2.1.1.5.3. in diesem Kapitel 274 ter waren Tanten von Johann Adam Rauch, dem letzten Schmied dieser Linie. Und seine Eltern wählten für drei ihrer vier Kinder, die zwischen 1800 und 1810 geboren wurden, dann die Paten aus Weberfamilien. Zwei von ihnen waren sogar erst im 18. Jahrhundert nach Kaltensundheim gekommen. Hier zeigt sich erneut, daß Veränderungen über langfristige Prozesse und nicht in Form plötzlicher Brüche zustandekamen. Hätten die ´Porzens´ während der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts bereits in Kaltensundheim gelebt, wäre eine enge Verbindung mit der Schmiedefamilie zu der Zeit dennoch sehr unwahrscheinlich gewesen. Den Rauchs gelang insbesondere in dieser Phase ein Anschluß an die ´legitime´ Kultur. Darauf deuten nicht nur die Kontakte zum Feld der Politik, sondern auch die soziale Herkunft der Ehepartnerinnen der Schmiede: Hanß Rauch II, der Urgroßvater von Johann Adam Rauch, heiratete 1704 eine Tochter von Caspar Witzel. Er war “Mahlmüller”, daneben aber sicherlich nicht ganz arm an Land. Caspar Witzel war der Sohn des bereits erwähnten Bauern Heinrich Witzel831, über den der Pfarrer Gutes zu berichten wußte und dessen Dienstmagd annehmen läßt, daß seine Familie kaum in dürftigen Verhältnissen lebte. Johann Georg Rauch II, der Großvater von Johann Adam, heiratete dann 1749 in die Familie Bach ein. Der Vater seiner Ehefrau war Sattler, kam aber aus einer Bauernfamilie. Und die Mutter war eine geborene Witzel. Ihr Vater, um 1700 auch Schultheiß in Kaltensundheim, war der fünfzehn Jahre jüngere Bruder von Caspar Witzel und der Sohn von Heinrich Witzel. Die Oberschicht Kaltensundheims war klein. Sie kann, wie die anderen Schichten, in Umfang und Besitz nicht angegeben werden. Darauf, daß es aber durchaus nicht nur Besitzarme und mittlere Bauern gab, finden sich verschiedene Hinweise. Es gab im 17. Jahrhundert unter anderem den “Freyhof”, auf dem Dienstpersonal, Mägde und Tagelöhner, beschäftigt waren. Später fand der “Marienhof” besondere Erwähnung. Und im 19. Jahrhundert informiert das Kirchenbuch darüber, daß das “Witzelsche Gut” verpachtet war. Die Witzels gehörten schon im 17. Jahrhundert eher zu den Wohlhabenden und den Vertretern der ´legitimen´ Kultur. Auch bei ihnen reichte der Besitz dann nicht aus, im 18. Jahrhundert alle Angehörigen allein vom Ackerbau zu ernähren. Und es gab hier, wie bei den Rauchs, ebenfalls unterschiedliche Entwicklungen in den verschiedenen Familienlinien. Es gelang aber mindestens einer Linie auch während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts der ´Klassenerhalt´. Dies durch Umstellungsstrategien, die an schon vorhandene Traditionen der Familie anknüpften. Der Bauer Heinrich Witzel war im 17. Jahr- 831 Vgl. S.265 275 hundert auch “Krämer” gewesen. Einer seiner Nachkommen, der 1756 geborene Johann Adam Witzel, wurde dann ein angesehener “Handelsmann”, der zu den wenigen Kaltensundheimern gehörte, die im Kirchenbuch nicht nur mit ihrem Namen erwähnt wurden. Johann Adam Witzel war ein “Herr”, der im Jahr 1821 dann entsprechend "unter einer zahlreichen Begleitung von Einheimischen und Fremden” begraben wurde. Die Witzels gehörten seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nicht mehr zum engeren Beziehungsfeld der Schmiedefamilie. Die Rauchs verloren den Anschluß, den die direkten Vorfahren von Richard Schmidt später auch nicht wiedererlangten. In dieser Linie änderte sich das Grundmuster sozialer Kohäsion832 dauerhaft. Wie in den anderen Linien der kaltensundheimer ´Großfamilie´ Rauch, die aus der Schmiede ausschieden, war Dynamik hier langfristig gleichbedeutend mit Abwärtsmobilität.833 Die verbleibenden Schmiede gerieten zunächst durch ihre unflexiblen Erwerbsstrategien in den sozialen Abstieg, der letztlich aber auch mittels Umstellungen kaum zu vermeiden gewesen wäre. Im weiteren war es dann gerade die nachlassende Beharrlichkeit von Johann Adam Rauch, die, indem er sich nicht zum Meister qualifizierte, verhinderte, daß seine Familie ihre soziale Position behaupten 832 Vgl. S.264 833 Auf die Entwicklungen der aus der Schmiede ausgeschiedenen Familienlinien wurde vereinzelt bereits hingewiesen. Eine kurze Zusammenfassung bringt die Abwärtsmobilität deutlich zum Ausdruck: In dem von Mathäus Rauch im 17. Jahrhundert begründeten Teil der Familie stellte sich Joh. Görg (1706-1758) auf den Beruf des Rothgerbers um. (Vgl. Überblick II). In der Familie seines Sohnes, Georg Wilhelm (1732-1809), blieben zwei Töchter und ein Sohn unverheiratet. Eine der Töchter wurde ledig Mutter. - In dem von Johannes Rauch sen. im 17. Jahrhundert gegründeten Teil der Familie (vgl. Überblick III) gab es folgende Entwicklungen in den Linien, die aus der Schmiede ausgeschieden waren: Hanß Caspar Rauch (1709-1758) wurde Weißgerber. Eine seiner Töchter heiratete den Bäcker und Gemeindeknecht Joh. Caspar Gattung; eine respektablere Verbindung mit einem Glaser ging die andere Tochter ein. Eine andere Umstellung gab es bei den Nachkommen von Hanß Peter Rauch (1689-1760, vgl. Überblick III). Sein Sohn Joh. Peter wurde Barchentweber. In der nächsten Generation wurde der Sohn Friedrich Rauch ebenfalls Barchentweber. Friedrich Rauch heiratete 1792 “nach Dispens” der unehelichen Schwangerschaft seiner Braut. Aus dieser Ehe gingen hervor: 1. Ursula Elisabetha Rauch, geb. 1792, auf die in Abschnitt 2.2.1.4. in diesem Kapitel bereits hingewiesen wurde. Sie wurde Tagelöhnerin, blieb ledig, lebte mit einem Knecht zusammen und hatte sechs uneheliche Kinder. Einer ihrer Söhne war Schweine- und Ziegenhirte, ein anderer heiratete in die Schäferfamilie Börner ein, eine Tochter blieb ledig. Aus der Ehe von Friedrich Rauch ging 2. hervor: Caspar Rauch, geb. 1796. Er wurde Barchentweber. Seine Tochter Christiane, geb. 1827, heiratete einen Tagelöhner aus der Familie Abe, wurde dann aber Mutter eines außerehelichen Kindes. Christiane wurde geschieden. Nach der Geburt ihres zweiten unehelichen Kindes wanderte sie in den 1850er Jahren mit dessen Vater, den sie inzwischen geheiratet hatte, nach Amerika aus. - Schließlich die Linie von Johann Martin Rauch (1792-1837, vgl. Überblick III), die, wie die Linie von Johann Adam Rauch, im 19. Jahrhundert aus der Schmiede ausschied: Ein Enkel von Joh. Martin Rauch wurde Weber und immerhin Landwirt, ein anderer wurde Tagelöhner und ging nach Unterkatz. (Vgl. auch Überblick III) Seine Familie verließ die Region Anfang des 20. Jahrhunderts in Richtung Coburg, wie aus dem unterkatzer Kirchenbuch hervorgeht. Eine Enkelin von Joh. Martin Rauch, Luise, geb. 1854, war 1894 Dienstmädchen in Baltimore. 276 konnte.834 Das gelang der Nachbarlinie, letztlich aufgrund ihrer Beharrlichkeit. Das Grundmuster sozialer Kohäsion, das sich in der Familie von Johann Adam Rauch änderte, blieb in der Schmiedefamilie langfristig erhalten. Vertreten wurde es dann von Nicolaus Rauch II und seinen Nachkommen.835 Diese Gewinner der ´Großfamilie´ hielten auf Vergemeinschaftungsebene wiederum Anschluß an das Feld der ´legitimen´ Kultur. Eine der Töchter von Nicolaus heiratete 1836 in die Familie des kaltensundheimer Pfarrers ein. Die Ämter des Heiligenmeisters und des Vicebürgermeisters, die einer der Söhne von Nicolaus besetzte, sprechen im weiteren auch dafür, daß die Familie ihre Interessen, ähnlich der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, über das Feld von Politik und dann auch der Kirche vertreten konnte. Die wiedererworbenen kleinbäuerlichen Existenzgrundlagen schließlich stützten die Disposition für eine methodische Lebensführung. Familie Witzel bewahrte langfristig ihre gehobene soziale Position, die Schmiede blieben gesellschaftlich im ´Mittelfeld´ und die ´Porzens´ blieben unten. Der “Handelsmann” Witzel konnte eventuell der Verleger der Weberfamilie Porz sein, und der “Gutsbesitzer” Witzel vielleicht der Arbeitgeber des Tagelöhners Johann Christoph Porz. Daß beide Familien auf andere Weise als in entsprechend ungleichen Beziehungen zusammenkommen konnten, scheint hingegen kaum denkbar. Auf ´Klassengrenzen´ verweist auch das Beispiel von Cyriax Walter, dem zwar die Ehe mit seiner Verlobten Christine Hellmuth gelang.836 Dies aber nur gegen den Willen des Schwiegervaters, dessen Widerstand seine soziale Herkunft und seine soziale Position erklären. Christines Vater war der “Herr Chirurgus” Johann Georg Hellmuth. Er kam aus Kaltennordheim und war der Sohn des gleichnamigen “Hn. Johann Georg Hellmuth, Henneberg. Guts-Besitzers und medicinae practici daselbst.” Verheiratet war der jüngere Hellmuth mit der Tochter von “Hn.” Caspar Müller, der wiederum ein kaltensundheimer “Handelsmann” war. Im sozialen Milieu der Hellmuths wäre eine Verbindung ihrer Tochter Christine mit einem größeren Verleger sicherlich passender gewesen als die Ehe mit dem von ihm abhängigen Barchentweber Cyriax Walter. Daß soziale Ungleichheit “keineswegs primär lebenszyklischer Art war, sondern eine permanente Differenzierung in Schichten bzw. Klassen bedeutete”837, ist ein 834 Vgl. Abschnitte 2.1.1.5.3. und 2.1.2. in diesem Kapitel 835 Vgl. auch Abschnitt 2.1.2. in diesem Kapitel 836 Vgl. Abschnitt 2.2.2. in diesem Kapitel 837 Schlumbohm 1994, S.621 277 Fazit, das Schlumbohm für das Kirchspiel Belm zieht. Es scheint auch in Kaltensundheim nicht falsch. Es gab hier aufgrund der kleinbäuerlich geprägten Strukturen vor der Zeit der Barchentweberei und auch im Anschluß an sie zwar soziale Mobilitäten, die vor allem als Übergänge in benachbarte soziale Milieus oder gesellschaftliche Felder gelesen werden können. Ungleichheitsstrukturen änderten sich deshalb aber nicht. Die Dynamik, zu der unter anderem die proto-industrielle Entwicklung beitrug, führte ebenfalls zu Veränderungen in der Sozialstruktur, aber nicht zur ´Umschichtung´ der kaltensundheimer Gesellschaft.838 Schließlich gab es nicht nur Abwärtsmobilitäten wie im Fall der Familie Rauch, sondern auch positive Entwicklungen und stabilisierende Verbindungen. Die Beziehung zwischen Tobias Rauch und Anna Maria Porz II kann, auch wenn beide Familien dann der Unterschicht angehörten, aus Sicht der ´Porzens´ doch als ein solcher ´Aufwärtstrend´ verstanden werden. Familie Porz hatte letztlich keine Chance, in das gesellschaftliche ´Mittelfeld´ aufzusteigen, aus dem die Rauchs abgestiegen waren. Einmal ´unten´ angekommen, gelang den beiden Söhnen von Johann Adam Rauch, Tobias und Johann Nicolaus, auch in der Folgezeit kein Wiederaufstieg, sonderen eher eine mit der Plüschweberei verbundene vorübergehende Stabilisierung ihrer Lage. Den Verbleib in der Unterschicht und damit die dauerhaft wirksamen Grenzen sozialer Mobilität belegen auch die Nachkommen von Tobias Rauch und Anna Maria Porz II deutlich.839 838 Entsprechend lassen sich auch die weiter oben im Text angegebenen sozialstrukturellen Veränderungen, die Medick für Laichingen festgestellt hat, interpretieren. Für die 14 Weber, die in Laichlingen am Ende des 18. Jahrhunderts zur Gruppe der Reichsten gehörten, ist anzunehmen, daß sie überwiegend aus der Mitte kamen, wobei fünf von ihnen 1747 immerhin auch bereits über zusammen “(...) 19% (...) am Immobilienbesitz des obersten Dezils (verfügten).” (Medick 1997, S.186, Anm. 159) Die Entwicklungen in den ersten beiden Jahrzehnten führten zwar eher bei den Webern als bei den Bauern zu Problemen, ihren Besitz zu halten. Ihr Anteil “(...) am Reichtum der Reichen ging zwischen 1798 und 1821 deutlich von 39 auf 32% des Immobilienbesitzes des obersten Dezils zurück (...)”. Dabei allerdings “(verminderte) sich die Zahl der Weber unter den oberen 10 Prozent lediglich von 14 auf 13 (...)”. (Ebd., S.186) 839 Vgl. Überblick VI im nachfolgenden Abschnitt 2.4. 278 2.4. Die Familie von Tobias Rauch und Anna Maria Porz II: Zusammenkommen zweier sozialer Milieus in der Generation der Großeltern von Richard Schmidt Sozialer Abstieg und Zusammentreffen der beiden Familien veränderten die Erfahrungen der Angehörigen und gingen mit neuerlichen Varianten im Habitus einher. Im Unterschied zu ihrer Mutter, Regina Elisabetha Porz, gelang Anna Maria II eine feste Partnerschaft, die zudem bereits frühzeitig entstand. Tobias Rauch lernte sie spätestens 1856 kennen. Im Jahr darauf, als das erste gemeinsame Kind geboren wurde, war Anna Maria II 20 Jahre alt. Neu war für sie dann auch die Erfahrung, daß sich mit der Plüschweberei die wirtschaftlichen Verhältnisse stabilisierten.840 1837 geboren, war Anna Maria II unter ausgesprochen prekären Bedingungen aufgewachsen und hatte vermutlich schon während ihrer Kindheit zum Lebensunterhalt der Familie beitragen müssen.841 Daß Tobias Rauch ohne Trauschein eine Familie gründete, widersprach den Gewohnheiten seiner Schmiedevorfahren. Dieser Hinweis auf eine Habitusmetamorphose deutet an, daß verinnerlichte Vorstellungen von “Ehrbarkeit” auch unter Bedingungen überdauerten, in denen auf “äußere” Ehre, die der Familie in zurückliegenden Zeiten zuteil geworden war, verzichtet werden mußte.842 Entsprechend ist dann auch die Berufswahl von Tobias Rauch zu verstehen. Hier mußten die Respektabilitätsansprüche der Schmiedevorfahren ebenfalls zurückgestellt bzw. anders, eher bescheiden, realisiert werden: Tobias Rauch, Jahrgang 1827 und zehn Jahre älter als Anna Maria Porz II, war wie sie unter zwar nicht identischen, aber innerhalb seiner Familie doch vergleichsweise ungünstigen und wenig stabilen Verhältnissen aufgewachsen.843 Während seiner Kindheit endete die etwa 200 Jahre alte Schmiedetradition seiner Familie. Der Vater wurde Ölhändler; außer dem verbliebenen Land, auf dem allein keine Existenz mehr zu gründen war, gab es für Tobias und seinen Bruder, Johann Nicolaus, wenig Zukunftsperspektiven. Beruflich knüpften beide an die Familie ihrer Mutter an, in der es im 18. Jahrhundert eine 840 Zur Plüschweberei vgl. Abschnitt 1.3.4.1. in diesem Kapitel 841 Vgl. auch Abschnitt 2.2.1.1. in diesem Kapitel 842 Zur Unterscheidung von “äußerer” und “innerer” Ehre vgl. Zunkel 1975, S.23ff. Danach setzte sich während der frühen Aufklärung ein gegen den ständischen Ehrbegriff abgegrenzter “(...) verinnerlichte(r) und individualisierte(r) Ehrbegriff” durch. (...) Typologisch bestimmt durch den Übergang vom Typus des ehrlichen Mannes zu dem des tugendhaften Mannes im Sinne eines wohl auf ethische Normen eingeschränkten, als auch aus dem Bezug auf Gott gelösten Tugendbegriffes, dokumentierte sich damit der Wechsel zur geistigen Welt des erstarkenden Bürgertums. (...)” (Ebd., S.23) 843 Vgl. auch Abschnitt 2.1.1.1. in diesem Kapitel 279 Umstellung auf die Barchentweberei gegeben hatte.844 Diese Entscheidung entsprach den engen Grenzen im ´Feld des Möglichen´, das gleichwohl noch Alternativen bereithielt. Tobias und Johann Nicolaus Rauch wurden nicht Knechte und nicht Tagelöhner. Als Weber verlor Tobias dennoch die berufliche Selbständigkeit, die sich sein Vater noch hatte erhalten können. Dabei machte sich die Abhängigkeit vom Verleger in den ersten Berufsjahren, die durch zunehmend rückläufige Einkommensmöglichkeiten gekennzeichnet waren, eventuell noch stärker bemerkbar als unter den zunächst vergleichsweise günstigen Bedingungen der Plüschweberei, die Mitte der 1850er Jahre in Kaltensundheim Einzug hielt. Aber auch dann war Tobias Rauch eine Art Lohnarbeiter, dessen Handlungsspielräume in der Gestaltung der Produkte gering waren. Entsprechendes berichtete Gau zumindest für die 1880er Jahre: “Der Fabrikant kauft jene Materialien, führt die nötigen Vorarbeiten aus, liefert alsdann dem Weber die zur Herstellung des Fabrikats nötigen Garne, die auf die Stühle zu ziehenden Ketten, Muster u. dergl., so daß letzterer nur die mechanische Thätigkeit des Webens auszuführen hat.”845 Acht der insgesamt neun Kinder von Tobias Rauch und Anna Maria Porz II, die zwischen 1856 und 1880 geboren wurden, erreichten das Erwachsenenalter. Überblick VI846 zeigt, daß sie, und dann auch ihre Nachkommen, über die Informationen verfügbar waren, in beruflich subalternen und gesellschaftlich niedrigen Positionen blieben. Lediglich beim 1867 geborenen Karl Nicolaus, dem fünften Kind von Tobias und Anna Maria II, mag der Hinweis im Kirchenbuch, das ihn als “Fabrikbesitzer” ausweist, einen sozialen Aufstieg versprechen. Ob es ihm aber gelang, in Friedersdorf bei Bittersfeld tatsächlich und dauerhaft die Grenzen seiner Herkunft zu überschreiten, bleibt dahingestellt. Neben Karl Nicolaus verließen drei weitere Nachkommen seiner Generation, darunter auch Mathilde Rauch, die Mutter von Richard Schmidt, ihren Heimatort. In der Familie des Bruders Karl Valentin, der in Kaltensundheim blieb, ging Anfang des 20. Jahrhunderts die Tochter Lina Wilhelmine als Dienstmagd nach Nieder-Ingelheim und heiratete dort einen Eisenbahnbediensteten. Mit den Erwerbschancen hatten sich bis dahin die Zukunftsperspektiven in Kaltensundheim und Umgebung für die Rauchs weiter verschlechtert. 1906 verließen auch 844 Vgl. auch Abschnitt 2.1.1.2. in diesem Kapitel 845 Gau 1889 [1989], S.81. Vgl. zur Plüschweberei Abschnitt 1.3.4.1. in diesem Kapitel 846 Vgl. S.281f 280 Überblick VI: Nachkommen von Tobias Rauch und Anna Maria Porz II Tobias Rauch * 1827 Kaltensundheim A 1916 Kaltensundheim Weber, Hirte (1882), Nachtwächter (1897) Vater: Schneider in Helmershausen 1877 Ferdinand Stäblein * 1856 Helmershs. A Schweina (?) Weber, in Schweina Arbeiter  1863 – – Anna Maria Porz II * 1837 Kaltensundheim A 1917 Kaltensundheim 1884 Elise Rauch * 1857 Kaltens. A vor 1912 in Schweina Franziska Rauch * 1859 Kaltens. A 1861 Kaltens. Karl Valentin Rauch * 1863 Kaltens. A 1937 Kaltens. Weber, Flurer, Waldhüter  Vater: Tagelöhner in Kaltenwesth. 1886 Luise Wuchert * 1862 Kaltenwestheim A 1934 Kaltensundheim Carl Seb. Spiegel * 1845 Kaltens. A 1905 Kaltens. Weber  Vater: Schneider, Flurschütze, Gemeindehirte in Kaltensundheim 1907 Anna Marg. Rauch Val. Frdr. Schneider * 1866 Kaltens. * 1872 Kaltens. A 1951 Kaltens. A 1948 Kaltens. Sattler, Riemer  Vater: Handarbeiter in Nieder-Ingelheim Eine Tochter, heiratete 1912 in Kaltens. einen Weber Joseph Eschborn * 1885 Nieder-Ingelheim A Nieder-Ingelheim (?) Eisenbahnbediensteter 1909  Lina Wilhelmine * 1885 Kaltens. A Nieder-Ingelheim (?) Dienstmagd (1909) Paul Wilhelm * 1900 Kaltens. A .... Handarbeiter/ Riemer Tobias * 1887 Kaltens. A 1918 im Krieg Weber Emma * 1896 Kaltens. A 1975 Kaltens. ledig geblieben Julius * 1910 Kaltens. A 1969 Kaltens. Riemer Webertochter geheiratet (1930) 281 Überblick VI: Nachkommen von Tobias Rauch und Anna Maria Porz II (Fortsetzung) Tobias Rauch * 1827 Kaltensundheim A 1916 Kaltensundheim Weber, Hirte (1882), Nachtwächter (1897) Vater: Maurergeselle in Unterkatz 1863 – – Anna Maria Porz II * 1837 Kaltensundheim A 1917 Kaltensundheim 1890 Karl Nicolaus Rauch * 1867 Kaltens. A Friedersdorf (?) "Fabrikbesitzer" in Friedersdorf bei Bitterfeld Chr. Ferd. Schmidt * 1863 Unterkatz A 1836 Eisenach Handarbeiter/ Stadtarbeiter Richard Schmidt * 1890 Unterkatz A 1933 Eisenach Arbeiter/ Wartburgführer  Mathilde Rauch * 1870 Kaltens. A 1932 Eisenach Dienstmagd/ Hausierhändlerin vgl. Kapitel VII Karl Seb. Rauch * 1872 Kaltens. A Roßlau (?) Backsteinfabrikarbeiter in Roßlau a. d. Elbe  Elisabeth ... * .... A Roßlau (?) Joh. Kaspar Bittorf * .... A .... Pfeifenkopfschnitzer in Empfertshausen Emma Marg. Rauch * 1874 Kaltens. A .... o– o Ferdinand Rauch * 1880 Kaltens. A .... Mathilde Bittorf * 1893 Kaltens. A .... 282 Mathilde Rauch und ihre Familie den Nachbarort Unterkatz und gingen nach Eisenach. Mathilde war 1870 geboren und während einer Zeit aufgewachsen, in der die wirtschaftliche Situation ihrer Herkunftsfamilie erneut Probleme bereitete und in der kulturelles Kapital entwertet wurde. Tobias Rauch, ihr Vater, war 1882 als Hirte für die Gemeinde tätig. Mathilde fügte sich als Dienstmagd den Erfahrungen einer untergeordneten Position.847 Und Tobias Rauch mußte später, 1897, noch die Gelegenheit wahrnehmen, als Nachtwächter Einkünfte zu erzielen. Eine den Schmieden im 18. Jahrhundert vergleichbare Möglichkeit, zwischen Alternativen der Lebensplanung zu wählen, stand längst nicht mehr zur Verfügung. Räumliche und berufliche Mobilität, ein Merkmal vor allem der Geschichte der ´Porzens´, nahmen gegen Ende des 19. Jahrhunderts in der Familie zu. Anlaß dafür gaben vielleicht Erwartungen an eine bessere Zukunft in der Stadt, die die Nachkommen von Tobias Rauch und Anna Maria Porz II mit zahlreichen anderen Bewohnern der Region teilten.848 Ursache waren aber sicherlich mangelnder Besitz und eher prekäre Soziallagen im Heimatort. Handlungsvoraussetzungen und Praktiken am Ende des 19. Jahrhunderts deuten die Möglichkeit an, daß sich langfristig der ´gelegenheitsorientierte´ Habitus der Familie Porz gegenüber den Respektabilitätsansprüchen der Rauchs durchsetzen konnte.849 Gemeint ist damit vor allem auch die Frage, ob das auf innengeleiteten Strategien und einem ausgeprägtem beruflichen Ethos beruhende Selbstverständnis der Schmiedefamilie Rauch überdauerte oder ob unter den Bedingungen geringer beruflicher Qualifikationen und flexibler Anpassungsleistungen die außengeleiteten Strategien der ´Porzens´ verinnerlicht wurden. Die allgemeine These dazu ist, daß bei den Nachkommen der Familie beide Habitusmuster, mit im Einzelfall unterschiedlichen Gewichtungen und spezifischen Kombinationen überdauerten. Konkrete Aneignung und ´persönlicher Stil´ waren nicht determiniert und entsprechend nicht vorhersehbar; gleichwohl bildeten Gelegenheitsorientierung und Respektabilität den Rahmen und die Grenzen im ´Feld des Möglichen´ der Familienangehörigen. Es sind vor allem zwei Gründe, die es im weiteren erschweren, verschiedene Habitusprägungen klar abzugrenzen: Die Nähe zwischen verschiedenen Unterschichtmilieus und auch zu, dem Besitz nach, eher noch mittleren Sozialgruppen hat sich bereits in den Vergemeinschaftungen der ´Porzens´ gezeigt. Nach 847 Hinweise auf den Gesindedienst finden sich in der Bearbeitung der Familie Porz, vor allem in Abschnitt 2.2.1.1. in diesem Kapitel. 848 Die Abwanderung in die Stadt bei den Rauchs entsprach der nach 1880 rückläufigen Bevölkerungsentwicklung in der Region. Vgl. dazu Abschnitt 1.1. in diesem Kapitel 849 Vgl. die Gegenüberstellung von Habitus und Kohäsionsmustern auf S.264 283 dem Abstieg der Rauchs blieben Differenzen zwischen beiden Familien zwar bestehen; sie hatten aber gegenüber den herausgearbeiteten Kohäsionsmustern an Deutlichkeit erheblich verloren. Die ´Porzens´ und Rauchs gehörten dann noch verschiedenen sozialen Milieus, aber gemeinsam der Unterschicht an. Der zweite Grund für das Problem der Abgrenzung von Habitusmustern liegt in den begrenzten Handlungsspielräumen der Unterschicht, die auch erforderten, Gelegenheiten wahrzunehmen, die dem eigenen Selbstverständnis widersprachen. Daß die Menschen in verwandten Soziallagen und Erwerbsgruppen verschiedene Varianten ähnlicher Mentalitäten praktizieren und eine eindeutige Unterscheidung von Mentalitätstypen innerhalb gesellschaftlicher Teilfelder schwierig ist, hat in den 1930er Jahren entsprechend Theodor Geiger thematisiert.850 Daß sich Lebenswege und eingegangene Beziehungen bei Geschwistern und deren Nachkommen unterscheiden, haben die Entwicklungen in den verschiedenen Linien der Schmiedefamilie Rauch angedeutet. Interessant wären sicherlich nähere Untersuchungen im Blick auf Unterschiede und Gemeinsamkeiten im Habitus von Eltern und vor allem auch von Geschwistern, zumal hier noch erheblicher Forschungsbedarf besteht.851 Die weitere Untersuchung der Nachkommen von Tobias Rauch und Anna Maria Porz II beschränkt sich auf die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Richard Schmidt und seinen Vorfahren, die Anlaß für die ausführliche Bearbeitung der Familiengeschichte war. Die konkrete These dazu ist, daß Richard Schmidt zum einen eine der Varianten tradierter Habitusmuster praktizierte, in denen Respektabilität mit der Wahrnehmung von Gelegenheiten spezifisch kombiniert wurde; dies, obwohl sein Vater, Christian Ferdinand Schmidt, auf den im weiteren einzugehen sein wird, eher noch das Muster der Gelegenheitsorientierung in der Familie verstärkte. Zum anderen lassen sich gewisse Ähnlichkeiten im Habitus von Richard Schmidt und dem seines Großvaters, Tobias Rauch, vermuten. Beide unterschieden langfristig vor allem ihre Handlungsspielräume; während Richard die Chance für einen begrenzten (Wieder-)Aufstieg erhielt, übernahm Tobias letztlich Gemeindedienste. Die These ist hier, daß der Großvater sich den Bedingungen seines Feldes anpaßte, ohne den Habitus der Schmiedevorfahren gänzlich aufzugeben. Schließlich bleibt noch über das Ende der kaltensundheimer Vorfahren von Richard 850 Geiger 1987 [1932]; vgl. auch Kapitel VI. und VII. 851 Bisher entstand im Rahmen der neueren Sozialstrukturanalyse und Habitusforschung dazu eine Arbeit, die zwei Brüder untersucht. (Vgl. Rabe 1998) Sie bestätigt Varianten, die in der Zugehörigkeit zu unterschiedlichen sozialen Milieus Ausdruck findet. Dabei handelt es sich um eine horizontale Differenz. Beide Brüder gehören zugleich derselben Gesellschaftsklasse an. 284 Schmidt zu berichten. Daß er seine Großeltern auch persönlich kannte, ist wohl anzunehmen. Tobias Rauch und Anna Maria Porz II verbrachten etwa 60 Jahre miteinander, und sie blieben im übrigen bis zuletzt ´auf der Bleiche´ wohnen. 1913, Richard Schmidt war inzwischen in Eisenach verheiratet, feierten sie ihre Goldene Hochzeit unter großer Beteiligung der Dorfbewohner, an die die kaltensundheimer Chronik erinnert.852 Am gleichen Tag wurde Tobias, “der Jubelbräutigam”, 86 Jahre alt und erfreute sich “(...) noch geistiger und körperlicher Frische (...)”.853 Knapp drei Jahre später wurde Richard Schmidts Großvater “in der Wohnstube erhängt aufgefunden”. Das Kirchenbuch gibt im weiteren darüber Auskunft, daß Tobias Rauch zuvor “schon längere Zeit bettlägerig” gewesen war und “(...) zuletzt sehr große Schmerzen (hatte)”. 1917, im Jahr darauf, starb Anna Maria Porz II. 852 “Das war eine Freude für unser ganzes Dorf. Freudenschüsse krachten, daß die Häuser wackelten, als unser gelbes Postkutschchen mit festlich bebänderten Pferden das Jubelpaar zur Kirche fuhr. Das Gotteshaus (...) war dicht besetzt (...).” (Marschall/Marschall o.J., S.25) 853 Ebd. 285 V. Ältere Vorfahren von Richard Schmidt väterlicherseits die unterkatzer Familie seit dem 18. Jahrhundert Christian Ferdinand Schmidt, Der Vater von Richard Schmidt, wurde 1863 in dem kleinen, im Meininger Unterland gelegenen, Dorf Unterkatz geboren. Seine Familie lebte dort seit dem 18. Jahrhundert. Auf sie wird nur vergleichsweise kurz eingegangen, mit dem Ziel, das Spektrum von Habitusvarianten zu überprüfen, dem sich die unmittelbare Verwandtschaft von Richard Schmidt insgesamt zuordnen läßt. Die unterkatzer Familie Schmidt kam darin dem Muster der Gelegenheitsorientierung sehr nahe, das für die ´Porzens´ herausgearbeitet werden konnte (siehe S.264). Beide Familien waren arm an Besitz und entsprechend flexibel in ihren Handlungsstrategien. Die Schmidts praktizierten eine andere Variante der Gelegenheitsorientierung als die ´Porzens´, weil sie weniger räumlich und eher beruflich mobil waren. Sie waren keine Weber, zumindest nicht als solche angegeben. Das schließt nicht aus, daß sie beispielsweise in den Wintermonaten entsprechendem Erwerb nachgingen. Die Angehörigen der Familie Schmidt waren als Tagelöhner bzw. Handarbeiter und als Maurer notiert, wobei sich unter den älteren Angehörigen auch ein Knecht und zwei Hirten finden. Daß sich die unterkatzer Vorfahren von Richard Schmidt eher beruflich umstellten, hat auch mit den Gegebenheiten in Unterkatz zu tun, wo es keine proto-industrielle Entwicklung wie in Kaltensundheim gab. Auf den Heimatort von Christian Ferdinand Schmidt, in dem auch Richard aufwuchs, wird ebenfalls nur kurz eingegangen, um Unterschiede und Gemeinsamkeiten in den Handlungsvoraussetzungen und -spielräumen der kaltensundheimer und unterkatzer Vorfahren der Familie aufzuzeigen. 286 1. Das Dorf Unterkatz: Kleinbäuerliche Strukturen ohne gewerbliche Verdichtung Unterkatz, nur wenige Kilometer von Kaltensundheim entfernt,1 gehörte seit 1680 zum damals neu entstandenen Herzogtum Sachsen-Meiningen.2 Das Dorf zählte weniger Bewohner als Kaltensundheim.3 Die Verluste im 30jährigen Krieg reduzierten die Zahl der Familien auf vier im Jahr 1649 gegenüber 73 im Jahr 1618.4 Der Pfarrer notierte 1639 nur noch “etwa 29 Seelen” im Dorf, an anderer Stelle wird die Zahl der Bewohner auf in dem Jahr 39 beziffert.5 1644 berichtet die Kirchenchronik, daß nach sieben Jahren “endlich wieder ein Kind hier geboren” wurde.6 In der Folgezeit stieg die Zahl der Unterkatzer. Die Kirchenchronik hält für das Jahr 1717 insgesamt 261 Einwohner in 65 Haushalten fest. Ihre Zahl stieg bis 1810 auf 3147 und lag etwa Mitte des 19. Jahrhunderts dann bei 492 in 98 Familien8. Demnach wuchs die Bevölkerung in diesem Zeitraum um über 55%.9 Gegenüber den 570 Bewohnern der Gemeinde Unterkatz im Jahre 187010 kam es in der Folgezeit, wie schon für Kaltensundheim und das Eisenacher Oberland festzustellen war, zu Abwanderungen. Im Jahr 1900 lebten noch 538 Menschen in dem Dorf.11 Dabei 1 Vgl. die Karte auf S.47 2 Unterkatz wurde zuerst im Jahr 852 erwähnt (vgl. Kahl 1996, S.52). Der Ort gehörte, wie Kaltensundheim, zunächst zum Gau Tullifeld, darin zum Untergau “Sand”. (Zur älteren Geschichte der Region vgl. Bach 1985 [1897], zur älteren Geschichte auf dem Gebiet des späteren Herzogtums Meiningen vgl. Brückner 1844) Die Bezeichnung “Sand” oder “im Sand” hielt sich im Volksmund bis mindestens ins 19. Jahrhundert und überdauerte das Amt Sand, zu dem Unterkatz seit Ende des 13. Jahrhunderts gehört hatte. Im 11. Jahrhundert war der Ort zur Grafschaft Henneberg gekommen. (Zu den Hennebergern vgl. Wölfing 1995) Nach Erlöschen des Hennebergischen Hauses im Jahr 1583 ging das Amt Sand an Sachsen, an die Wettiner. Mit der Erbteilung im Jahr 1660 gelangte es an das Herzogtum Gotha, das dann 1680 erneut geteilt wurde. Es entstanden dann, Merkmal der thüringischen ´Kleinstaaterei´, unter anderem die Herzogtümer Sachsen-Meiningen, zu dem Unterkatz dann kam, Sachsen-Hildburghausen und Sachsen-Römhild. Zur Geschichte Meiningens vgl. ausführlich bei Patze/Schlesinger 1967ff. Vgl. außerdem die Schriften des Vereins für Sachsen-Meiningische Geschichte (1888ff). Weitere Hinweise zur Geschichte Thüringens finden sich in Kapitel III. 3 Für Kaltensundheim vgl. Abschnitt 1.1. in Kapitel IV. 4 Vgl. Dreißigacker 1997, o.S. 5 Vgl. ebd. 6 Die Bevölkerungsverluste während der Zeit des 30jährigen Krieges sowie vergleichende Zahlen aus den Jahren 1843 bzw. 1849 finden sich für verschiedene meiningische Orte und Nachbargemeinden von Unterkatz bei Brückner. Vgl. Brückner 1845, ders. 1852 7 Vgl. Dreißigacker 1997, o.S. 8 Vgl. Brückner 1853, S.101. Später gibt Brückner 509 “Seelen” in 99 Familien an. Vgl. ebd., S.811 9 Die Zunahme entsprach der allgemeinen Bevölkerungsentwicklung. Vgl. Abschnitt 1.1. in Kapitel IV. 10 Vgl. Starke 1880, S.205 11 Vgl. Dreißigacker 1997, o.S. 287 spielte die überseeische Auswanderung im Herzogtum Meiningen in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts kaum eine Rolle, während die Binnenwanderung bedeutsam war.12 Die Ausdifferenzierung von Industrie- und ländlichen Regionen war Anfang der 1880er Jahre bereits deutlich an den Bevölkerungsdichten in den verschiedenen Bezirken abzulesen. Im Bezirk Wasungen, zu dem Unterkatz gehörte, kamen knapp 73 Einwohner auf einen Quadratkilometer, in den Bezirken Sonneberg und Pößneck waren es gut 148 bzw. mehr als 248.13 Zwischen 1833 und dem Beginn der 1880er Jahre wuchs die Bevölkerung im Bezirk Pößneck um 82%, im Bezirk Sonneberg verdoppelte sie sich annähernd (99%).14 In den landwirtschaftlichen Bezirken hingegen nahm die Zahl der Bewohner im gleichen Zeitraum nur um bis zu 25% zu15, wobei sie im Bezirk Wasungen mit am geringsten war (17,1%).16 Im Herzogtum Sachsen-Meiningen herrschte, wie im Eisenacher Oberland, “der mittlere und kleine Besitz” vor.17 Größere Güter machten nur einen kleinen Teil der landwirtschaftlichen Nutzflächen aus.18 Ihre Zahl war im Kreis Meiningen, dem der Bezirk Wasungen angehörte, vergleichsweise hoch.19 Heim zählte Wasungen dennoch zu den “ärmeren”20 der Bezirke, in denen vorrangig Landwirtschaft betrieben wurde. Und der kaltensundheimer Pfarrer faßte die Lage der Gemeinden Wasungens, die früher dem “Amt Sand”21 angehört hatten, mit der in der Gegend geläufigen Bemerkung zusammen: “Amt Sand, arm Land.”22 “Ackerbau und Viehzucht” sowie auch “Bienenzucht” waren die Haupterwerbszweige in Unterkatz. 1810 gab es 41 Bauern im Dorf, deren Betriebsgrößen nicht 12 Vgl. Heim 1883, S.4 13 Vgl. ebd., S.20 und ebd., S.3. Zur Entwicklung der Bevölkerung Thüringens in ländlichen und industriellen Regionen vgl. auch Abschnitt 1.1. in Kapitel IV. 14 Vgl. Heim 1883, S.3 15 Vgl. ebd. 16 Vgl. ebd, S.20 und ebd., S.3 17 Heim 1883, S.12 18 Vgl. ebd., S.7 19 “Domänengüter giebt es im Kreise Meiningen 16, im Kreise Hildburghausen 7; andere größere Güter lassen sich etwa 35 im Kreise Meiningen, 14 im Kreise Hildburghausen, 5 im Kreise Sonnenberg, 17 im Gerichtsbezirk Camburg, 9 in den übrigen Theilen des Kreises Saalfeld zählen. Die Größe dieser Güter ist sehr verschieden, eins der größten hat 343,8 ha, darunter 107,4 ha. Wald.” (Heim 1883, S.7) 20 Ebd. 21 Vgl. Anm.2 in diesem Kapitel 22 Vgl. entsprechend auch Brückner 1853, S.69 288 belegt sind.23 Ende der 1870er Jahre gab es 32 Grundbesitzer mit Betriebsgrößen von fünf und mehr Hektar.24 Die meisten von ihnen, 23, bewirtschafteten Flächen einer Größe von weniger als zehn Hektar.25 Die beiden größten Bauern verfügten über 19 bzw. 22 Hektar Land.26 Angehörige der Familie Schmidt waren nicht unter diesen auch namentlich angegebenen Bauern und kleineren Besitzern. Starke führte im weiteren noch die Wüstung Reifendorf mit einer Fläche von gut 41 Hektar an27, die Mitte des 19. Jahrhunderts einer Gemeinschaft von zehn Erben aus Oberund Unterkatz gehörte.28 Oberkatz ist das Nachbardorf, das, wie das ebenfalls nahegelegene Wahns, zur Pfarrgemeinde gehörte. Die unterkatzer Flur wurde größtenteils zum Anbau genutzt. Ertragreich war der Kartoffelanbau, hinter dem das Getreide zurückstand, dessen Erträge in der Kirchenchronik in “mittleren Erndtejahren” aber doch als “fast zureichend” eingeschätzt wurden. An anderer Stelle wurde ausführlicher aufgezählt, daß “(...) Waizen, Roggen, Gerste, Früh- und Späthafer, Erbsen, Linsen, Kartoffeln, Rüben, Flachs, rother Kopfklee (Esparsette und Luzerne nur vereinzelt) in meist guter Qualität, doch nicht überreichlich gebaut (...)” würden. Der Anteil an Wiesen im Dorf war ebenfalls nicht unbeträchtlich.29 Bedeutsam waren hier vor allem die Schaf- und auch die Rinderhaltung.30 Die Beurteilung der Landwirtschaft seitens der zeitgenössischen Beobachter fiel in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts ähnlich wie schon für Kaltensundheim dargelegt aus.31 Heim bezeichnete “(...) die natürlichen Bedingungen für den Ackerbau (...)” im Herzogtum Sachsen-Meiningen als “im Durchschnitt (...) nicht sehr günstig”.32 Dabei seien “(...) in den letzten Jahrzehnten auch bei den Bauern 23 Vgl. Dreißigacker 1997, o.S. 24 Vgl. Starke 1880, S.205 25 17 Grundbesitzer verfügten über Flächen der Größe von sechs bis neun Hektar. In sechs Fällen, unter ihnen auch die Pfarrei, wurden fünf Hektar bewirtschaftet. Vgl. ebd. 26 Bei sieben Bauern lag die Betriebsgröße zwischen zehn und 14 Hektar. Vgl. ebd. 27 Vgl. ebd. 28 Vgl. Brückner 1853, S.102 29 Für Mitte des 19. Jahrhunderts finden sich bei Brückner folgende Zahlen: “Die Flur enthält 1800 Ar. (980 Ar. Artland, 300 Ar. Wiesen und 370 Ar. Wald der Gemeinde und 150 Ar. der Wüstung Reifendorf) (...).” (Brückner 1853, S.101) Ar. = Acker = 0,28,5 ha 30 Brückner gibt Mitte des 19. Jahrhunderts insgesamt 998 Stück Vieh an, darunter 447 Schafe, 233 Rinder, 209 Schweine und 90 Ziegen. Vgl. ebd. An anderer Stelle werden davon leicht abweichende Zahlen auf der Grundlage der Gebäude-, Volks- und Viehzählung des Jahres 1852 genannt. Vgl. ebd., S.811. Für Meiningen vgl. entsprechend auch Heim 1883, S.6 31 Vgl. Abschnitt 1.2. in Kapitel IV. 32 Heim 1883, S.5 289 wesentliche Fortschritte gemacht”33 worden, die der unterkatzer Pfarrer in der Kirchenchronik ebenfalls betonte. Zugleich meinte Heim ein “(...) in manchen Ortschaften und Gegenden gleichgültiges Beharren im alten Schlendrian”34 zu beobachten. Die Klassifikationen entsprachen offenbar den allgemeinen Bewertungen der rhöner bäuerlichen Bevölkerung, wie sie bereits thematisiert wurden.35 Ebenfalls wurden die Bauern als “(...) in besserem Zustand” befunden als die ärmeren “vielen Hintersiedler”, die weniger “sparsam und rührig” eingeschätzt wurden.36 Und wie im Eisenacher Oberland gab es auch hier teilweise Klagen über den ´Branntweingenuß´ der Bevölkerung, wobei der kaltensundheimer Pfarrer Georgii doch auch hervorhob, daß “(...) der größere Theil der Bewohner” im Amt Sand “(...) höchst ehrenwerthe arme Bauern (...)” seien, die durch ungünstige Bodenbeschaffenheiten und “Güterzersplitterung” in das “tiefste Elend gestürzt” seien, dabei aber doch “nicht entsittlicht” würden. Gewerbebetrieb war für viele, auch kleinere Bauern der Region, unerläßlich, und die Unterscheidung zwischen Erwerbsgruppen oft, wie auch im Eisenacher Oberland, eher eine Frage der Gewichtung.37 Es gab aber keine Kaltensundheim vergleichbare proto-industrielle Entwicklung in der Gegend um Unterkatz, wenngleich auch hier “(...) von jeher die Spinnerei von Linnengarn und die Weberei grober Leinwand (...)” betrieben wurde.38 In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts waren, das berichtet die unterkatzer Kirchenchronik, Flachsanbau und Weberei im Amt Sand von der Regierung gefördert worden. Mitte des 19. Jahrhunderts gab es Weber vor allem in Hümpfershausen und Friedelhausen,39 Nachbardörfern von Unterkatz, dessen Pfarrer dann nach Einführung der Gewerbefreiheit im Jahr 1863 auch den Mangel an “Gewerbefleiß und Industrie” beklagte. In Unterkatz gab es im Jahr 1810 neun Weber, vier Schneider, zwei Metzger, drei Hufschmiede, zwei Wagner, zwei Maurer, die aus der Familie Schmidt kamen, einen Glaser, einen Strumpfwirker, einen Schuster “(...) und etliche arme Tagelöh- 33 Ebd., S.6 34 Ebd., S.7 35 Vgl. Abschnitte 1.2. und 1.4. in Kapitel IV. 36 Brückner 1853, S.101 37 Vgl. Heim 1883, S.2f, S.13. Für das Eisenacher Oberland und Kaltensundheim vgl. Abschnitt 1.2. in Kapitel IV. 38 Brückner 1853, S.69. Heim verwies zu Beginn der 1880er Jahre ebenfalls auf “die früher in den Bauerndörfern sehr verbreitete Handweberei (...)”. (Heim 1883, S.13) 39 Brückner 1853, S.69 290 ner”.40 Mitte des 19. Jahrhunderts berichtet Brückner, daß “(...) einige Nothgewerbe” die unterkatzer Bewohner “nähren”, und nennt in dem Zusammenhang “bes. Weber”,41 deren Zahl zwar nicht angegeben ist. Allerdings bezeichnete Brückner die “Industrie” des Verwaltungsamtes Wasungen als “im Ganzen gering”.42 Ende der 1870er Jahre wiesen Handwerk und Gewerbe im Dorf eine ähnliche Zusammensetzung und Verbreitung auf wie zu Beginn des Jahrhunderts.43 Es gab dann zwar 14 Weber44, deren Zahl allerdings auch im Verhältnis zur Bevölkerungsentwicklung kaum eine Zunahme bedeutete. Darauf, daß die Handweberei in den bäuerlichen Gebieten des Herzogtums Sachsen-Meiningen “sehr zurückgegangen (...) und noch nicht genügend ersetzt” worden sei, verwies Heim zu Beginn der 1880er Jahre.45 Die Landeschronik46 enthält dann für das Ende des 19. Jahrhunderts den Hinweis, daß im Amt Sand die Plüschweberei betrieben wurde, die aber scheinbar wenig Verbreitung fand. Erwähnt wurde lediglich, daß der “Faktor Wagner in Oepfershausen”, einem der Nachbarorte im Bezirk Wasungen, sie ´pflege´ und daß die Webstühle von der Regierung “(...) unentgeltlich an Weber abgegeben” worden seien.47 Die Gegend um Unterkatz blieb auch in der Folgezeit, bis in die Gegenwart, strukturschwach. Modernisierungen erreichten das Dorf mit entsprechender Verzögerung. Eine Wasserleitung wurde in Unterkatz 1922 gebaut. Für Straßenbeleuchtung und Schule gab es seit 1921 elektrisches Licht. 1923 wurden dann die meisten privaten Haushalte angeschlossen.48 Das traf für Kaltensundheim zwar ähnlich zu.49 40 Dreißigacker 1997, o.S. 41 Brückner 1853, S.101 42 Ebd., S.69. “(...) nur einige Zweige sind nennenswerth, indeß auch diese haben zum Theil gegen die frühere Zeit an Betrieb abgenommen.” Zu ihnen gehörten “(...) das Schuhmacherhandwerk und die Gerberei zu Wasungen, die Papierfabrikation zu Schwallungen (...) sowie die bereits erwähnte “Leinwandthätigkeit”. Ihr fehlten “in der letztern Zeit die Absatzmärkte”, allerdings sei neuerlicher “Schwung durch Absatz nach Süddeutschland gewonnen (...)”. Zuvor waren die Produkte “(...) meist nach den Hansestädten (...)” gegangen. (Ebd.) 43 Starke (1880) notierte dann, neben einem “Colonial- und Materialwaarenhandel”, drei Wirte, drei Maurer, sechs Müller, darunter ein Schneidemüller, zwei Schmiede, vier Schneider, einen Schreiner, einen Schuhmacher, zwei Wagner und einen Zimmermann. (S.205) 44 Vgl. ebd. 45 Heim 1883, S.13 46 Vgl. Human 1901 47 Ebd., S.33 48 Vgl. Dreißigacker 1997, o.S. 49 Vgl. Abschnitt 1.4. in Kapitel IV. 291 Verkehrsmäßig abgelegen, ohne Markt50 und ohne vergleichbaren Gewerbebetrieb, waren die Handlungsvoraussetzungen in Unterkatz langfristig aber doch andere. Daß sie für Familie Porz in Kaltensundheim deshalb wesentlich perspektivreicher waren als für die unterkatzer Familie Schmidt, läßt sich daraus allerdings auch nicht ohne weiteres folgern. Dadurch, daß die Landwirtschaft in Unterkatz stärker den Vorrang vor nicht-agrarischen Erwerbsquellen hielt, boten sich Besitzarmen vermutlich eher Möglichkeiten, als Tagelöhner Beschäftigung zu finden. Und daß Weberei und Tagelohn letztlich Varianten ähnlicher Notwendigkeiten und Lebenslagen sein konnten, wurde bereits am Beispiel der ´Porzens´ diskutiert.51 2. Hirten - Maurer - Tagelöhner: Das Muster der Gelegenheitsorientierung in der Familie Schmidt Wie in der kaltensundheimer Familie Porz, finden sich auch unter den unterkatzer Vorfahren von Richard Schmidt im 19. Jahrhundert lediggebliebene Frauen, uneheliche Kinder und erneut eine Verwicklung in einen Diebstahl in der näheren Verwandtschaft. Berufe und Heiratsbeziehungen der Familienangehörigen deuten auf wenig Besitz auch schon im 18. Jahrhundert. Im 19. Jahrhundert wird in der Kirchenchronik eine “Schmidtswiese” genannt, die entweder den direkten Vorfahren von Richard Schmidt oder einer anderen Familienlinie gehörte und die auf Möglichkeiten zur Viehhaltung verweist.52 Die dennoch prekären wirtschaftlichen Verhältnisse belegt unter anderem der Hinweis des Pfarrers darauf, daß Johann Heinrich überblick 7 einfügen, hier oder eine seite später, kommt auf photos an, die in teil zuvorSchmidt, der Großvater von Richard Schmidt, im Jahr 1871 auf Kosten der Gemeinde, mit einem “Armenleich”, begraben wurde. Begründet wurde die Familie Schmidt in Unterkatz von Johannes, einem Hirten, der 1727 von außerhalb in das Dorf kam.53 Über ihn ist viel mehr nicht bekannt. Sein 50 Marktflecken war die Nachbargemeinde Oberkatz 51 Vgl. Abschnitt 2.2.2. in Kapitel IV. 52 Auf die im Herzogtum Sachsen-Meiningen “fast überall” vorhandene “Gelegenheit”, Grundstücke zu pachten, verwies Anfang der 1880er Jahre Heim. (Vgl. Heim 1883, S.12) Ebenfalls konnten kleinere Besitzer “in vielen Orten” Weideflächen zur Viehhaltung nutzen, die ihnen nicht gehörten. “Im Uebrigen ist die gemeinsame Benutzung von Gemeindeland (Almenden) nur noch ausnahmsweise und dann nur in beschränktem Umfange zu finden.” (Ebd., S.13) 53 Vgl. Überblick VII, S.293. In Thüringen standen Hirten “(...) in der Regel (...) in einer Art Dienstverhältnis zur Gemeinde”. (Vgl. B. Schildt 1996, S.173) Daß sie Dorffremde waren, war scheinbar nicht unüblich. Vgl. den Hinweis ebd, S.104. Zu den Rechten und Pflichten der Hirten vgl. ausführlicher ebd., S.171ff 292 Überblick VII: Direkte Vorfahren von Richard Schmidt: Ahnentafel väterlicherseits, aus Unterkatz stammende Linie der Familie Hans Valtin Möller Knecht in Oberelzbach o– o Margarethe Röder Witwe Lorenz Möller * 1728 Unterkatz A .... Johannes Schmidt um 1727 Gemeindehirte in Unterkatz, zugewandert Johannes Schmidt * 1740 Unterkatz A .... Tagelöhner — — Johann Adam Schmidt * 1790 Unterkatz A 1847 Unterkatz Maurermeister Georg Heinrich Schmidt * 1776 Unterkatz A .... Maurer Nachkommen Maurer Marie Regina Gutjahr aus Wahns oder Oberkatz fünf weitere Kinder Johann Wilhelm Möller * .... Unterkatz A .... Schneider 1816 – – Johann Heinrich Schmidt jun. * 1833 Unterkatz A 1871 Unterkatz Maurergeselle fünf weitere Kinder Michael Heß aus Oepfershausen 1699 Schäfer in Unterkatz Eva Elisabethe Möller * 1793 Unterkatz A 1860 Unterkatz 1859 – – Henriette Barb. Elis. Heß * 1815 Walldorf A 1872 Unterkatz Tagelöhnerin, ledig Katharine Margarethe Heß * 1839 Unterkatz A 1887 Unterkatz Christian Ferdinand Schmidt * 1863 Unterkatz A 1936 Eisenach Handarbeiter/Stadtarbeiter sieben weitere Kinder Johann Andreas Heß * .... Unterkatz A .... Zimmergeselle 1890 – – 1875 – – Georg Ernst Landgraf * 1854 Oberkatz A 1920 Unterkatz Tagelöhner Mathilde Rauch * 1870 Kaltensundheim A 1932 Eisenach Dienstmagd/Hausierhändlerin Richard Schmidt * 1890 Unterkatz A 1933 Eisenach Arbeiter/Wartburgführer 1912 – – Vorfahren vgl. Überblick I Vorfahren vgl. Überblick VIII, IX Emma Auguste Illert *1890 Staßfurt A 1934 Eisenach Arbeiterin/Näherin 293 Sohn, ebenfalls ein Johannes Schmidt, wurde 1740 in Unterkatz geboren. Daß er Tagelöhner wurde, entsprach wohl am ehesten seinen Möglichkeiten. Es gab nur wenige Handwerke im Dorf, und Bauer konnte er nicht werden. Seine Ehefrau, Marie Regina Gutjahr, kam aus Oberkatz oder Wahns, einer der beiden Nachbargemeinden. Das in ökonomischer Hinsicht wie auch im Blick auf das kulturelle und soziale Kapital geringe Vermögen der Familie wurde in der nachfolgenden Generation aufgewertet. Die beiden Söhne von Johannes Schmidt und Marie Regina Gutjahr wurden Maurer. Johann Adam, 1790 geboren und vierzehn Jahre jünger als sein Bruder Georg Heinrich, qualifizierte sich zum Maurermeister. Eine ähnliche, vorübergehende leichte ´Aufwärtsbewegung´ hatte es auch in der Familie Porz gegeben, nur zu einem anderen Zeitpunkt. Für die Schmidts gab es Gelegenheit dazu noch am Ende des 18. Jahrhunderts, als bei den Barchentwebern eher schon Probleme auftraten. Das Maurerhandwerk breitete sich dann erst zunehmend im Dorf aus.54 In Unterkatz stellt Familie Schmidt auch die ersten Maurer. Maurermeister Johann Adam Schmidt war 26 Jahre alt, als er im Jahr 1816 Eva Elisabethe Möller heiratete.55 Bereits ihr Großvater, Lorenz Möller, war 1728 in Unterkatz geboren worden. Er war das außereheliche Kind der Witwe Margarethe Röder und von Hans Valtin Möller, der Knecht in Oberelzbach war. Eva Elisabethe Möllers Vater war dann Schneider, ein Beruf, den auch ihr älterer Bruder, Johann Heinrich, ergriff. Im Jahr 1804 war er an einem Einbruch im Pfarrhof beteiligt, bei dem, wie die Kirchenchronik berichtet, der “Pfarrer geknebelt und stark bestohlen” wurde. Johann Heinrich Möller flüchtete später aus dem meininger Gefängnis, kehrte dahin aber Ende 1807 krank zurück und starb im darauffolgenden Jahr. Mit Erwerb und Institutionalisierung seiner beruflichen Kompetenz konnte Johann Adam Schmidt seine soziale Position gegenüber den Vorfahren zwar verbessern. Wie sein Vater als Tagelöhner, fand er als Maurer aber ebenfalls kaum ganzjährige, sondern eher saisonale Beschäftigung. Die Familiengründung von Johann Adam Schmidt und Eva Elisabethe Möller fiel zeitlich mit der ersten großen Agrarkrise zusammen; die sozialen Probleme im weiteren Verlauf der ersten Hälfte des 19. 54 Zumindest “(wurde) bis ins ausgehende 18. Jahrhundert (...) der überwiegende Teil der Häuser auf dem Land aus Holz erbaut”. (Sieder 1987, S.101) 55 Vgl. Überblick VII, S.293 294 Jahrhunderts belasteten sicherlich auch die Schmidts.56 Schließlich blieben sie auch als Maurer nicht ohne Konkurrenz. Bereits 1812 hatte der aus Hümpfershausen stammende Maurer Georg Simon Arndt nach Unterkatz geheiratet. Seine Söhne folgten ihm beruflich. Und innerhalb der Familie Schmidt nahm die Zahl der Maurer ebenfalls zu. Johann Adam Schmidt und Eva Elisabthe Möller hatten sechs Kinder, die zwischen 1818 und 1836 geboren wurden: Johann Heinrich war der Großvater von Richard Schmidt. Sein älterer Bruder, Johann Christian, wurde Schullehrer in Walldorf. Über seinen Lebensweg ist zwar weiter nichts bekannt; die eher respektable soziale Position, in die Johann Christian gelangte, zeigt aber erneut an, daß es durchaus Handlungsspielräume und begrenzte Aufwärtsmobilitäten gab. Bei den anderen Kindern der Familie deuten die Hinweise eher auf eine Abstiegsmobilität. Der Vater, Johann Adam Schmidt, starb bereits 1847. Er hinterließ seine Ehefrau mit noch unversorgten Kindern, für die vermutlich die älteren Geschwister mit aufkamen. Die Tochter Anna Margarethe, 1830 geboren, blieb ledig. Im Herbst 1869 wurde sie tot “auf dem Felde” gefunden. Die Kirchenchronik berichtet, daß sie zwei Tage zuvor “nach milden Gaben nach Stepfershausen” gegangen war und sich auf dem Rückweg, auf dem sie in ein Unwetter geriet, vermutlich verirrt hatte. 56 Die Hinweise, die die unterkatzer Kirchenchronik auf Soziallagen, Ernten und Preisentwicklungen im 19. Jahrhundert gibt, entsprechen im wesentlichen denen, die für Kaltensundheim wiedergegeben wurden. (Vgl. Abschnitt 2.1.1.1. in Kapitel IV.) In Unterkatz wurde seit den 1830er Jahren als eine ´Arbeitsbeschaffungsmaßnahme´ vor allem der Straßenbau gefördert. 295 Anna Margarethe Schmidt ging demnach betteln. In den Familien ihrer Brüder war die Lage ebenfalls prekär. Dies auf jeden Fall bei Johann Heinrich, der zwei Jahre nach Anna Margarethe Schmidt starb und ein Armenbegräbnis erhielt. Vermutlich kaum besser ging es seinem fünfzehn Jahre älteren Bruder Johann Michael. Beide Brüder waren Maurergesellen. Das gegenüber dem Vater geringere institutionalisierte Kulturkapital war schon in den Familien Rauch und Porz ein Zeichen sozialen Abstiegs. Johann Michael Schmidt, der älteste Sohn von Johann Adam Schmidt und Eva Margarethe Möller, heiratete 1849 Katharina Margarethe Völker. Sie brachte ein uneheliches Kind mit in die Familie. Von den gemeinsamen Nachkommen der Eheleute wurde die älteste Tochter 1875 dann ebenfalls ledig Mutter; einer der Söhne erhängte sich. Johann Michael Schmidt starb 1876, nachdem er, wie die Kirchenchronik berichtet, bei der Arbeit vom “hinteren Pfarrhausdache” gestürzt war. Der 1833 geborene Johann Heinrich schließlich, Großvater von Richard Schmidt, heiratete 1859 Katharine Margarethe Heß. Sie war eins der beiden unehelichen Kinder von Henriette Barbara Elisabethe Heß, einer lediggebliebenen Tagelöhnerin, die in Walldorf geboren war.57 Aus Walldorf kam die Mutter von Henriette Barbara, der Vater war Zimmergeselle in Unterkatz. Er gehörte zur Enkelgeneration von Michael Heß, der die Familie um 1700 im Dorf begründet hatte. Michael Heß kam aus dem nahegelegenen Oepfershausen, war 1693 zunächst Schäfer in Rippershausen, 1699 dann in Unterkatz. Der Kirchenchronik ist zu entnehmen, daß im Jahr 1717 die Witwe von Michael Heß, deren Herkunft nicht bekannt ist, “jetzo Gemeindeschäferin” war. Johann Heinrich Schmidt und Katharine Margarethe Heß hatten gemeinsam sechs Kinder. Christian Ferdinand, der Vater von Richard Schmidt, war das erste überlebende Kind nach zwei Totgeburten: 57 Vgl. Überblick VII, S.293. Das zweite uneheliche Kind von Henriette Barbara Elisabethe Heß war ein Sohn; 1843 geboren, wurde er Maurer in Unterkatz. 296 Johann Heinrich Schmidt, der seinen Vater früh verloren hatte, starb bereits 38jährig. Zwei Monate nach seinem Tod wurde der jüngste Sohn, Heinrich Christian, geboren; Christian Ferdinand, der älteste, war gerade acht Jahre alt. Die Gemeinde kam dann sicherlich nicht nur für die Beerdigung seines Vaters auf, sondern mußte auch die hinterbliebene Familie unterstützen. 1874, drei Jahre nach dem Tod von Johann Heinrich Schmidt, brachte seine Witwe Katharine Margarethe ein uneheliches Mädchen zur Welt, erneut eine Totgeburt. Der Vater des Kindes war Georg Ernst Landgraf, ein Tagelöhner.58 Er war fünfzehn Jahre jünger als Katharine Margarethe und kam aus Oberkatz. Georg Ernst Landgraf wurde der Stiefvater von Christian Ferdinand Schmidt. Er und Katharine Margarethe heirateten 1875; kurz darauf wurde ihre zweite Tochter geboren, die zweijährig starb. Es folgten drei weitere Totgeburten, bis 1880 schließlich noch Heinrich Gustav geboren wurde, der später als Ziegelarbeiter in Unterkatz eine Familie gründete. Eva Rosine Schmidt, eine Tochter aus der ersten Ehe von Katharine Margarethe, blieb ledig; sie hatte zwei uneheliche Kinder. Für ihren Bruder Christian Ferdinand Schmidt war naheliegend, daß er als Handarbeiter einer dem Tagelöhner im wesentlichen entsprechenden Beschäftigung nachging. Er folgte damit seinem Stiefvater, knüpfte aber auch an die eigenen Vorfahren an. Der Urgroßvater war im 18. Jahrhundert ebenfalls Tagelöhner gewesen, und die beiden Maurer der Familie folgten gewissermaßen einer anderen Variante saisonaler Arbeit. Nicht abhängig 58 Vgl. auch Überblick VII, S.293 297 beschäftigt war nur der Maurermeister und Großvater von Christian Ferdinand, Johann Adam Schmidt. Handlungsspielräume, -ziele und -strategien der Schmidts waren denen der kaltensundheimer Weberfamilie Porz im wesentlichen ähnlich.59 Besitzarmut bewirkte auch bei den unterkatzer Vorfahren von Richard Schmidt eher an Gelegenheiten orientierte Strategien, die in den Erwerbsvarianten zum Ausdruck kommen. Hinter dem Ziel der Einkommenssicherung mußte der mögliche Wunsch nach beruflicher Selbständigkeit letztlich zurückstehen. Soziale Anerkennung konnte ebenfalls kaum ein zentrales Motiv sein. Anstrengungen mußten vorrangig dem Ziel gelten, materielle Grundlagen für ein selbständiges Leben im Sinne der Unabhängigkeit von Unterstützung anderer zu schaffen. Dabei hat Gerhard Schildt auch die “Anspruchshaltung”, das heißt die Auffassung, von der Gemeinde oder Kirche selbstverständlich versorgt werden zu müssen, als einen Zug in der Mentalität der Tagelöhner herausgearbeitet60, der sicherlich für andere Angehörige der Unterschicht ebenfalls vermutet werden kann.61 Diese Anspruchs- oder Versorgungshaltung entsprach der spezifischen Inkorporation langfristig geringer Lebenschancen und Erfahrungen von Unterordnung und Abhängigkeit. Daß sie auch in den Familien Schmidt und Porz ausgeprägt war, ist durchaus denkbar. Den Nachkommen des Maurermeisters Johann Adam Schmidt, die offenbar untersten Soziallagen angehörten, gelang es auf jeden Fall nur schwer, selbst für ihren Lebensunterhalt zu sorgen. Wirtschaftlich prekäre Verhältnisse sind aber auch für ihre Vorfahren schon anzunehmen. In dem Muster sozialer Kohäsion62, das für Familie Porz bereits herausgearbeitet wurde, läßt sich in der abschließenden Darstellung die genannte Versorgungshaltung aufnehmen. Die Anlehnung an fürsorgende Institutionen und Personen ist 59 Vgl. Abschnitte 2.2.2. und 2.3. in Kapitel IV. 60 Vgl. G. Schildt 1986, S.91ff. Als einen anderen Aspekt in der Mentalität ländlicher Tagelöhner nennt G. Schildt den “Anspruch auf fremdes Eigentum” (vgl. ebd., S.93ff), wobei die Quellen auf Veränderungen im Laufe des 19. Jahrhunderts verweisen. War es in der ersten Hälfte des Jahrhunderts die Not, die zum Diebstahl geradezu zwang, wurde später fehlendes Unrechtsbewußtsein beklagt. (Vgl. ebd., S.93f) 61 Braun arbeitet am Beispiel der Weber im Zürcher Oberland unterschiedliche ´Krisenstrategien´ heraus, die zugleich Habitusdifferenzen markieren: Die Heimarbeiter, denen noch Grundbesitz verblieb, scheuten sich eher, Armenfürsorge zu beanspruchen. Sie hatten dazu auf der Grundlage mehr oder minder kleinbäuerlicher Erwerbsgrundlagen auch bessere Voraussetzungen als die Landlosen, von denen ebenfalls viele zu den sog. ´Stillarmen´ gehörten. (Vgl. Braun 1979, S.235f) Weniger “Selbstachtung” zeigten “(...) die Menschen, die nicht nur materiell von der Verlagsindustrie abhängig sind, sondern sich auch geistig-seelisch ganz an diese neue Daseinsform binden. (...) Sowenig diese Heimarbeiter den Gang zur Armenbehörde scheuen, sowenig kennen sie auch moralische Bedenken, den Bettelstab zu ergreifen. (...)”. (Ebd., S.236f) 62 Vgl. S.264 298 als eine Strategie zu verstehen, mit der Interessen vertreten und Krisen begegnet wurde.63 Er kann den Strategien, mit denen Interessen vertreten und Krisen begegnet wurden, zugeordnet werden. Auf dieser Handlungsebene waren sich ´Porzens´ und Schmidts insgesamt sehr nah. Beide folgten individuellen Anpassungsstrategien, waren beruflich oder räumlich mobil. Die Weber schlossen sich nicht zusammen, sondern blieben ´vereinzelt´ und versuchten, ihre Arbeitskraft im Krisenfall billiger als ihre Konkurrenz zu verkaufen.64 Ähnlich bemerkt Gerhard Schildt für die Tagelöhner eine politisch eher passive Haltung. Ungleichheit und “Spannungen innerhalb der ländlichen Gesellschaft” wurden als ein soziales, aber nicht zugleich auch als ein politisches Problem aufgefaßt.65 Daß Möglichkeiten politischer Teilhabe nicht genutzt wurden66, entsprach der langfristigen Erfahrung persönlicher Ohnmacht und ´Unabänderlichkeit´ der eigenen Lage. Sie bewirkte vermutlich sowohl bei den Schmidts wie auch bei den ´Porzens´ eher “(...) Mißtrauen und Groll gegen ´die das oben´ (...)”.67 Beide Familien waren nicht in höheren Gemeindefunktionen tätig.68 Bei Christian Ferdinand Schmidt, dem Vater von Richard, ist auch unklar, ob er den Nachbarstatus bzw. das Bürgerrecht in Unterkatz erwarb.69 Bei seiner Eheschließung findet sich kein entsprechender Vermerk im Kirchenbuch. Seine Vorfahren waren Nachbarn, wobei damit verbundene Rechte durch beanspruchte Armenfürsorge eventuell auch verwirkt wurden. Die Situation der ´Porzens´ und der Schmidts war hier wiederum ähnlich, und vermutlich waren auch letztere nicht im Feld der Politik, der Kirche und der größeren Bauern vergemeinschaftet. Die sozialen Beziehungen der unterkatzer Vorfahren von Richard Schmidt sind zwar nicht ausführlich wie die der kaltensundheimer Familien recherchiert. Belegt sind aber Verbindungen mit Unterprivilegierten und ebenfalls ´illegitime´ Praktiken im Beziehungsfeld der Schmidts. Auszugehen ist vermutlich davon, daß zu diesem Feld im weiteren auch respek- 63 Dieser Handlungsebene ist sie auch der abschließenden Darstellung der Kohäsionsmuster zugeordnet. Vgl. S.301 64 Vgl. auch Abschnitt 2.3. in Kapitel IV. 65 G. Schildt 1986, S.107 66 Vgl., am Beispiel der Wahl zur Frankfurter Nationalversammlung im Jahr 1848, ebd., S.108ff. 67 Ebd., S.101 68 Nachweislich seit 1659 bestand das ´Kollegialorgan´, daß Schultheißen und eventuelle Heimbürgen unterstützte, in Unterkatz aus vier Mitgliedern (“Vierer”). 1841 gab es einen ´Gemeindeausschuß´, dem sechs Personen angehörten, 1897 bestand ein ´Gemeinderat´, den neun Mitglieder bildeten. Vgl. Dreißigacker 1997, o.S. 69 Zum Nachbarrecht vgl. ausführlicher Abschnitt 2.1.1.3. in Kapitel IV. Mitte des 19. Jahrhunderts betrug das Nachbargeld in Unterkatz 40fl., das Einkaufsgeld 20fl. (Vgl. Brückner 1853, S.101) 299 table Familien und ´mittlere´ Besitzer gehörten, daß also in Unterkatz die Milieugrenzen ähnlich ´durchlässig´ waren wie in Kaltensundheim.70 ´Porzens´ und Schmidts unterschieden sich vor allem in der Art ihrer Mobilität. Daß die unterkatzer Familie langfristig im Ort wohnen blieb, wirkte sich auf der Ebene der Alltagsbeziehungen aus. Es bestanden zum einen eher Möglichkeiten, soziale Beziehungen dauerhaft aufrecht zu erhalten. Dabei verweisen die ledigen Mütter, die mit den Vätern ihrer unehelichen Kinder nicht zusammenlebten, auf zugleich auch flüchtige Verbindungen. Zum anderen unterstand die Familie Schmidt tendenziell eher noch der sozialen Kontrolle im Dorf. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts trug dazu auch das selbständig ausgeübte Maurerhandwerk bei. Während die kaltensundheimer Weber relativ unabhängig vom lokalen Markt produzierten, kamen die Kunden von Johann Adam Schmidt aus seinem Dorf und er stand mit ihnen in direktem Kontakt. Die eigenen Vorstellungen von Sexualmoral und Familie, auf die Gerhard Schildt bei den Tagelöhnern verweist71 und die auch Angehörige der Schmidts praktizierten, sprechen wiederum für die Tendenz, sich der sozialen Kontrolle zu entziehen. Schließlich ging mit dem Erwerbsleben der unterkatzer Vorfahren von Richard Schmidt vermutlich eine gegenüber der Weberfamilie Porz stärkere innerfamiliäre Arbeitsteilung einher. Gleichzeitig ist aber anzunehmen, daß sich die Schmidts hier ebenfalls nicht unflexibel verhielten, sofern sich Gelegenheiten boten, die Wintermonate mit der Weberei zu überbrücken.72 Nachfolgend sind die Grundmuster sozialer Kohäsion in den Herkunftsfamilien von Richard Schmidt noch einmal zusammenfassend, erweitert um die unterkatzer Vorfahren, dargestellt. Als Richards Eltern, Mathilde Rauch und Christian Ferdinand Schmidt, 1890 heirateten, hatten sich diese Muster teilweise verändert. In Kaltensundheim hatten der Abstieg der Schmiedefamilie und die Verbindung von Tobias Rauch und Anna Maria Porz II Varianten befördert, in denen Respektabilitätsansprüche bescheidener ausfielen und mit Erwerbsgelegenheiten kombiniert wurden, die in der Praxis der älteren ´Porzens´ wie auch der unterkatzer Familie Schmidt nicht ungewöhnlich waren.73 70 Vgl. dazu Abschnitt 2.3. in Kapitel IV. 71 Vgl. G. Schildt 1986, S.96ff 72 Vgl. dazu den vorangegangenen Abschnitt 1. 73 Vgl. auch Abschnitt 2.4. in Kapitel IV. 300 Grundmuster sozialer Kohäsion in den Herkunftsfamilien von Richard Schmidt Schmiedefamilie Rauch Weberfamilie Porz Maurer-,Tagelöhnerfamilie Schmidt Vergemeinschaftung: - relativ breit gestreute Beziehungskreise, - relativ begrenzte Beziehungskreise, eher im - Beziehungen im Feld der ´illegitimen´ Kultur und Alltagsbeziehungen, eher im ´mittleren´ Feld respektabler Feld der ´illegitimen´ Kultur und der der unterprivilegierten Familien; vermutlich auch ´Heiratskreise´ Familien; Kontakte auch im Feld der unterprivilegierten Familien; Kontakte auch Kontakte im ´mittleren´ Feld respektabler Fam. ´legitimen´ und der ´illegitimen´ Kultur im ´mittleren´ Feld respektabler Familien bei insges. eher begrenzten Beziehungskreisen - eher beständige, dauerhafte Beziehungen - tlw. unbeständige, flüchtige Beziehungen - eher beständige, tlw. flüchtige Beziehungen - eher hohe soziale Kontrolle - eher geringe soziale Kontrolle - eher geringe, nur zeitweilig höhere, soziale Kontrolle Habitus: Handlungsziele und -strategien, Deutungsmuster - eher patriarchalisch, stark ausgeprägte innerfamiliäre Arbeitsteilung - eher geringe Flexibilität und Mobilitätsbereitschaft - eher an Respektabilität und Selbständigkeit orientiert, abgrenzende Haltungen soziale Positionen, ausgeprägte innerfamiliäre Arbeitsteilung - eher ausgeprägte innerfamiliäre Arbeitsteilung, zeitweise auch variable Handhabung - eher hohe Flexibilität und - eher hohe Flexibilität und Mobilitätsbereitschaft Mobilitätsbereitschaft - eher an Einkommen und Gelegenheiten orientiert, geringe Abgrenzungen - eher an Einkommen und Gelegenheiten orientiert, geringe Abgrenzungen - eher innengeleitet - eher außengeleitet - eher außengeleitet - eher methodische Lebensführung, - eher improvisierend, Leben im - eher improvisierend, Leben im längerfristige Planungen Vergesellschaftung: - eher partnerschaftlich, geringer - kleinbäuerliche Existenzgrundlagen, dabei auch Prekarität ´Hier und Jetzt´ - Besitzarmut, weitgehend prekäre bis unterste Soziallagen ´Hier und Jetzt´ - Besitzarmut, weitgehend prekäre bis unterste Soziallagen Handlungsspielräume ´Krisenstrategien´ und Interessenvertretung 301 - Mobilisierung sozialen Kapitals im Feld von Politik und Kirche - Mobilisierung von Anpassungsstrategien, - Mobilisierung von Anpassungsstrategien, auch von Versorgungs- oder Anspruchs- auch von Versorgungs- oder Anspruchs- haltungen haltungen VI. Familie Schmidt in Eisenach Mathilde Rauch und Christian Ferdinand Schmidt, die im Jahr 1890 als Dienstmagd und Handarbeiter heirateten, blieben bis 1906 in Unterkatz. Christian Ferdinand arbeitete als Tagelöhner. Die Möglichkeiten für Nebenbeschäftigungen waren begrenzt. Bereits Anfang der 1880er Jahre führte Heim an, daß es “(...) in manchen ärmeren Orten der Bezirke Wasungen und Meiningen (...) an genügender Gelegenheit dazu (...)” fehle und “die Bevölkerung nur bei großer Einschränkung im Stande” sei, “sich zu behaupten (...)”.1 In Unterkatz änderte sich daran auch in der Folgezeit kaum etwas. Schwierige Lebensverhältnisse galten dann langfristig nicht nur für Mathilde Rauch und Christian Ferdinand Schmidt. Wenig aussichtsreiche Perspektiven für ihre heranwachsenden Kinder gaben vielleicht zusätzlichen Anlaß, den Ort zu verlassen. Bis 1904 waren sieben Kinder geboren, das achte kam zur Welt, nachdem die Familie nach Eisenach gezogen war: Auf die Geschwister von Richard Schmidt wird im weiteren nicht näher eingegangen. Über ihren Werdegang ist wenig bekannt; dies trifft vor allem auf seine Schwestern zu. Darauf, daß die 1895 geborene Maria Emma früh verstarb, deutet das unterkatzer Seelenbuch, dem allerdings kein Datum zu entnehmen ist. Der Sohn von Richard Schmidt, im weiteren Herr Schmidt jr. genannt2, erinnert sich, daß auch 1 Heim 1883, S.13. Heim schätzte die Lage der Fabrikarbeiter zu dem Zeitpunkt bereits als günstiger ein. (Vgl. ebd.) 2 Erste Kontakte mit dem damals 77jährigen Sohn von Richard Schmidt entstanden im Jahr 1996. Es folgten mehrere Besuche bei Herrn Schmidt jr. und seiner Ehefrau. Die geführten Gespräche wurden überwiegend aufgezeichnet. 302 sowohl die neun Jahre jüngere Karolin Thekla wie, nach längerer Krankheit, ihr älterer Bruder Heinrich Hugo frühzeitig in Eisenach verstarben. Heinrich Hugo sei Steinmetz gewesen. Olga, die älteste Tochter der Familie, sei nach Leipzig gegangen. Bei den Brüdern Christian und Richard Schmidt, dem jüngsten und dem ältesten Sohn der Familie, deutet sich an, daß das in der Geschichte der Familie tradierte Repertoire an Milieu- und Habitusvarianten auch bei den Nachkommen von Mathilde Rauch und Christian Ferdinand Schmidt verschieden angeeignet wurde. Beide blieben, wie der Vater, ungelernt, erreichten das erwerbsfähige Alter allerdings zu unterschiedlichen Zeiten. Richard, der älteste, trug vermutlich bereits in Unterkatz zum Einkommen der Familie bei, hatte aber vergleichsweise geringere Chancen auf eine Ausbildung. Er verfügte über mehr oder weniger autodidaktisch angeeignete Kompetenzen, die er schließlich doch gewinnbringend nutzen konnte. Ihm gelang ein begrenzter Aufstieg. Anders Christian, der jüngste Sohn der Familie. Er wuchs in Eisenach auf. Auf begrenzte Handlungsspielräume für ihn verweisen die hohen Arbeitslosenzahlen in Eisenach nach dem Ersten Weltkrieg.3 Christian hatte zwar einen Ausbildungsplatz. Er sei aber, erzählt Herr Schmidt jr., ein “(...) Hans in allen Gassen (...)” gewesen. “Dreimal die Lehre abgebrochen, nicht ausgelernt und und und.” Nach dem Zweiten Weltkrieg saß Christian eine zeitlang im Gefängnis; die Ursache dafür ist nicht bekannt, “´das ist ein falscher Irrtum´, hat er gesagt”.4 Auf das Spektrum unterschiedlicher Handlungsstrategien und die mögliche Nähe von Respektabilitäts- und Gelegenheitsorientierungen weist dann auch eine Bemerkung, mit der Herr Schmidt jr. seine Verwandtschaft zusammenfaßt: “Sie haben gearbeitet, fleißig, sie haben sich durchgeschlagen durch´s Leben, so gut wie es ging.” Schließlich, so das Fazit des Familiennachkommen, sind es “(...) im Grunde genommen (...) alles anständige, ordentliche Menschen geworden. In ihrem Milieu. (...) Außer das, was ich vom Christian eben erzählt habe, ist kein Mensch kriminell geworden oder sonst was. Es ist alles ganz normal verlaufen. Damals hat man gesagt: in ärmlichen Verhältnissen.” 3 Vgl. nachfolgenden Abschnitt 1. 4 Herr Schmidt jr. hat nach dem Krieg eine zeitlang “(...) im Konsum Brot ausgefahren, ins Gefängnis hier, da bin ich immer hinein und kamen die Gefangenen raus und auf einmal kommt Christian und hält die Arme auf fürs Brot (...)”. 303 1. Eisenach: Industrie und Fremdenverkehr der Aufstieg und die Krisen in den 1920er Jahren Die Residenzstadt Eisenach entwickelte sich nach 1871 von der “Kleinstadt” zur “Mittelstadt”.5 Fremdenverkehr und Industrie, die beide bedeutsam waren, nahmen zu. Es stieg die Zahl der Besucher von Wartburg und Thüringer Wald ebenso wie die Zahl der Industriebetriebe und Beschäftigten. Bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts waren die Kammgarnspinnerei und eine Farbenfabrik in Eisenach gegründet worden; 1868 nahmen die Brüder Demmer die Herstellung von “Koch-, Bratund Backapparaten” in einem sich in der Folgezeit allmählich vergrößerndem Betrieb auf. In den 1870er Jahren folgte unter anderem eine landwirtschaftliche Maschinenfabrik, 1897 eine Möbelfabrik. Seit 1898 wurden in einer Fahrzeugfabrik Fahrräder, “Kraftwagen und Heeresgerät” hergestellt. Der Betrieb wurde nachher als DIXI-Werk bekannt und schließlich von den Bayerischen Motorenwerken übernommen.6 Die Zahl der Einwohner lag Ende des 19. Jahrhundert bei 32.000 gegenüber 13.000 im Jahr 1870.7 Das Wachstum hielt auch an, als Familie Schmidt im Herbst 1906 nach Eisenach kam.8 Die Stadt wurde im gleichen Jahr “Badeort”.9 Drei Jahre zuvor hatte eine Schaltapparate-Gesellschaft die Produktion aufgenommen; 1907 folgten eine Maschinenfabrik und Eisengießerei sowie ein Metallwerk, das Fahrrad- und Automobil-Zubehörteile fertigte. Im Jahr 1909 nahm eine Spezialfabrik für Elektromagnet-Apparate den Betrieb auf10; in diesem Magnetwerk war später auch Richard Schmidt beschäftigt. Es war vermutlich Schauplatz der eingangs erinnerten Geschichte, in der er sich für die Reparatur einer defekten Maschine nicht hinreichend anerkannt gefühlt hatte.11 5 Helmbold 1936, S.117. Zur älteren Geschichte Eisenachs bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts vgl. Bergmann 1994; vgl. auch Helmbold 1929, ders. 1936 6 Vgl. Helmbold 1936, S.118f. Vgl. entsprechend Demmer 1929, S.126ff 7 Von 1870 bis 1882 stieg die Einowhnerzahl auf 20.000; während dieser Zeit kamen 2.000 Wohnhäuser hinzu. Nach 1884 stagnierte die Bevölkerungszahl, 1899 war sie gegenüber 1889 um 11.000 gestiegen und lag dann bei 32.000. (Vgl. Helmbold 1936, S.117) 8 Einen “kleinen Rückgang” in der Bevölkerungsentwicklung hatte es zu Beginn des 20. Jahrhunderts gegeben, zu dem die “ungünstige Lage” der Fahrzeugfabrik beitrug. (Vgl. ebd.) 9 Vgl. ebd. 10 Zu den Betriebsgründungen vgl. Demmer 1929, S.129ff, Helmbold 1936, S.119. Zur wirtschaftlichen Entwicklung Thüringens bis 1914 vgl. Hess 1991, S.299ff 11 Vgl. Kapitel II. 304 Die Zahl der Einwohner Eisenachs stieg zwischen 1904 und 1914 von 34.000 auf 45.000.12 In den Jahren nach dem Krieg herrschten Wohnungsnot, Arbeitslosigkeit und Versorgungsmängel.13 Bis 1923 gab es wiederholt Streiks und Demonstrationen, Auseinandersetzungen aus Anlaß sozialer und politischer Probleme. Mehrfach wurde der “Ausnahmezustand” verhängt; dies unter anderem 1920, als im Zusammenhang mit Unruhen im Anschluß an den Kapp-Putsch eine “Reichswehrbrigade” in Eisenach “einmarschierte”, was sich im Herbst 1923 wiederholte.14 Anfang der 1920er Jahre siedelten sich neue Unternehmen in der Stadt an. Die Situation auf dem Arbeitsmarkt blieb instabil, beruhigte sich aber vorübergehend. Im Frühjahr 1922 hatte Eisenach “(...) gegenüber gleichgroßen Städten Thüringens die wenigsten Erwerbslosenunterstützungsempfänger (zur Zeit 153) und die höchsten Vermittlungsziffern”.15 1923 verschlechterte sich die Situation erheblich. “Die Zahl der Vollerwerbslosen, Kurzarbeiter und Zuschlagsempfänger stieg mit Ausnahme der Monate August und September kontinuierlich an, von 233 (Januar) auf 4.635 (November).”16 Parallel dazu verlor die Reichsmark zunehmend an Wert. Bereits im September des Vorjahres hatte die Stadt 15 Millionen Mark “Notgeld” gedruckt; in den letzten Monaten des Jahres 1923 wurden insgesamt etwa 9.000 Billionen Mark gedruckt.17 Die Zahl der Eheschließungen und Geburten in Eisenach sank. Gleichzeitig, zum Teil aufgrund von Eingemeindungen, stieg die Zahl der Bevölkerung. Im Herbst 1919 zählte die Stadt gut 39.400 Einwohner; Mitte des Jahres 1924 waren es fast 43.900.18 In der Folgezeit beruhigte sich der Arbeitsmarkt, blieb langfristig aber instabil. 1924 gab es 2.170 “Vollerwerbslose und Zuschlagsempfänger”, wobei die tatsächliche Zahl der Arbeitslosen höher lag.19 Am günstigsten war die Situation dann 1828: “Im September zählte das Arbeitsamt 617 Arbeitssuchende und 295 Unterstützungsempfänger.”20 Die wirtschaftliche Lage der beiden größten Unternehmen Eisenachs, Kammgarnspinnerei und DIXI-Werke, war zu dem Zeitpunkt durchaus aussichts12 Vgl. Helmbold 1936, S.117 13 Vgl. dazu Brunner 1994 14 Vgl. ebd., S.8ff 15 Ebd., S.10 16 Ebd. 17 Vgl. ebd. 18 Vgl. ebd., S.13 19 Ebd., S.16 20 Ebd. Im Dezember 1927 war noch 1.313 Arbeitslosen die “Erwerbslosenfürsorge” gezahlt worden. (Vgl. Rückert, S.169) 305 reich. Allerdings kam es kaum noch zu Neugründungen; vorhandene Betriebe waren teilweise bereits von auswärtigen Unternehmen übernommen und Eisenach “(...) eine industrielle Filialstadt” geworden.21 Richard Schmidt, der nach dem Krieg eine zeitlang erwerbslos war und dann in einer Fabrik Arbeit fand, hatte bereits etwa 1923 sein Tätigkeitsfeld gewechselt. Er verließ die Industrie und ging auf die Wartburg, damit in den anderen wichtigen Wirtschaftssektor der Stadt, den Fremdenverkehr. Vor dem Hintergrund der Entwicklungen in Eisenach erwies sich dies als eine gelungene Umstellungsstrategie. Wirtschaftlich “merkliche Impulse” gingen in der Stadt in den 1920er Jahren, neben der Bauwirtschaft, vor allem vom Fremdenverkehrswesen aus. Die Zahl der ´Touristen´ stieg: 1925/26 waren fast 73.000 Besucher gemeldet, 1926/27 bereits mehr als 91.000, 1927/28 gut 95.000 und 1928/29 dann über 102.000. “Auch für Ausländer war die Stadt attraktiv: 1927/28 besuchten immerhin 610 Amerikaner, 557 Niederländer und 423 Gäste aus Österreich/Ungarn die Wartburgstadt.”22 Die Zunahme im Fremdenverkehr versprach Richard Schmidt und seiner Familie einen Gewinn an Stabilität und Perspektiven, der zwar nicht ungebrochen war. Von 1929 bis 1932 ging die Zahl der gemeldeten Besucher Eisenachs auf 62.400 zurück.23 Richard Schmidt behielt aber seinen Arbeitsplatz; Wartburgstiftung und der 1922 gegründete Verein ´Freunde der Wartburg´ bemühten sich mit zahlreichen Veranstaltungsangeboten um Besucher.24 Daneben überdauerten traditionelle Veranstaltungen wie das Pfingsttreffen der deutschen Burschenschaften, die 1817 erstmals zum “Wartburgfest” in Eisenach zusammengekommen waren.25 Die Situation der Schmidts war langfristig eher krisensicher als sie es bei einem Verbleib von Richard in der Industrie vermutlich gewesen wäre. Während der Krise am Ende der 1920er Jahre waren in Eisenach “(...) fast alle großen Unternehmen (...) in ihrer Existenz gefährdet”.26 Die Zahl der Arbeitssuchenden stieg von 1.065 im Januar 1929 auf 1.951 am Ende des Jahres. Im gleichen Zeitraum nahm die Zahl der Unterstützungsempfänger um mehr als das doppelte zu, sie erhöhte sich von gut 21 Vgl. Brunner 1994, S.16 22 Ebd. Zum Fremdenverkehr in Eisenach vgl. auch Wehrenpfennig 1929, einige Zahlen finden sich auch bei Rückert 1929, S.170 23 Vgl. Brunner 1994, S.38 24 Vgl. Helmbold 1936, S.217f 25 Vgl. dazu Costabell 1929 26 Brunner 1994, S.34 306 6.000 auf fast 13.000 Menschen27 bei insgesamt etwa 44.600 Einwohnern28. In der Folgezeit, bis 1932, gingen Eheschließungen und Geburten wiederum zurück, es verließen mehr Bewohner die Stadt als sich neue ansiedelten, es gab dennoch weiterhin Wohnungsnot, die Zahl der Selbstmorde erhöhte sich und die der Arbeitslosen lag Anfang 1932 bei fast 5.000.29 Die Unzufriedenheit der Eisenacher nahm zu. Zum Beleg für das “politische Spannungsfeld, in dem sich die Stadt seit 1929 befand”, nennt Brunner die Veranstaltungen im eisenacher Hotel Fürstenhof: “Sowohl Adolf Hitler (1927, 1932) als auch Hermann Göhring (1930) sprachen hier. Andererseits fanden große SPD-Kundgebungen hier statt, u.a. am 29. Oktober 1930, als provozierende NSDAP-Mitglieder heftige Prügel bezogen. Und am 5. Juli 1932 war der Fürstenhof Schauplatz für die Schaffung eines Bündnisses von SPD und KPD gegen den Nationalsozialismus.”30 Bei den Wahlen zum Stadtrat im Dezember 1932 erreichte die NSDAP elf von 35 Sitzen.31 Eine zunächst aus vier Mitgliedern bestehende Ortsgruppe der Partei war 1927 gegründet worden.32 Seit den Wahlen im Jahr 1928 war sie mit einem Sitz im Stadtrat vertreten. Die KPD, die 1928 vier Sitze gewonnen hatte, erreichte 1932 zehn Sitze. Verlierer dieser Wahl waren der “bürgerliche Parteienblock” und die SPD; die Zahl ihrer Sitze reduzierte sich von 17 auf acht bzw. von 13 auf sechs.33 Im April 1933 wurde das Parlament umgebildet; die Zahl der Sitze wurde auf 25 begrenzt, von denen 13 die NSDAP besetzte.34 Richard Schmidt, erinnert sich sein Sohn, sei “kein Kommunist” gewesen. “Garan- tiert nicht. Mein Vater neigte eher zur NSDAP, das war damals so. Ich glaub´, er war sogar Mitglied. Aber Mitläufer, keine Funktion gehabt.” Richard Schmidt starb im Herbst 1933; im Jahr zuvor war seine Mutter, Mathilde Rauch, gestorben. 27 Vgl. ebd. 28 Vgl. ebd., S.19 29 Vgl. ebd., S.34 30 Ebd., S.38 31 Ebd., S.37 32 Ebd., S.38 33 Ebd., S.37 34 Ebd., S.39 307 2. Mathilde Rauch und Christian Ferdinand Schmidt die Eltern von Richard Schmidt: materielle Stabilisierung Der Umzug nach Eisenach war eine Herausforderung für Familie Schmidt. Eine Stadt mit mehr als 30.000 Menschen, mit Fabriken und Schienenverkehr, bedeutete gegenüber dem unterkatzer Alltag mit seinen kaum 600 ´Seelen´ unbekannte Erfahrungen. Für die älteren Kinder und vor allem für Christian Ferdinand Schmidt und Mathilde Rauch war die Umstellung erheblich; sie waren 43 bzw. 36 Jahre alt, als sie Unterkatz verließen. Mathilde war als gebürtige Kaltensundheimerin noch in einem größeren Dorf aufgewachsen als der Ehemann, und sie brachte aus ihrer Herkunftsfamilie ´protoindustrielle Erfahrungen´ mit. In Unterkatz war der Alltag dann aber vermutlich stärker von landwirtschaftlicher Arbeit bestimmt. Daß sich das Leben der Schmidts durch den Umzug änderte, bedeutete dennoch nicht, daß es ein völlig anderes wurde. Handlungsmotive und -strategien standen durchaus in Beziehung zur Vergangenheit. Die Handlungsspielräume nahmen eine andere Gestalt an, und sie wurden gegenüber den Möglichkeiten, die Unterkatz bieten konnte, auch zahlreicher. Davon profitierte vor allem Richard Schmidt, für den Eisenach langfristig gewissermaßen zur Erfahrung einer “Öffnung des Sozialraums”35 wurde. Auch seine Eltern erreichten relativ stabile Existenzgrundlagen, für die das Mehrfamilienhaus, das sie in der Stadt erwarben, ein Symbol ist. Gleichwohl blieben die Möglichkeiten begrenzt: Als “Indikatoren” für die Stellung der Schmidts im sozialen Raum lassen sich unter anderem die Orte anführen, an denen die Familie in Eisenach gewohnt hat.36 Die Stadt war gewissermaßen geteilt; im Süden ließen sich “(...) Beamte, Offiziere und Geschäftsleute (...)” nieder, die Eisenach schon im 19. Jahrhundert gern als “Ruhesitz” wählten. “Auswärtige und Einheimische bauten Villen im Marienthal und auf den anstoßenden Höhen (...). Im Halbkreis um die Wartburg kletterten Landhäuser empor, so daß der Burgherr, um sein Hochschloß nicht verdecken zu lassen, eine Grenzlinie (...) ziehen mußte, über die hinaus nicht gebaut werden darf.”37 Im Norden, Westen und Osten der Stadt, beidseitig der Eisenbahnlinie, siedelte sich die Industrie an. In diesen Teil Eisenachs zogen 1906 Mathilde Rauch und 35 Vgl. Merleau-Ponty 1965 [1945], S.503ff 36 “(...) der von einem Akteur eingenommene Ort und sein Platz im angeeigneten physischen Raum (geben) hervorragende Indikatoren für seine Stellung im sozialen Raum ab (...)”. (Bourdieu 1991, S.26) 37 Helmbold 1936, S.118 308 Christian Ferdinand Schmidt mit ihren Kindern; anfangs lebte die Familie am Stadtrand, im äußersten Nordwesten, ´An der Michelskuppe´.38 Spätestens 1908 zog sie in die Casselerstraße. Weitere Umzüge brachten sie schließlich auf die der Innenstadt zugewandten Seite der Eisenbahnlinie, wo die älteren Industriebetriebe angesiedelt waren. Zwischen 1917 und 1919 erwarben Mathilde Rauch und Christian Ferdinand Schmidt in der Katharinenstraße, nahe der Kammgarnspinnerei, ein Mehrfamilienhaus, in dem sie auch wohnten. Das Miethaus der Schmidts verfügte anscheinend über sechs Wohnungen, von denen fünf an ´fremde Familien´ vermietet waren.39 Im Adreßbuch der Stadt ist Christian Ferdinand Schmidt in den ersten Jahren als Arbeiter angegeben. Wo er beschäftigt war, ist nicht bekannt. Darüber, ob Mathilde, seine Ehefrau, die sich später als Hausierhändlerin selbständig machte, während der ersten eisenacher Jahre erwerbstätig war, gibt es ebenfalls keinen Aufschluß. Einige der Kinder waren noch sehr jung, als die Familie Unterkatz verließ, der jüngste Sohn Christian wurde erst in Eisenach geboren. Auch auf Richard, den ältesten, gibt es zunächst keine Hinweise. Er wohnte bei seinen Eltern und wurde im Adreßbuch der Stadt, das nur den Vater notierte, nicht angegeben. Das Eisenacher Bürgerbuch gibt Auskunft darüber, daß Christian Ferdinand Schmidt im Jahr 1910 die Bürgerrechte erwarb. 1912, 49jährig, wechselte er beruflich, vermutlich von der Fabrik, zum ´Gemeindedienst´. Er wurde Stadtarbeiter und blieb bis zu seinem Tod im Jahr 1936 als solcher auch ins Adreßbuch aufgenommen. Wie lange er tatsächlich erwerbstätig war, ist allerdings unklar. Herr Schmidt jr., Jahrgang 1919, erinnert sich, daß sein Großvater “Gehschwierigkeiten” hatte: “Der saß nur im Stuhl und konnte nur am Stock laufen.” Aus welchem konkreten Grund Christian Ferdinand Schmidt in den städtischen Dienst wechselte, ist nicht bekannt. Daß ihm aber die Umstellung auf Industriearbeit schwer fiel, ist denkbar. Als Stadtarbeiter behielt er zwar eine untergeordnete Position, in der er aber vermutlich über vergleichsweise mehr Freiräume verfügte. 38 Vgl. Adreßbuch 1909. Die Adreßbücher der Stadt Eisenach erschienen jeweils zu Beginn eines Jahres, die Angaben stammten also aus dem vorangegangenen Jahr. Zu den Wohnorten der Familie vgl. Adreßbuch 1909ff, Stadtbuch 1920ff. Einen Überblick über die Wohnorte der Familie von Christian Ferdinand Schmidt und Mathilde Rauch sowie über die Adressen der Familie von Richard Schmidt gibt die Karte auf S.309 39 In den 1930er Jahren bewohnten auch die Familie von Richard Schmidt und sein Bruder Christian das Haus. Es blieb nach dem Tod ihres Vaters Christian Ferdinand Schmidt im Jahr 1936 nicht im Besitz der Familie; es wurde von den Nachkommen verkauft. Anfang der 1990er Jahre wurde das Haus in der Katharinenstraße abgerissen. 310 Und vor allem kam wahrscheinlich sein Aufgabengebiet dort den Gewohnheiten und Erfahrungen näher, die ihm aus dem unterkatzer Erwerbsleben als Handarbeiter und Tagelöhner vertraut waren.40 Eine Variante zur Fabrikarbeit praktizierte schließlich auch Mathilde Rauch. Sie trug zum Einkommen der Familie bei, was vermutlich auch Voraussetzung für den Erhalt des erworbenen Miethauses war. Ihre Erwerbsstrategie stand ebenfalls in Beziehung zur Vergangenheit. Mathilde Rauch verkaufte Stoffe und später auch fertige Schürzen, die Richards Ehefrau nähte. Absatzgebiet war die Rhön, aus der sie kam und in der sie “(...) zu Fuß die Dörfer abgelaufen (hat)”. Wann Mathilde Rauch sich selbständig gemacht hat, ist nicht belegt. Herr Schmidt jr. weiß, daß seine Großmutter, solange er sich erinnern kann, als, wie er es nennt, “ambulante Händlerin” unterwegs gewesen sei. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde sie eine zeitlang von ihrem Sohn Richard begleitet, der sonst arbeitslos war. Was Herr Schmidt jr. darüber erzählt, muß ihm, der damals gerade erst geboren war, selbst überliefert worden sein: “Die waren immer ´ne ganze Woche unterwegs. Vater hatte ein Holzgestell (...) und da war unten so ein kleiner Kasten dran, mit zwei Türen. Und auf diesem Holzgestell, da hat er die Stoffe gestapelt, später dann die Schürzen. Und sonnabends kamen sie nach Hause und da war unten das kleine Kästchen immer voll Nahrungsmittel. Butter, Speck, Wurst und so weiter. Also wir haben da eigentlich keine Not gelitten. Und er hat natürlich auch Geld verdient.” Viel mehr ist aus dem Leben von Mathilde Rauch und Christian Ferdinand Schmidt nicht bekannt. Nur, daß sie auch weiterhin ihre Beziehungen zur Verwandtschaft in den Heimatdörfern aufrechterhielten. Herr Schmidt jr. erinnert sich noch an Besuche in Unterkatz, die er in den 1920er Jahren mitgemacht hat. Gegenüber der Lage, in der sich Richards Eltern um die Jahrhundertwende in Unterkatz befunden hatten, erreichten sie in Eisenach langfristig doch gesichertere Verhältnisse. Dies auf der Grundlage von Fleiß und Sparsamkeit. Gleichzeitig profitierten sie im Zusammenhang mit allgemein sich bessernden Lebensbedingungen und Standards gewissermaßen von einem “Fahrstuhleffekt”.41 Das erworbene 40 Anzunehmen wäre jedenfalls, daß Christian Ferdinand Schmidt im Bereich der sog. “Ökonomieverwaltung” (Reuter 1929, S.145) beschäftigt war, die Reinigungsarbeiten, Bewirtschaftung von Gärten und ähnliches übernahm. (Vgl. ebd.) 41 Der Begriff “Fahrstuhleffekt” kommt aus der neueren Diskussion um gesellschaftlichen Strukturwandel. Ulrich Beck hat damit einen Prozeß bezeichnet, in dem über gesamtgesellschaftlich gestiegene Teilhabe an Wohlstand, Bildung usw. alle sozialen Gruppen und Klassen eine Etage hochgefahren sind, ohne daß sich dabei die Abstände zwischen ihnen verändert haben. (Vgl. Beck 1986, S.122 und S.124f) 311 Mietshaus wurde gehalten; als es nach dem Tod von Mathilde Rauch und Christian Ferdinand Schmidt verkauft wurde, erhielt Herr Schmidt jr. einen Erbteil von 800 Mark. Eine Chance auf qualifizierte Arbeit hatten seine Großeltern beide nicht. Christian Ferdinand blieb im wesentlichen in der Erwerbsposition, die er und die meisten seiner Vorfahren in Unterkatz hatten. Mathilde Rauch, deren soziale Herkunft der des Ehemannes ähnlich war, kam aus einer Familie, die sich doch anders zusammensetzte; Unterordnung und vor allem abhängige Beschäftigung gehörten zwar zum Alltag ihres Vaters, Tobias Rauch, aber nicht zur Tradition seiner Familie, und waren von daher noch vergleichsweise ungewohnt. Die Situation auf dem eisenacher Arbeitsmarkt mag ein Anlaß für Mathilde gewesen sein, sich selbständig zu machen. Es ist aber anzunehmen, daß es auch andere und ´bequemere´ Alternativen gab. Ihre Entscheidung hing mit dem Feld, aber auch mit ihrem Habitus zusammen. Mathildes Selbständigkeit war der ihrer Schmiedevorfahren nicht vergleichbar. Der Hausierhandel versprach keine gesellschaftlich geachtete Position. Der Lage nach verortete Geiger die “proletaroiden Händlerexistenzen”, die sich bis in die 1920er Jahre stark verbreitet hatten42, eher bei den Lohnarbeitern: “Ist der Betrieb als Produktionsbasis so klein, daß nur ein normaler Arbeitslohn erwirtschaftet werden kann, so zählt der Bewirtschafter zu den Proletaroiden. Der Proletaroide ist zwar rechtlich und arbeitsorganisatorisch ´Herr seines Arbeitslebens´, d.h. er disponiert selbst über seine berufliche Leistung, ist nicht den Arbeitsanweisungen eines Patrons unterworfen. Das unterscheidet ihn vom Lohnproletariat. Aber der Proletaroide teilt mit dem Lohnproletar das Schicksal, daß er ´unter Angebot-Druck steht´, d.h. von Tag zu Tag zur Reproduktion seiner Arbeitsleistung gezwungen, von der Hand in den Mund lebt. Der Betrieb steht auf seinen zwei Augen und liegt brach, wenn der Inhaber auch nur für Tage seine Tätigkeit unterbricht. Er arbeitet zwar auf eigene Rechnung, aber auch er lebt, wie der Lohnarbeiter, wesentlich von der Veräußerung seiner Arbeitskraft. Er ist wirtschaftlich gesehen Arbeitslohnbezieher, rechtlich aber stellt er eine Figur dar, in der Arbeitgeber und Arbeitnehmer sozusagen in Personalunion zusammenfallen.”43 Auch bei der Unterscheidung der “fünf Hauptmassen”44, das heißt der “(...) Haupttypen der Totalmentalität”, denen Geiger “(...) die Bedeutung von Generalnennern für 42 “Diese Inflation der kleineren Selbständigen ist bekanntlich dadurch gefördert, daß einen Laden zu eröffnen und sich als Kaufmann zu bezeichnen, keinerlei Fachkenntnisse voraussetzt.” Geiger 1987 [1932], S.85 43 Ebd., S.30 44 Vgl. ebd., S.82ff 312 mehrere Varianten je einer sozialen Grundhaltung (...)”45 zuschreibt, finden sich die Eheleute Schmidt in einer Gruppe. Mathilde Rauch gehörte auch hier nicht zum “´alten Mittelstand´” der kleinen und mittleren Unternehmer, sondern eher zur “(...) Gruppe der Selbständigen, die durchaus den ungelernten Gelegenheitsarbeitern unter den Abhängigen vergleichbar ist.”46 Christian Ferdinand Schmidt und Mathilde Rauch blieben demnach in der Unterschicht, bei den gering qualifizierten Lohnbeziehern, die, als “ganze(r) Block” genommen, allerdings, so Geiger, “(...) die denkbar größten Spannungen der äußeren Lebensumstände und der Mentalitätszüge (zeigt). Die materielle Lebenshaltung bewegt sich zwischen dem äußersten Hungerleben des Paria oder dem Spelunkendasein des Halbverbrechertums auf der einen Seite bis in die gesetzte Bürgerlichkeit etwa des mittleren Beamtentums. Das sind auch die Pole, zwischen denen sich die Typen des gesamten Lebensduktus spannen. Das Familienleben ist in den untersten Lagen oft völlig zerrüttet, in den wirtschaftlich begünstigten vom Kleinbürgertum nur insofern verschieden, als sich der Familienverband wegen der schichtüblich kürzeren Ausbildungsdauer des Nachwuchses früh auflöst. Ein weiteres, wenn auch nicht allgemein, so doch weit verbreitetes Merkmal ist die Erwerbstätigkeit der Frau.”47 Sie war “bei den Arbeitern” bedeutend höher als bei Beamten und Angestellten.48 Sowohl Mathilde Rauch als auch ihre Schwiegertochter, Richards Ehefrau, waren berufstätig, wobei letztere in den 1920er Jahren eher im Nebenerwerb beschäftigt war. Die Ausführungen Geigers verdeutlichen das Problem eindeutiger Verortungen. Christian Ferdinand Schmidt und Mathilde Rauch bewegten sich vermutlich zwischen den bei ihm genannten Polen von Lagen und “Lebensduktus”. Im Vergleich der beiden, für ihre Vorfahren, entwickelten Kohäsionsmuster49 deutet sich eher noch eine Nähe zur Gelegenheitsorientierung an, wobei es zugleich andere Entwicklungen, wie die Tendenz zu stabileren Soziallagen und Hausbesitz, gab. Die Differenzen im Erwerb der Eheleute deuteten bereits auf mögliche Unterschiede im Habitus. Vielleicht nur ein Zufall, fällt in dem Zusammenhang doch auf, daß Herr 45 Ebd., S.81 46 Ebd., S.81f 47 Ebd., S.96 48 “(...) auf weniger als 2 Beamte und Angestellte (kommen) 3 Ehefrauen ohne Hauptberuf (...), obwohl die Quote der weiblichen Erwerbstätigen hier sehr hoch ist, bei den Arbeitern aber auf 14 Erwerbstätige nur 4 berufslose Ehefrauen. Dabei ist von der bedeutenden Rolle, die der Nebenerwerb der Ehefrau in der Arbeiterschaft spielt, noch ganz abgesehen.” (Ebd., Hervorh. im Orig.) 49 Vgl. S.264 und S.301 313 Schmidt jr. sich bei der Großmutter vor allem an ihren “Fleiß”, beim Großvater eher an Passivität erinnert, indem er lediglich seine Behinderung und damit verbundene Unbeweglichkeit erwähnt. In den Erzählungen des Enkels wird dann auch nur Mathilde Rauch der Erwerb des Eigentums zugeschrieben: “Und hat sie sich sogar ´nen Haus zusammengespart.” 3. Richard Schmidt und Emma Auguste Illert: Zugewinne an kulturellem und sozialem Kapital - ein begrenzter Aufstieg Auf Richard Schmidt, der mit knapp 16 Jahren nach Eisenach gekommen war, gibt es erste Hinweise im Jahr 1912. Im Herbst heiratete er Emma Auguste Illert. Sie war zum Zeitpunkt der Eheschließung Arbeiterin, Richard Schmidt war Arbeiter. Ein Anlaß für die Hochzeit wird Emma Augustes Schwangerschaft gewesen sein. Im Frühjahr 1913 wurde die Tochter der Eheleute geboren. Das zweite Kind, ein Sohn, hat nur kurze Zeit gelebt.50 1919 kam dann Herr Schmidt jr. zur Welt, der den Namen seines verstorbenen Bruders erhielt. Emma Auguste Illert, war, wie Richard Schmidt, im Jahr 1890 geboren, aber bereits in der Stadt aufgewachsen. Dies zunächst nicht in Eisenach, wohin Familie Illert etwa 1897 zog.51 Die ersten Lebensjahre verbrachte Emma Auguste in Staßfurt, das zwischen Magdeburg und Halle liegt. Ihre Eltern und deren Vorfahren kamen allerdings aus der Eisenacher Umgebung bzw. dem Eisenacher Oberland. Die Mutter, Elise Amanda Räder, stammte aus einer ostheimer Familie.52 Der Vater, Gottfried Illert, war in Milha, einem im Osten von Eisenach gelegenen Dorf, geboren.53 Die soziale Herkunft von Emma Auguste Illert zeigt Übereinstimmungen mit der von Richard Schmidt. Darauf, daß auch bereits ihre Vorfahren miteinander ´wahlverwandt´ waren, gibt es sogar einen sehr konkreten Hinweis: Die Großmutter von 50 Die Lebensdaten des Kindes, das in den eisenacher Kirchenbüchern nicht ausfindig gemacht werden konnte, sind unbekannt. Herr Schmidt jr. kann sich an genaueres ebenfalls nicht erinnern, weiß aber, daß die Familie in den 1920er Jahren das Grab seines Bruders gepflegt hat. 51 Im eisenacher Adreßbuch, dessen Angaben sich nicht auf das Erscheinungs-, sondern das zurückliegende Jahr beziehen, werden die Illerts zuerst 1898 genannt. (Vgl. Adreßbuch 1898ff) 52 Zu den Vorfahren von Emma Auguste Illert mütterlicherseits vgl. Überblick VIII, S.315 53 Zur Geschichte Milhas vgl. Lämmerhirt 1992. Zu den Vorfahren von Emma Auguste Illert väterlicherseits vgl. Überblick IX, S.316. Der Vater von Emma Auguste ist dort mit vollem Namen, als Christoph Gottfried Ludwig Illert, angegeben. 314 Überblick VIII: Direkte Vorfahren von Emma Auguste Illert: Ahnentafel mütterlicherseits, aus Ostheim stammende Linie der Familie Valtin Barthelmeß auf Lichtenberg Erasmus Danz Schuhmacher in Kaltensundheim Georg Gotthardt Keller Schuhmacher in Ostheim o– o Anna Margarethe Barthelmeß – – Johanna Susanne Keller aus Ostheim Georg Christian Keller * 1856 Ostheim A .... Schuhmacher 1880 — — – – Johann Paulus Braungardt Webermeister in Ostheim Johann Räder Schneidergeselle aus Rödelmaier o– o zwei Kinder Elise Amanda Räder * 1863 Ostheim A 1943 Eisenach Johann Adam Heinick Schuhmachermeister in Ostheim Anna Catharina Danz * 1838 Ostheim A 1871 Ostheim – – 1866 Eva Catharine Heusing aus Hermannsfeld Johann Georg Heinick * 1838 Ostheim A 1907 Ostheim Schuhmacher — — Christoph Gottfried Ludwig Illert * 1857 Milha A 1932 Eisenach Arbeiter/Desinfektor Vorfahren vgl. Überblick I, VII 1885  sechs weitere Kinder Emma Auguste Illert *1890 Staßfurt A 1934 Eisenach Arbeiterin/Näherin – – Richard Schmidt * 1890 Unterkatz A 1933 Eisenach Arbeiter/Wartburgführer 315 Überblick IX: Direkte Vorfahren von Emma Auguste Illert: Ahnentafel väterlicherseits, aus Milha stammende Linie der Familie Johann Philipp Lerp Schneider – – Anna Elisabetha Lerp * 1787 Milha A 1858 Milha Anna Catharina Bachmann 1816 – – fünf weitere Kinder Johannes Illert Zimmermann Pächter der Werramühle – – Johann Heinrich Illert * 1789 Milha A 1836 Milha Schreinermeister Anna Barbara Schreiber geb. Cott Clara Juliane Wuth Ernst Friedrich Illert * 1826 Milha A 1892 Milha Handarbeiter 1851 — — Frch. Conrad Zipf Tagelöhner – – – – Joh. Nicolaus Koch Tagelöhner/Dienstkecht Christine Marie Koch * 1827 Milha A 1852 Milha Maria Elisabethe Frederike Brandt Johann Philip Heinrich Lerp Schuhmacher Anna Maria Zipf * .... A 1866 Milha 1826 – – – – Christ. Soph. (Buttgerin?) Johann Nicolaus Lerp * 1797 Milha A 1875 Milha Tagelöhner zwei weitere Töchter Anna Christine Lerp * 1827 Milha A 1905 MIlha 1856  Christoph Gottfried Ludwig Illert * 1857 Milha A 1932 Eisenach Arbeiter/Desinfektor sechs weitere Kinder 1885 – – Vorfahren vgl. Überblick VIII Elise Amanda Räder *1863 Ostheim A 1943 Eisenach Emma Auguste Illert *1890 Staßfurt A 1934 Eisenach Arbeiterin/Näherin Vorfahren vgl. Überblick I, VII – – Richard Schmidt * 1890 Unterkatz A 1933 Eisenach Arbeiter/Wartburgführer 316 Emma Auguste mütterlicherseits war 1838 unehelich geboren.54 Als Vater bekannte sich zu ihr der kaltensundheimer Schuhmacher Erasmus Danz. Er gehörte zu einer anderen Linie als der Bauer Danz, mit dem Regina Elisabetha Porz ein uneheliches Kind hatte,55 war aber mit ihm verwandt. Und Regina Elisabetha Porz war die Urgroßmutter von Richard Schmidt. Die Vorfahren von Richard Schmidt und die seiner Ehefrau gehörten ähnlichen sozialen Milieus an. Der 1857 geborene Vater von Emma Auguste Illert kam aus einer Familie, die ihren Lebensunterhalt überwiegend mit Handarbeit und Tagelohn sowie mit verschiedenen Handwerken bestritt.56 Unter den Vorfahren von Emma Augustes Mutter überwogen die Schuhmacher.57 Elise Amanda Räder, Jahrgang 1863 war, wie bereits ihre Mutter, unehelich geboren. Ihre erste Ehe ging sie früh, im Jahr 1880, mit einem Schuhmacher ein. Mit ihm zog sie von Ostheim nach Staßfurt, wo die Eheleute dann nach wenigen Jahren geschieden wurden. Elise Amanda Räder und Gottfried Illert trafen sich in Staßfurt. Sie heirateten 1885, und hatten gemeinsam sieben Kinder, von denen drei nach dem Umzug nach Eisenach geboren wurden. Gottfried Illert war Arbeiter, um 1900 eine zeitlang auch als Tagelöhner beschäftigt.58 Vom Beginn der 1920er Jahre an, bis zu seinem Tod im Jahr 1932, war der Schwiegervater von Richard Schmidt dann wohl Kammerjäger; das Adreßbuch weist ihn als “Desinfektor” aus.59 Gewohnt haben die Illerts, wie die Schmidts, im Nordwesten der Stadt.60 Sie zogen etwa 1907 in die Frankfurter Straße, wohin 1913 ihre Tochter Emma Auguste und Richard Schmidt sowie auch Richards Eltern folgten.61 In der Frankfurter Straße 94, wo Richard Schmidt und Emma Auguste Illert die längste Zeit ihre Ehe lebten, wohnte auch Gustav Illert mit seiner Familie. Gustav, der älteste Bruder von Emma Auguste, hatte zunächst als Steinschleifer in Eisen- 54 Die Großmutter war Anna Catharina Danz (1838-1871), vgl. Überblick VIII, S.315 55 Vgl. dazu Abschnitt 2.2.2. in Kapitel V. 56 Vgl. Überblick IX, S.316 57 Vgl. Überblick VIII, S.315. Zum Schuhmacherhandwerk in Ostheim vgl. Schmidt o.J., S.169ff 58 Die Angaben sind den eisenacher Adreßbüchern entnommen. Vgl. Adreßbuch 1898ff, Adreßbuch 1909ff 59 Vgl. Stadtbuch 1920ff 60 Zwischen 1897 und etwa 1907 lebte die Familie am ´Wolfgang´, gegenüber dem Haus in der Katharinenstraße, das später Christian Ferdinand Schmidt und Mathilde Rauch erwarben. Zu den Wohnorten der Schmidts vgl. die Karte auf S.309 61 Vgl. ebd. In der Frankfurter Str. lebten die Eltern von Richard Schmidt und die Eltern von Emma Auguste Illert in benachbarten Häusern, vorübergehend auch im gleichen Haus. Nur ein paar Häuser weiter wohnten Richard Schmidt und Emma Auguste Illert. 317 ach gearbeitet, war nach dem Krieg Eisenbahnarbeiter und in den 1920er Jahren Aushilfsschaffner.62 Zwischen beiden Familie bestand eine enge Beziehung; dies vor allem nach dem Selbstmord von Gustavs Ehefrau in den 1920er Jahren. Für die Kinder, die sie hinterließ, fühlte sich Emma Auguste dann auch mitverantwortlich: “Nun hat sich meine Mutter natürlich verpflichtet gefühlt, die Kinder ihres Bruders zu unterstützen”, erzählt Herr Schmidt jr. “(...) wenn die hochkamen, die wohnten über uns, da huschten se rasch mal kurz zu uns rein, und da wurden se auch schon mal abgefüttert”.63 Zunächst aber zu den Ereignissen der voraufgegangenen Jahre in der Familie von Richard Schmidt: 1913, im Jahr nach der Eheschließung, erwarb Richard die Bürgerrechte. Das Bürgerbuch gibt auch Aufschluß darüber, daß er inzwischen wohl seinen Arbeitsplatz gewechselt hatte; er wurde als Stadtarbeiter angegeben. Ebenfalls bei der Stadt arbeitete sein Vater, Christian Ferdinand Schmidt.64 Richard Schmidt zog in den Ersten Weltkrieg. Darüber, ob er seine Familie bereits zu Beginn des Krieges verließ, wo er sich aufhielt und was er erlebte, gibt es keinen Aufschluß.65 Auch Herr Schmidt jr. “(...) weiß noch nich´ ein- mal, wo er gewesen ist”. Das Haus in der Katharinenstraße 62 Die Angaben sind den eisenacher Adreßbüchern entnommen. (Vgl. Adreßbuch 1909ff, Stadtbuch 1920ff) Für weitere Geschwister von Emma Auguste Illert finden sich darin folgende Hinweise: Die Schwester Marie Illert war eine zeitlang Fabrikarbeiterin, der Bruder Paul war Steinhauer, nach dem Krieg als Steinmetz geführt; Otto wurde Arbeiter. - Ein Bruder von Emma Auguste war als Kind gestorben, über den Verbleib ihrer Schwester Frieda ist nichts bekannt. 63 Johannes und Emma Illert waren zwei der Kinder von Gustav Illert. Daß Johannes Dreher wurde und Emma Arbeiterin, ist den Adreßbüchern ab dem Jahr 1931 zu entnehmen. (Vgl. Stadtbuch 1920ff) 64 Vgl. auch vorangegangenen Abschnitt 2. 65 Adreßbücher erschienen in Eisenach während des Krieges in den Jahren 1915 und 1917. Die Angaben darin beziehen sich jeweils auf das voraufgegangene Jahr. Demnach war Richard Schmidt 1916 auf jeden Fall “Kriegsteilnehmer”; für das Jahr 1914 wurde dieser Hinweis bei ihm noch nicht gegeben. 318 Nach dem Krieg war Richard Schmidt eine zeitlang arbeitslos; während dieser Zeit beteiligte er sich am Hausierhandel der Mutter, Mathilde Rauch.66 Einbezogen wurde später auch Emma Auguste Illert; in den 1920er Jahren nähte sie die Schürzen, die ihre Schwiegermutter in der Rhön verkaufte. “Damals gab´s die blau- gestreiften Schürzen und so Bändchen drumrum”, erinnert sich Herr Schmidt jr., der als Kind damals seiner Mutter bei ihrer Arbeit ein bißchen half. “Pro Schürze ´nen Fuffziger. Und dann hat sie Schürzen genäht, jede Menge. Und ´nen Fuffziger war damals viel Geld.” Emma August Illert, erzählt der Sohn, “(...) hat immer ´nen paar Mark mitverdient. (...) Sie hat auch mal in ´ner Zigarrenfabrik gearbeitet.” Anfang der 1920er Jahre ging es in der Familie Schmidt aufwärts. Dies, noch bevor Richard etwa 1923 Wartburgführer wurde. Er fand zunächst, vermutlich in einer Fabrik, Arbeit, und er wurde dort “Vorarbeiter”67. Damit verbundene Befugnisse waren sicherlich begrenzt; immerhin aber deutet diese Position auf eine Beförderung, die bestimmte Kompetenzen oder Leistungen, die mit ihr anerkannt wurden, voraussetzte. Richard Schmidt hatte keinen Beruf erlernt und seine Erwerbsarbeit bestimmte auch nicht allein sein Leben. Er war familienorientiert und für Gesellungen innerhalb der ´Volkskultur´ aufgeschlossen. Als Richard Schmidt in den 1920er Jahren auf der Wartburg arbeitete, so erinnert sich der Sohn, “(...) hab ich mit meiner Mutter meinen Vater, also im Sommer sowieso, jeden Abend abgeholt”. Nach Feierabend wurde “(...) abends noch viel spazieren gegangen, an der Frankfurter Straße, im Wald”. An den Wochenenden gab es kleinere Ausflüge und Unternehmungen. In der Freizeit half Richard Schmidt auch in der Verwandtschaft, zum Beispiel bei Abrechnungen, die ein Schwager von Emma Auguste zu machen hatte. Befreundet war die Familie mit einem Ehepaar aus der Nachbarschaft; der Mann war Straßenbahnfahrer und “(...) die haben sich immer besucht, bei allen Festlichkeiten, da gab es belegte Brötchen”. Richard Schmidt und der befreundete Straßenbahnfahrer waren auch gemeinsam in einem “Männergesangverein”. Bei den “Festen”, die dort “jedes Jahr” stattfanden, sind die beiden Männer “(...) dann immer mit aufgetreten. Da haben se so kleine Sketche veranstaltet”. Schließlich war Richard Schmidt, der “(...) ein sehr lustiger Mensch” gewesen sei, vor allem “musikalisch. Er hat Klavier gespielt, Trompete gespielt, er hat Klampfe und Laute gespielt. Dann hat er sich ´ne Teufelsgeige gebaut und mit allen möglichen Instrumenten dran, Mundharmonika, Triangel und .. Trommel und was nicht alles.” 66 Vgl. auch vorangegangenen Abschnitt 2. 67 Dieser Hinweis findet sich in den Adreßbüchern zu Beginn der 1920er Jahre. (Vgl. Stadtbuch 1920ff) 319 Richard Schmidt scheint demnach auch Spaß daran gehabt zu haben, in der Freizeit etwas, wie eben den Bau einer “Teufelsgeige”, ausprobieren. Es ging nicht um großartige Erfindungen, aber er ´tüftelte´ gern. Auf ein ähnliches Interesse läßt eine andere Begebenheit schließen, die der Sohn erzählt: “Wir haben in der Schule, im Chemieunterricht, da wollte der Lehrer ´nen Gerät haben, wo man im Flaschen- hals, mit ´nen kleinen Schöpfer, ´reinkam und unten was ´rausschöpfen konnte. Und das hab´ ich meinem Vater erzählt, ich sag: ´Papa, so und so´. ´Mach ich dir, morgen nimmst Du´s mit´.” Der Vater hat ihm dann aus einer Blechbüchse “so ´n klei- nes Büchschen” gebastelt, “was durch den Flaschenhals ging, und er hat ein Stück Draht drangelötet, und dann ging das prima ´rein.” Die Erwerbsarbeit war ein anderer Bereich im Leben von Richard Schmidt. Sie war für ihn aber ebenfalls nicht nur eine Gelegenheit, Geld zu verdienen, sondern zugleich ein Ort der Selbstbestätigung. Ehepaar Schmidt und Sohn Darauf, daß sich Richard Schmidt auch beruflich engagierte und interessiert zeigte, deutet die Reparatur der defekten Maschine im Magnetwerk 68, die anders kaum zu einer ´Herausforderung´ für ihn hätte werden können. Auf der Grundlage seiner Kompetenzen und Anstrengungen, die er nach dem Motto “geht nicht, gibt´s nicht”69 vermutlich auch im übrigen Arbeitsalltag unternahm, konnte Richard Schmidt dann Vorarbeiter werden. Vielleicht war es das Magnetwerk, in dem er dazu befördert wurde. Daß Richard Schmidt in seinen Strategien nicht außengeleitet war, deutet sich dann allein in seiner Bewerbung für die Stelle des Wartburgführers an. Sie implizierte 68 Vgl. Kapitel II. 69 Vgl. ebd. 320 Bereitschaft, sich die erforderlichen Kenntnisse über die Wartburg und deren Geschichte anzueignen. Zudem kamen die Besucher zunehmend aus dem Ausland70, wurden aber nur in deutscher Sprache informiert. Nachdem Richard Schmidt eine zeitlang, “vielleicht ´nen halbes Jahr”, meint sein Sohn, die Gäste auf der Burg geführt hatte, wurde ihm vom “Burghauptmann” nahegelegt, Fremdsprachenkenntnisse zu erwerben. Er erhielt Unterricht von einer Englischlehrerin, “(...) und da hat er nach sechs Wochen schon die erste Führung in Englisch gemacht”, erzählt Herr Schmidt jr. “Allerdings orientiert auf die Führungen, (...) Konversation noch nicht. (...) und das hat ihm natürlich auch was eingebracht. Die Engländer haben ihm dann immer mal was zugesteckt. Die waren froh (...)”. Das Leben von Richard Schmidt und das gesellschaftliche Feld, in dem er sich bewegte, änderten sich. Er war nicht mehr Arbeiter in einer Fabrik oder bei der Stadt; er erzählte den Wartburggästen vom Sängerkrieg und von Elisabeth der Frommen aus dem 13. Jahrhundert, von Martin Luther, der sich hier 1521 als Junker Jörg aufhielt und führte in die Lutherstube. Richard Schmidt trug nicht mehr nur am Wochenende einen Anzug, sondern auch während der Arbeitszeit. 1925 besuchten über 233.000 Menschen die Wartburg, 1928 waren es knapp 264.000.71 Die Zahl der Besucher Eisenachs und damit sicherlich auch die der Burg ging in den anschließenden Jahren zurück. Sie blieb aber eine Sehenswürdigkeit und Richard Schmidt hatte sich durch seine Qualifikationen, Trompetenspiel und Fremdsprache, auch ein stückweit ´unentbehrlich´ gemacht. Der Zugewinn an kulturellem und sozialem, vielleicht auch an ökonomischen Kapital - “wir waren nicht arm, aber wir waren auch nicht reich”, so Herr Schmidt jr. - veränderte die soziale Position der Familie. Der Aufstieg allerdings war begrenzt. Der Besucherstrom der Wartburg überdauerte nicht das ganze Jahr, er war saisonal bedingt. Richard Schmidt behielt seinen Arbeitsplatz auch außerhalb der Saison; er machte dann keine Führungen, sondern übernahm andere Dienste, zum Beispiel den des Nachtwächters. Herr Schmidt jr. erinnert sich, wie er am Abend beim Vater auf der Burg saß und dann in der Dunkelheit allein durch den Wald nach Hause lief. Emma Auguste Illert war ebenfalls nebenbei auf der Wartburg beschäftigt. “Der Burghauptmann (...) der war allein. Und da hat dann meine Mutter (...) immer ´nen bißchen sauber gemacht noch.” 70 Vgl. Abschnitt 1. in diesem Kapitel 71 Vgl. Rückert 1929, S.170 und Wehrenpfennig 1929, S.169. Vgl. auch Abschnitt 1. in diesem Kapitel 321 Richard Schmidt arbeitete sowohl relativ qualifiziert wie auch unqualifiziert. Ohne Berufsausbildung gehörte er, wie seine Eltern, in der Analyse Geigers zur großen Gruppe des “Proletariats”, kam der Lebensführung des Mittelstandes aber näher als Christian Ferdinand Schmidt und Mathilde Rauch. Auf die “zahlreichen Varianten” und “Übergänge” zwischen qualifizierten und unqualifizierten Lohnbeziehern wurde bereits hingewiesen72, wobei Richard Schmidt vermutlich im Angestelltenverhältnis war. Daß er starke Vorbehalte hatte, sich auf industrialisierungsbedingt veränderte Lebensverhältnisse einzulassen, ist nicht erkennbar. In der Geschichte mit der defekten Maschine war nicht sie der Anlaß für seine Verärgerung, sondern die als Geringschätzung empfundene Reaktion der Kollegen.73 Darauf aber, daß Richard Schmidt durchaus Probleme gehabt haben kann, sich den Disziplinierungsanforderungen fortschreitender Industrialisierungsprozesse unterzuordnen, deuten die Begebenheiten während seiner Tätigkeit als Straßenbahnfahrer.74 Er erledigte auf der Strecke einen kleinen Einkauf, und er hielt die Bahn dafür nicht an der vorgesehenen, sondern an einer selbstgewählten Stelle. Richard Schmidt knüpfte letztlich an Praktiken der unterkatzer Vergangenheit an. Was ihm auf der Wartburg eine “Ehrenrunde” inmitten der Theologen einbrachte75, war sein Trompetenspiel, eine Kompetenz, die inzwischen erweitert, von ihm aber bereits als Junge auf dem Dorf erworben war. Daß er “(...) als Kind schon im Posau- nenchor in der Kirche mitgeblasen (hat)”, weiß sein Sohn, Herr Schmidt jr. Und die Tochter von Richard Schmidt hat überliefert, daß der Vater “gerne Musiker” geworden wäre. Diesem Ziel kam er auf der Wartburg immerhin ein Stück näher. Richard Schmidt war intrinsisch motiviert, nicht außengeleitet, und er hatte auch gewisse Chancen, seinen Neigungen nachzugehen. Seine beiden Kinder erlernten einen Beruf. Die Tochter wurde Friseurin, der Sohn begann kurz vor dem Tod des Vaters die Lehre zum Bau- und Möbeltischler. Herr Schmidt jr. erinnert sich, daß ihm die Berufswahl freigestellt war, Richard Schmidt aber Wert darauf legte, daß er auf jeden Fall eine Ausbildung machte. Daß der Sohn dann auch Klavierstunden 72 Geiger 1987 [1932], S.92; vgl. hier vorangegangenen Abschnitt 2. 73 Vgl. Kapitel II. 74 Vgl. ebd. 75 Vgl. ebd. 322 erhielt, ist vielleicht Zeichen einer “Verbürgerung”76 der Familie; die Bestrebungen zielten aber vor allem auf eine Variante, in der kulturelles Kapital nicht mehr vorrangig nur autodidaktisch erworben wurde. Die Erfahrungen von Richard Schmidt, der als Ungelernter erhebliche Anstrengungen unternehmen mußte, als kompetent anerkannt zu werden, waren hier sicher ausschlaggebend. Richard Schmidt, so sein Sohn, grenzte sich von “Säufern” und von seinem Nachbarn ab, der ihm einen Anzug nicht bezahlt hatte. Der Begriff Säufer steht vermutlich für umfassende Zuschreibungen, zu denen unter anderem Unzuverlässigkeit, vermutlich auch geringe Selbstachtung und wenig Fleiß gehören. Im Sinne eines “geht nicht gibt´s nicht” sind Abgrenzungen gegen soziale Gruppen, die eher bestimmten Anlehnungsstrategien folgten, sicher denkbar. Daß sie bei der Zunahme an Qualifikation und qualifizierter Arbeit auch Geringqualifizierte und Ungelernte traf, ist nicht auszuschliessen, gleichfalls doch nur in bestimmten Grenzen denkbar. Richard Schmidt blieb in der Praxis der eigenen sozialen Herkunft auch weiterhin verhaftet. ´Nach oben´ hin waren ebenfalls Grenzen gesetzt. In besonderem Maße statusstrebend war Richard Schmidt nicht. Sonst hätte er das Angebot einer Beförderung auf der Wartburg sicherlich angenommen. Herr Schmidt jr. erinnert sich, daß der Vater “(...) Burgvogt77 werden (sollte) und sollte am Schloßberg, da war ein Haus, was der Wartburgstiftung gehörte, da sollte er einziehen. Das hat er nicht gemacht. Ich weiß es nicht, warum.”78 Der Schloßberg liegt weiter im Süden der Stadt.79 Der Umzug wie der berufliche Aufstieg hätten einen Wechsel im gesellschaftlichen Feld symbolisiert, der die Möglichkeiten von Richard Schmidt überstieg. Den Sinn für die eigenen Grenzen bewahrte auch seine Ehefrau. Der “Burghauptmann”, bei dem sie 76 Geiger 1987 [1932], S.130. Geiger wendet sich hier kritisch gegen die “These (...) der ´Verbürgerlicherung´” der “Arbeiterschaft”. Zugleich führt er aus: “So irreführend es sein mag, von einem ganz vagen und falschen Begriff der Bürgerlichkeit her den Einzug geordneter Budgetierung und Häuslichkeit in den Reihen der Arbeiterschaft als Anzeichen einer veränderten sozialen Gruppierung zu deuten (...), so richtig ist doch die Einsicht, daß aus dem Typus der Lebenshaltung keine wesentlicher Unterschied zwischen Angestellten und Arbeitern mehr gefolgert werden kann.” (Ebd.) 77 Welche konkrete Position innerhalb der Hierarchie der Burgbediensteten ihm zugedacht war, bleibt etwas unklar. Den Ausführungen von Herrn Schmidt jr. zufolge gab es einen Burghauptmann und einen Burgvogt, wobei der erstere scheinbar ranghöher war. Außerdem gab es einen Burgwart, dem Richard Schmidt unterstand. Diese Position hielt Hermann Nebe, der Autor der in Kapitel II. überlieferten Geschichte, in der Richard Schmidt die Anerkennung des Erzbischofs erhielt. 78 Die ´Wartburgstiftung´, “(...) die für die Erhaltung und Verwaltung der Burg sorgen sollte”, entstand, nachdem 1918, mit der Einführung der Republik, der Großherzog Wilhelm Ernst, der nur beschränkte Rechte an der Wartburg hatte, abgesetzt war. 1922 wurde dann der Verein ´Freunde der Wartburg´ gegründet, der Mittel einbringen sollte, weil die Wartburgstiftung die “Verwaltungskosten” allein nicht aufbringen konnte. (Vgl. Helmbold 1936, S.127) 79 Der Schloßberg ist in der Karte auf S.309 gelb markiert. 323 “sauber gemacht” hat, “(...) wollte (...) ihr ein Tafelservice schenken. Das hat se nicht angenommen”, erzählt der Sohn. “Das war ihr unmöglich. Die hatte Respekt vor solchen Werten, will ich mal sagen. (...) sie war zu bescheiden.” Emma Auguste Illert, “(...) überhaupt ´ne ganz bescheidene Frau”, war im Muster geschlechtsspezifischer Rollenteilung, die die Eheleute Schmidt praktizierten, “von der Güte her ´ne Adresse”. Sie war der “ausgleichende Pol”, bei dem sich die Verwandtschaft “ausgeheult” hat. Richard Schmidt war für den Sohn hingegen “´ne Respektadresse”. Primär auf Respektabilität, die über Kompetenz erreicht wurde, zielten auch die Strategien von Richard Schmidt. 324 VII. Richard Schmidt - Respektabilität und Gelegenheit: Habitusmetamorphosen und Antworten auf die Fragen an den konkreten Fall Daß ja wohl irgendwas dran sein müsse an den Geschichten über Richard Schmidt, hatte seine Enkelin vermutet, die ihn selbst nicht mehr kennengelernt hat.1 Ihre Annahme findet sich am Ende der Untersuchung über Bedingungen der Möglichkeit für die überlieferten Praktiken und Haltungen des Großvaters als plausible bestätigt. Die Erinnerungen der Angehörigen geben Aufschluß über seine individuellen Dispositionen, die zugleich einen “Klassenhabitus” bezeichnen. Dessen wesentlichen Merkmalen, dem relativen Mangel an ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapital, ist implizit, daß die Angehörigen dieser Klasse nicht ohne weiteres sozial anerkannt und respektiert sind. Richard Schmidt gelang es, sich eine gewisse Anerkennung zu verschaffen. Er symbolisiert einen sozialen Aufstieg; dies im Sinne eines Wechsels innerhalb der Volksklassenmilieus.2 Ausschlaggebend dafür waren bestimmte Besonderheiten in der Beziehung von Habitus und Feld. Gegenüber den Vorfahren neu war die Erfahrung erweiterter Handlungsspielräume in Eisenach. Von Richard Schmidt genutzt wurden sie auf der Grundlage von Habitusdispositionen, die auf eine Metamorphose, eine Variante der an Respektabilität und an Gelegenheiten orientierten Muster seiner Vorfahren deuten. Beides zusammen, die Geschichte der Familie und die Geschichte von Richard Schmidt, erklärt seine konkrete Aneignung des Klassenhabitus und die Bedeutung der erinnerten Geschichten seiner Nachkommen. Richard Schmidt kam aus einer Region, die als ´rückständig´ galt.3 Der sozialen Herkunft nach gehörte er zu den untersten Soziallagen, und er war ohne institutionalisiertes Kulturkapital. Es gab durchaus Raum für eigene Interessen, in diesem Fall beispielsweise die Musik. Die Möglichkeit, Musiker zu werden, gab es jedoch nicht. Die Strategien mußten auf eine Situation abgestimmt werden, die insgesamt doch nur verhältnismäßig wenig Chancen bot, persönliche Neigungen zum Kriterium für Entscheidungen zu nehmen. Die Lage erforderte flexible Anpassung und Orientierung an Notwendigkeiten. Die Sicherung des Lebensunterhalts dürfte in diesem Zusammenhang durchaus Priorität gehabt haben; darauf deuten die Handlungsvoraussetzungen von Richard Schmidt. Sie entsprachen denen seiner unterkatzer Vorfahren, der Familie Schmidt, wie auch denen der Weberfamilie Porz aus 1 Vgl. Kapitel II. 2 Vgl. auch Kapitel VIII. 3 Vgl. Abschnitt 1.4. in Kapitel IV. 325 Kaltensundheim. In beiden Familien waren Prekarität, Mobilität, Unterordnung und Anpassung langfristig inkorporierte Erfahrungen, die hier im Begriff der Gelegenheitsorientierung zusammengefaßt wurden.4 Richard Schmidt knüpfte an diese Vorfahren und ihre Möglichkeiten an. In Eisenach verhielt er sich beruflich flexibel und nutzte in untergeordneter Position verschiedene Gelegenheiten, den Lebensunterhalt zu sichern. Richard Schmidt gab sich damit allerdings nicht zufrieden. Er nahm entsprechende Erwerbsgelegenheiten wahr, war in seinen Handlungsstrategien aber nicht außengeleitet im Sinne einer auf materielle Absicherung beschränkten Motivation. Dem Selbstverständnis nach war Richard Schmidt eher daran orientiert, Fähigkeiten unter Beweis zu stellen und Kompetenzen anzueignen. Auf dieser Grundlage konnten Ansprüche an selbstbestimmte Arbeit auf der Wartburg auch teilweise eingelöst werden. Der Anspruch, seine Person und seine Leistungen anerkannt zu sehen, den Richard Schmidt auch formulierte, bevor er auf der Wartburg eingelöst wurde, mußte dem gelegenheitsorientierten Habitus seiner Vorfahren nicht widersprechen. Die Familien Schmidt und Porz waren in sozial geringgeschätzten Positionen, deshalb aber nicht ohne Ehrbegriff. Ihre Situation erforderte allerdings, Anerkennung als Motiv dauerhaft zurückzustellen. Bei Richard Schmidt rückte dieses Motiv stärker handlungsleitend in den Vordergrund. Der scheinbar “rigorose Ehrbegriff”5, der in den überlieferten Geschichten seiner Nachkommen zum Ausdruck kommt, erinnert bereits an die kaltensundheimer Schmiedevorfahren der Familie Rauch, deren Habitus und Kohäsionsmuster hier im Begriff der Respektabilitätsorientierung zusammengefaßt wurden.6 Vor allem aber das berufliche Ethos und die innengeleiteten Strategien, denen Richard Schmidt folgte, geben Anlaß zu der These, daß nach dem sozialen Abstieg der Schmiede bei ihren Nachkommen, Tobias und Mathilde Rauch, dem Großvater und der Mutter von Richard Schmidt, bestimmte Dispositionen im Habitus überdauerten, die in Eisenach, unter veränderten Handlungsvoraussetzungen, von Richard Schmidt aktiviert werden konnten. Das bedeutet nicht, daß der begrenzte soziale Aufstieg von Richard Schmidt nur unter der Voraussetzung seiner Schmiedevorfahren gelingen konnte. Ausschlag- 4 Vgl. Abschnitt 2.3. in Kapitel IV. Zur Weberfamilie Porz vgl. insbes. auch Abschnitt 2.2.2. in Kapitel IV., zur Familie Schmidt Abschnitt 2. in Kapitel V. 5 Einen “rigorosen Ehrbegriff” vermerkt Grießinger in “engem Zusammenhang” mit dem “Motiv des Arbeitsstolzes” bei den Handwerksgesellen im 18. Jahrhundert. (Grießinger 1981, S.72f) 6 Vgl. Abschnitt 2.3. in Kapitel IV. Zur Schmiedefamilie Rauch vgl. insbes. auch Abschnitt 2.1.2. in Kapitel IV. 326 gebend waren erweiterte Handlungsspielräume, auf deren Grundlage erst Chancen für soziale Gruppen entstehen, die durch prekäre Lagen und einen eher außengeleiteten Habitus bestimmt sind. Veränderungen in den Handlungsmotiven und strategien allerdings sind nicht kurzfristig erwartbar; sie benötigen Zeit, in der auch erst die Beziehung von Habitus und Feld abgestimmt werden kann. Allein auf der Grundlage von mehr als zweihundert Jahre lang inkorpierter Erfahrung von Unterordnung, Geringschätzung und Unbeständigkeit hätte sich Richard Schmidt vielleicht weniger zugetraut, wobei seine Vorfahren, für deren Lebensführung eine Orientierung an Gelegenheiten maßgeblich war, selbstverständlich auch eigensinnige Vorstellungen praktizierten und nur begrenzt zu Unterordnung bereit waren. Zu ihrem Arrangement von Neigung und Notwendigkeit allerdings, zu dem sie doch anders als privilegiertere Gruppen gefordert waren, gehörten vor allem Improvisation und Unbeständigkeit. Dazu, eine methodische Lebensführung und intrinsisch motivierte Beziehung zur Arbeit zu entwickeln, hätte Richard Schmidt auf der Grundlage eines ´rein´ gelegenheitsorientierten Habitus vielleicht doch mehr Zeit zur Aneignung benötigt. Gleichwohl bestand auch zwischen dem Handlungsfeld von Richard Schmidt und seinem Habitus ein ´Spannungsverhältnis´. Die Überlieferungen zur reparierten Maschine und zum Straßenbahnfahrer Richard Schmidt7 deuten nicht nur auf den Anspruch, anerkannt und respektiert zu werden; sie bringen mit dem Gefühl, daß dieser Anspruch nicht hinreichend eingelöst ist, auch Verunsicherung zum Ausdruck. Diese Unsicherheit läßt sich zurückführen auf veränderte Handlungsfelder; Richard Schmidt wechselte vom Dorf in die Stadt, kam in die Industrie, ging in den Krieg und wechselte später, mit einer leichten Aufwärtsbewegung und einer Veränderung in der Kapitalstruktur, auf der Wartburg das soziale Milieu. Die jeweiligen Handlungsfelder waren zunächst nicht vertraut, mußten angeeignet und mit dem Habitus, den Gewohnheiten, abgestimmt werden. Diese Verunsicherung war nicht neu in der Familie. Unter umgekehrten Vorzeichen, in einem Abstiegsprozeß, hatte es bei den Schmiedevorfahren von Richard Schmidt schon einmal einen Milieuwechsel gegeben. Ebenfalls nicht neu in der Geschichte der Familie waren die mit dem sozialen Aufstieg von Richard Schmidt verbundenen Erfahrungen von Anerkennung und Selbstbestimmung. Diese Erfahrungen waren, wie der Aufstieg, begrenzt. Richard Schmidt konnte auf der Wartburg aber doch an das Kohäsionsmuster der primär an Respektabilität orientierten Schmiedefamilie 7 Vgl. Kapitel II. 327 Rauch anknüpfen.8 Er war nicht selbständig, hatte in den Führungen auf der Burg aber Möglichkeiten, selbstbestimmt zu arbeiten. Seine Investitionen in kulturelles Kapital beförderten eine gewisse ´Unentbehrlichkeit´ und damit auch Möglichkeiten einer methodischen Lebensführung. Die Beziehungskreise von Richard Schmidt erweiterten sich; er bekam Anschluß an die ´legitime Kultur´, deren Vertreter die Wartburg besuchten. Die Anerkennung, die die Szene symbolisiert, in der Richard Schmidt vom Erzbischoff für sein Trompetenspiel ´geehrt´ wurde, zeigt zugleich, daß er nicht zum Feld der ´legitimen Kultur´ gehörte. Richard Schmidt stand zu ihr, seinen Schmiedevorfahren nicht unähnlich, in einem Dienstverhältnis; vergemeinschaftet war er anders. Von den Schmieden der Familie Rauch unterschied sich Richard Schmidt durch seine Existenzgrundlagen; materieller Besitz, wie ihn seine Eltern erwarben, stand ihm nicht zur Verfügung. Er akkumulierte kulturelles Kapital, das auch bei den Schmieden zunehmend bedeutsam geworden war. Institutionalisiert waren die Kompetenzen von Richard Schmidt allerdings nicht. Daß ihm eine berufliche Ausbildung seiner Kinder wichtig war, beruhte auf persönlichen Erfahrungen; daß Qualifikationen über Lebenschancen und Zukunftsperspektiven mit entschieden, hatte sich in der Familiengeschichte bereits zuvor erwiesen. Johann Adam Rauch hatte zwar den Schmiedeberuf erlernt, sich aber nicht zum Meister qualifiziert und damit das Ende der Schmiedetradition in der Generation des Großvaters von Richard Schmidt vorweggenommen. Richard Schmidt steht für eine Variante der gelegenheits- und der respektabilitätsorientierten Muster seiner Vorfahren. Er folgte keinen passiven Anlehnungsstrategien oder Anspruchshaltungen wie vielleicht die `Porzens´ und die Schmidts, die auf jeden Fall ohne Unterstützung der Gemeinde nicht auskamen. Richard Schmidt erwarb auch soziales Kapital auf der Wartburg. Über den Schmieden vergleichbare Möglichkeiten, Beziehungen im Feld von Kirche und Politik zu mobilisieren, verfügte er nicht. Er mußte sich den Möglichkeiten des Feldes anpassen, das sich für ihn allerdings chancenreicher als für seine Vorfahren aus den Familien Porz und Schmidt, und schließlich auch günstiger als für die Rauchs gestaltete. Richard Schmidt war nach mehr als einhundert Jahren der erste in der Familie, dessen Kompetenzen symbolisch anerkannt und dessen kulturelles Kapital nicht entwertet wurde. Seine persönliche Lebensgeschichte steht für einen sozialen Aufstieg, der im Kontext der Familiengeschichte zusätzliche Bedeutung gewinnt. 8 Vgl. die Übersicht über die Grundmuster sozialer Kohäsion und des Habitus auf S.264 und S.301 328 Die direkten Vorfahren von Richard Schmidt waren im 19. Jahrhundert alle abgestiegen. Die soziale Stellung der Familien Porz und Schmidt war auch davor schon kaum geachtet. Demgegenüber deutlicher fiel der soziale Abstieg der Schmiedefamilie Rauch aus, die im 18. Jahrhundert noch über Ansehen und Anerkennung in der Gemeinde Kaltensundheim verfügte hatte. Im Verhältnis zu den Schmieden symbolisiert die Geschichte von Richard Schmidt nicht nur einen bescheidenen Aufstieg, sondern zugleich einen begrenzten Wiederaufstieg. 329 VIII. Kontinuität und Wandel - Zusammenfassung der Ergebnisse “(...) das Leben zieht keine klaren Grenzen, sondern verspielt sich in tausend Zwischenformen.”1 Diese Bemerkung stellte Theodor Geiger in seiner Analyse zur ´sozialen Schichtung des deutschen Volkes´ der Unterscheidung von Typen bestimmter Soziallagen und Mentalitäten voran. Sie betraf nicht seine Einschätzung zur gesamtgesellschaftlichen Struktur, die deutlich hierarchisch und keineswegs konturlos war und die Aussagen über “(...) die typischen sozialen Orte” für bestimmte Mentalitätszüge ermöglichte. Geigers Bemerkung zielte auf die Vielfalt in den Übergängen zwischen benachbarten sozialen Gruppen, auf “Berührungsflächen” bei Angehörigen ähnlicher Lagen und auf damit verbundene “Zwischenformen der Mentalitäten”.2 Geigers Analyse erfolgte auf der statistischen Grundlage der Berufszählung aus dem Jahr 1925 und berücksichtigte als soziographische zugleich längere Zeiträume in der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung und ihren Auswirkungen auf verschiedene Teilgruppen. Die hier vorgelegte Untersuchung zur Familie von Richard Schmidt hatte andere Voraussetzungen und wurde in anderer Perspektive geführt; sie ging vom Einzelfall aus und hatte dessen historische Entwicklung im Blick. Ihre Möglichkeiten und Ergebnisse sind deshalb auch andere, fallen aber den zuvor von Geiger genannten Teilaspekten seiner Untersuchung ähnlich aus: Die Arbeit hatte Angehörige überwiegend unterer und prekärer sowie auch mittlerer und relativ gesicherter Soziallagen zum Gegenstand. Sie waren nicht nur nach Lage und Chancen verschieden, sondern auch in ihren Handlungsstrategien und in der Gewichtung von Handlungsmotiven. Im heutigen Sprachgebrauch war es ein Schicht- oder Klassenunterschied, der die älteren Vorfahren des Wartburgführers Richard Schmidt voneinander trennte. Die Schmiedefamilie Rauch nahm eine mittlere Klassenlage ein, die Familien Porz und Schmidt gehörten zur unteren Klasse.3 Auf der Grundlage deutlicher Differenzen, die auf den von Max Weber 1 Geiger 1987 [1932], S. 82 2 Ebd., S.81 3 Mitte und unten müssen hier als relative Positionierungen benutzt werden, da es bisher keine Explikation und Übereinstimmung über die Topik des sozialen Raums für die ländlich-gewerbliche Gesellschaft vor der Industrialisierung gibt. (Vgl. auch Abschnitt 6 in Kapitel I.) Noch Conze (1970 [1954]) kennt für die Zeit vor 1800 nur die “unterständischen” Unterschichten als Gruppen in prekären Lagen, die als Tagelöhner, Gelegenheitsarbeitskräfte, Gesinde usw. der Gruppen innerhalb der ständischen Ehre und Geltung gebraucht wurden. Conze unterschied zwischen unterbürgerlichen (städtischen) und unterbäuerlichen (ländlichen) Unterklassen. - Erst die viel später einsetzende breitere Erforschung der Protoindustrialisierung machte darauf aufmerksam, daß sich auf dem Land zwischen die bäuerlichen und die alten unterbäuerlichen Schichten eine neue gewerbliche Unterschicht schob, die zu einem nicht geringen Teil bereits zu den überörtlichen und 330 bezeichneten Ebenen des sozialen Handelns bestanden, liessen sich die Herkunftslinien von Richard Schmidt in unterschiedlichen Mustern sozialer Kohäsion und des Habitus begrifflich voneinander abgrenzen. Die Differenzen, die hier herausgearbeitet werden konnten, sind ein Ergebnis der Untersuchung. Es zeigt Möglichkeiten, die Habitustheorie und ihren, vor allem durch die stärkere Berücksichtigung der Vergemeinschaftsebene, erweiterten Ansatz auf den historischen Fall anzuwenden. Dies und insbesondere die Deutlichkeit, mit der sich die Vorfahren von Richard Schmidt analytisch unterscheiden liessen, war zu Beginn und noch über weite Strecken der Untersuchung keineswegs ohne weiteres absehbar. Das allerdings hing weniger mit der Theorie als mehr damit zusammen, daß sie bislang nicht im Rahmen einer expliziten historischen Habitusforschung angewendet wird. Überdies bestand in diesem spezifischen Fall auch zunächst die Anforderung, von der vertrauten soziologischen Perspektive und Arbeit ein stückweit abzurücken und Kenntnisse des historischen Kontextes anzueignen, um die Geschichte der Familie überhaupt erst verstehen und erklären und die Theorie in diesem Sinne am Fallbeispiel sowohl entwickeln als auch anwenden zu können. Ein zweites Ergebnis der Untersuchung knüpft an die eingangs zitierte Feststellung Geigers an. Die Arbeit hat nicht nur Distanz und Differenzen zwischen sozialen Gruppen bzw. Klassen festgestellt, sondern zugleich “Berührungsflächen” und “Zwischenformen der Mentalitäten”; so zuletzt bei Richard Schmidt, der eine Variante der respektabilitäts- und der gelegenheitsorientierten Muster seiner Vorfahren erkennen ließ. Die Schmiedefamilie Rauch gehörte nach ihrem sozialen Abstieg zur Unterklasse, hatte sich deshalb von tradierten Handlungsmotiven und -strategien aber nicht völlig gelöst. Hier zeigt sich die Möglichkeit, trotz vertikaler Positionsunterschiede verwandte Haltungen beizubehalten: Die Familie Rauch hat den erworbenen Habitus beim sozialen Abstieg in prekäre Klassenlagen mit nach unten genommen, Ausdruck des Trägheits- oder Hysteresiseffektes4 des Habitus. In dem Beispiel zeigt sich zugleich, wie Milieus, die die gleiche vertikale Position einneh- städtischen Märkten gehörte. Insgesamt bewegen und reproduzieren sich die untersuchten Familien also in einem dreistufigen Feld von Erwerbspositionen: dem immer wieder vom Abstieg bedrohten Dorfhandwerk, den von den Schwankungen externer Märkte abhängigen Hausindustrie und der prekären Situation der dörflichen Unterschicht von Tagelöhnern und Gesinde. In diesem Feld geht es um zwei Trennlinien der sozialen Sicherheit und des sozialen Ansehens. Nach oben grenzen sich alle von den besitzenden bzw. privilegierten Oberschichten der Bauern, Bürger und Staatsbediensteten ab (Trennlinie der ´Distinktion´). Nach unten geht es darum, nicht mit den extrem Deklassierten ohne eigenen bzw. festen Wohnsitz und ohne anerkannte soziale Zugehörigkeit verwechselt zu werden (Trennlinie der ´Respektabilität´). Die untersuchten Familien bewegen sich zwischen diesen Grenzlinien. Die Prinzipien, mit denen sie diese Situation zu bewältigen suchten, werden in den folgenden Schlußabschnitten noch einmal zusammenfassend dargestellt. 4 Vgl. Abschnitte 2. und 4. in Kapitel I. 331 men, sich horizontal nach ihrem Habitus differenzieren: Die abgestiegene Familie Rauch hält an den eher starren Respektabilitätsorientierungen ihrer Herkunft fest, die schon länger unten, in prekären Lagen, positionierte Familie Porz an ihrer eher flexiblen Gelegenheitsorientierung. Die Zwischenformen der Mentalitäten oder Habitusvarianten entstanden in der Beziehung zum Handlungsfeld, beispielsweise verursacht durch Umstellungsanforderungen im Erwerbsleben oder durch veränderte Soziallagen. Sie entstanden ebenfalls über die Alltagsbeziehungen und Heiraten. Trotz der Differenzen, die es bei den Vorfahren von Richard Schmidt gab, hat insbesondere diese Ebene der Vergemeinschaftungen die Übergänge zwischen nach Lage und Habitus verschiedenen Gruppen ausgewiesen. Diese Nähe ließ sich nur ansatzweise zeigen; die Untersuchung deutet in dem Zusammenhang aber auf Möglichkeiten der historischen Milieuanalyse. Hier ist im wesentlichen die soziale Mobilität festzuhalten, die die Übergänge zwischen Gruppen unterschiedlicher Soziallagen zum Ausdruck gebracht hat. Über die Rekonstruktion der Heiratskreise bei den Paten der Familie Porz ließ sich verdeutlichen, daß für Unterschichtangehörige durchaus eine Verbindung mit Angehörigen mittlerer Lagen im Feld des Möglichen liegen konnte. Daß Kleinbauern und Besitzarme häufiger zusammenkamen, hat auch Schlumbohm bestätigt. Das dritte Ergebnis der Untersuchung verweist dann auf die Grenzen sozialer Mobilität. Die Schmiedefamilie Rauch gehörte zum Beziehungsfeld der Weberfamilie Porz doch erst nach und nicht vor ihrem Abstieg. Für die Angehörigen der ´Porzens´ und der Schmidts gab es offenbar keine Chance für einen dauerhaften Aufstieg, allenfalls für vorübergehende Stabilisierung oder für einen kurzfristigen und begrenzten Aufwärtstrend wie im Fall der unterkatzer Familie Schmidt, als der Nachkomme eines Tagelöhners dann Maurermeister wurde. Ähnlich war es bei Richard Schmidt, der seine soziale Position gegenüber den Vorfahren verbessern konnte, aber weiterhin zu den Unterprivilegierten zählte. Auf der Grundlage dieser Ergebnisse relativieren sich auch Vorstellungen vom sozialen Wandel. Trotz erheblicher sozialer Veränderungen, die es im Untersuchungszeitraum gab, läßt sich kein Strukturwandel im Sinne gesellschaftlicher Umschichtungen in größerem Ausmaß erkennen; jedenfalls nicht im Umfeld der untersuchten Familie. Sie ist nur ein Fallbeispiel, aber wohl kaum eine Ausnahmeerscheinung. Zum begrenzten Strukturwandel schließlich gehört das Ergebnis, wonach es Habitusmetamorphosen, aber keinen “Umbruch der Mentalitäten” 332 (Sellin) oder gravierenden Habituswandel in der Familie gab. Veränderungen vollzogen sich in längerfristigen Prozessen, und sie standen in Beziehungen zu Vorangegangenem, die immer wieder Kontinuitäten in den Handlungsmotiven und -strategien der Angehörigen erkennen ließen. In der Familie von Richard Schmidt trafen Angehörige gleicher oder benachbarter sozialer Gruppen zusammen. Auch die Schmiedevorfahren der ´respektablen´ Volksklassen und die Linien der ´prekären´ Volksklassen waren sich durch die Nähe zueinander und durch die gemeinsame Distanz zur Oberklasse verbunden, wenngleich die Schmiede - in ihrer mittleren Position zwischen prekären und oberen sozialen Positionen - durchaus sowohl nach ´oben´ wie nach ´unten´ Anschluß hielten. In Abgrenzung zu Oberklassenmilieus und ´legitimer Kultur´ und auch zu den nach oben strebenden (klein)bürgerlichen Mittelklassenmilieus lassen sich die Angehörigen der Familie Schmidt schließlich auch gemeinsam im Spektrum der ´Volkskultur´ ansiedeln. Die Kontinuität in ihren sozialen Beziehungen und im Habitus kann am Ende zum Anlaß für Hypothesen genommen werden, in denen die Familienlinien als Vorläufer verschiedener heutiger ´Volksklassenmilieus´5 identifiziert werden: Die ´Gelegenheitsorientierung´, das Grundmuster sozialer Kohäsion in den Familien Porz und Schmidt, stimmt in vieler Hinsicht mit dem heutigen prekär situierten Unterklassenmilieu der ´Traditionslosen Arbeiter´ überein, deren Leben im ´Hier und Jetzt´ auf ähnlichen Merkmalen beruht.6 Die Gegenwartsorientierung der ´Traditionslosen Arbeiter´ hat jedoch mit der Individualisierung, deren kontroverse Diskusssion die soziologische Forschung seit den 1980er Jahren bestimmt, nichts gemein. Dieser spezifische Hedonismus ist nicht das Resultat gesteigerter Optionen und von erweiterter Teilhabe an gesellschaftlichen Öffnungen, sondern beruht auf relativer Armut, auf Mangel an ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapital, auf relativ niedrigen sozialen Standards. Es handelt sich um Bedingungen, die denen der 5 Der Begriff der “Volksklassen” wird hier in Anlehnung an den englischen und französischen Sprachgebrauch benutzt. Der Plural (´popular classes´, ´classes populaires´) verweist bereits auf innere Unterteilungen. In der deutschen Sprache fehlt der Begriff “Volksklassen”; an seiner Stelle steht der Begriff “Volk” in der Bedeutungsvariante “die große masse der bevölkerung im gegensatz zu einer oberschicht”. (Grimm 1951, S.462) Zum allgemeinen englischen Sprachgebrauch gehörte bereits um 1800 der Begriff der “armen und arbeitenden Klassen”, der die Volksklassen nach ihren Komponenten, den prekär lebenden Armen und den in geordneten Arbeitsverhältnissen Stehenden, differenzierte. 6 Der Typus wurde zuerst beschrieben in einer Auftragsstudie der Lebensweltforschung des heidelberger SINUS-Instituts. (Vgl. SPD 1984). Die Lebensweltforschung hat seine Entwicklung, auch in Ostdeutschland, weiter verfolgt. (Vgl. u.a. Becker/Becker/Ruhland 1992; Flaig/Meyer/Ueltzhöffer 1993) Zur weiteren Unterteilung und Zuordnung im sozialen Raum vgl. Vester/von Oertzen/Geiling/Hermann/Müller 1993 333 Vorfahren von Richard Schmidt vergleichbar sind, deren Gelegenheitsorientierung und Improvisation, Ausdruck eines Lebens ´von der Hand in den Mund´, unter ähnlichen materiellen Zwängen entstand. Die soziale Gruppe, der die Familien Schmidt und Porz unter den Vorfahren von Richard Schmidt angehörten, läßt sich durchaus als ein historischer Vorläufer dieses Milieus der heute Unterprivilegierten verstehen. Im Muster sozialer Kohäsion und des Habitus der Schmiedefamilie Rauch, der ´Respektabilitätsorientierung´, deutet sich eine Verwandtschaft mit den heutigen Milieus der ´Traditionellen Arbeiter´ und der ´Kleinbürgerlichen Arbeitnehmer´ an.7 Die Angehörigen dieser beiden Gruppen sind einander recht ähnlich; angesiedelt in unteren bis mittleren Soziallagen, folgen sie traditionellen Werthaltungen, zu denen, neben Bescheidenheit, vor allem Disziplin, Pflichtbewußtsein und Fleiß gehören, die in Verbindung mit einer eher skeptischen Haltung gegenüber Neuerungen praktiziert werden. Unterscheiden lassen sie beide Milieus unter anderem entlang der eher an Leistung und Solidarität orientierten Haltung der ´Traditionellen Arbeiter´ gegenüber einer eher statusorientierten Haltung im ´Kleinbürgerlichen (Arbeitnehmer-)Milieu´, die auf soziales Ansehen zielt, dabei aber nicht wirklich nach sozialem Aufstieg strebt. Wartburgführer Richard Schmidt lag vielleicht in der Schnittmenge dieser beiden durch zahlreiche “Berührungsflächen” (Geiger) verbundenen Haltungstypen. Ob er letztlich mehr am Status oder primär an der Kompetenz orientiert war, läßt sich kaum entscheiden. Aus den ´Stammbäumen´ der historischen Milieus der ´Traditioneller Arbeiter´ und der ´Kleinbürgerlichen Arbeitnehmer´ sind inzwischen, aus den jüngeren Generationen, neue Milieus entstanden.8 Deren Angehörige konnten vergleichsweise höhere soziale Positionen erreichen, blieben teilweise aber auch in unmittelbarer Nachbarschaft zum Herkunftsmilieu angesiedelt. Ähnlich verhält es sich mit dem Habitus, der sowohl neue Elemente enthält als auch an die älteren Milieus anknüpft und tradierte Haltungen auf unkonventionellere Weise praktiziert. Überwiegend lassen sich diese neuen Milieus im Stammbaum der ´Traditionellen Arbeiter´ und der ´Kleinbürgerlichen Arbeitnehmer´ den Volksklassenmilieus zurechnen, die (mit ca. 64%) nach wie vor die Mehrheit der Bevölkerung ausmachen, überschichtet von den Milieus der oberen Klassen (ca. 25%) und unterschichtet von den Milieus der ´Traditionslosen Arbeiter´ (ca. 11%). 7 Zu diesen Milieus vgl. die in der vorstehenden Anmerkung genannte Literatur 8 Vester 1998, ders. 1999 334 Mit der in aller Kürze hergestellten Verbindung zwischen der Familie von Richard Schmidt und den heutigen Volksklassenmilieus sollen Zugehörigkeiten nicht als für jahrhundertelang unabänderlich festgeschrieben werden. Dennoch erscheint die Vermutung belegbar, daß ´Traditionslose´ und ´Traditionelle Arbeiter´ wie auch die ´Kleinbürgerlichen Arbeitnehmer´ ihrer sozialen Herkunft nach einen Schwerpunkt in den sozialen Gruppen hatten, die Gegenstand der Arbeit waren. Für die Nachkommen des Wartburgführers Richard Schmidt steht eine genauere Untersuchung ihrer Muster sozialer Kohäsion und des Habitus aus. Diese Untersuchung ist beabsichtigt, unter anderem weil sie die Chance bietet, auf der Grundlage von dann etwa dreihundert Jahren Familiengeschichte eine kritische Auseinandersetzung auch mit den neueren Diskussionen um sozialen Wandel und Individualisierung zu führen. Von Ferne zumindest scheint es, daß sich die Nachkommen der Familie von Richard Schmidt bis heute genau in dem Spektrum sozialer Milieus und seiner modernisierten Varianten bewegen, zu deren mutmaßlichen historischen Vorläufern auch ihre Vorfahren gehörten. 335 Ungedruckte Quellen - - Kirchenbücher der lutherischen Gemeinde Kaltensundheim, Bd.1 - Bd.3, 1595-1934 Seelenregister Kaltensundheim 1667 Seelenregister Mittelsdorf 1667 Kirchenchronik Kaltensundheim, Auszug ab S.355 (um 1850) Kirchenbücher der lutherischen Gemeinde Unterkatz Die Pfarrei Unterkatza mit den Filialen Oberkatza und Wahns, historisch-topographisch-statistisch dargestellt von Eduard Friedrich Georgii, Pfarrer das. Kirchenbücher der evangelisch-lutherischen Gemeinde Eisenach Eisenacher Bürgerbuch 1900-1920 Kirchenbücher der evangelisch-lutherischen Gemeinde Milha Kirchenbücher der evangelischen Gemeinde Ostheim v. d. 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Jahrhundert, Stuttgart (Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beihefte, Nr. 78), S.254283 352 Anhang 353 Anhang 1 Von Webern in Kaltensundheim zwischen 1666 und 1747 geschlossene Ehen1 Jahr Zahl der Eheschliessungen davon als Weber genannt berufliche Spezialisierung 1666 8 1 Leineweber 1667 6 0 1668 5 1 1669 4 0 1670 10 1 1671 4 0 1672 6 1 1673 7 0 1674 7 1 1675 5 0 1676 4 1 1677 7 0 1678 5 0 1679 10 0 1680 10 1 Leineweber 1681 4 1 Leineweber 1682 10 0 1683 8 3 1684 7 0 1685 5 1 Leineweber 1686 11 1 Leineweber 1687 8 0 1688 4 0 Leineweber Leineweber Leineweber Leineweber “Wüllenweber von Meiningen” Leineweber 1 Die ältesten Kirchenbücher der Gemeinde Kaltensundheim gehen auf das Jahr 1595 zurück. Die nachfolgende Auflistung beginnt im Jahr 1666, weil bis dahin kaum Hinweise auf den Erwerb der Bewohner gegeben wurden. Das war auch nicht notwendig, da die Bevölkerung, wie das Seelenregister von 1667 bestätigt, noch ´selbstverständlich´ mehrheitlich vom Ackerbau lebte, teilweise in Verbindung mit einem Handwerk. Der Verbreitung von Handwerk und Gewerbe entsprach die Zunahme entsprechender Vermerke im Kirchenbuch. Die Zusammenstellung endet hier mit dem Jahr 1747. Sie wird in Anhang 2 fortgesetzt. Grund für diese Trennung ist, daß sich für die Jahre nach 1747 zunehmend Möglichkeiten bieten, auch den Erwerb der Väter und der Schwiegerväter der Weber aufzunehmen, die in Kaltensundheim heirateten. 354 Jahr Zahl der Eheschliessungen davon als Weber genannt berufliche Spezialisierung 1689 4 1 Leineweber 1690 3 0 1691 5 0 1692 7 0 1693 1 0 1694 3 0 1695 7 0 1696 3 1 Leineweber 1697 8 2 Leineweber 1698 9 2 Leineweber 1699 7 2 Leineweber 1700 4 1 Leineweber 1701 8 0 1702 5 1 Leineweber 1703 5 2 Leineweber 1704 7 2 Leineweber 1705 4 0 1706 6 2 1707 4 0 1708 6 0 1709 5 1 Leineweber 1710 6 2 Leineweber 1711 8 3 Leineweber 1712 3 0 1713 10 2 Leineweber 1714 5 1 Leineweber 1715 6 2 Leineweber 1716 5 0 1717 5 0 1718 6 0 1719 5 0 1720 9 2 1721 3 0 Leineweber Leineweber 355 Jahr Zahl der Eheschliessungen davon als Weber genannt berufliche Spezialisierung 1722 4 0 1723 4 2 1724 8 0 1725 2 0 1726 6 1 Barchentweber aus Suhla 1727 6 1 Leineweber 1728 6 0 1729 5 2 1 Leineweber 1 Barchentweber aus Mittelsdorf 1730 12 3 Leineweber 1731 2 0 1732 5 2 1733 6 0 1734 11 1 1735 3 0 1736 6 1 1737 4 0 1738 2 0 1739 11 0 1740 5 0 1741 2 0 1742 7 0 1743 2 0 1744 4 1 1745 1 0 1746 6 2 1747 2 0 insgesamt von 1666 bis 1747: 470 551 Leineweber 1 Leineweber 1 Barchentweber Leineweber Leineweber Barchentweber 1 Leineweber 1 Barchentweber 1 Bei 224 von insgesamt 470 Eheschließungen wurden für den Bräutigam im Kirchenbuch Angaben zum Erwerb gemacht. 356 Anhang 2 Von Webern in Kaltensundheim zwischen 1748 und 1834 geschlossene Ehen1 Jahr Zahl der Eheschliessungen insgesamt davon Weber insges. (a) davon Barchentweber (a) Beruf des Vaters (a) Beruf des Schwiegervaters 1748 5 3 3 1749 11 1 1 0 1750 3 0 0 0 1751 5 2 1 1 1752 8 2 2 0 1753 6 2 2 a) Schuhmacher b) 0 1754 6 2 1 Schuhmacher 1 1755 4 0 0 jeweils Leineweber (b) davon Leineweber (b) Beruf des Vaters (b) Beruf des Schwiegervaters 0 0 1 Zu den vor 1748 geschlossenen Ehen vgl. Anhang 1. Die Darstellung zielt vor allem auf die Bedeutung, die Leine- und Barchentweberei in Kaltensundheim im Verhältnis zueinander hatten. Sie endet 1834, weil in der Folgezeit Leine-, Barchent- und später auch Plüschweber im Kirchenbuch überwiegend nur noch als Weber angegeben sind. Es ist auch nicht notwendig, die Jahre nach 1834 zu erfassen. Der Vorrang der Barchentweberei wird aus der nachfolgenden Aufstellung ersichtlich. Für die Zeit seit Mitte der 1850er Jahre ist auf anderer Grundlage belegt, daß dann die Plüschweberei weit vor der Leine- und auch der Barchentweberei rangierte. - Die soziale Herkunft der Barchentweber, die in Kaltensundheim geheiratet haben, wird mit den Angaben zum Erwerb der Väter nur teilweise erfaßt, was entsprechend auch für die jeweilige Braut gilt. Notwendig wären dafür Angaben nach den Kriterien Land- und Hausbesitz. Anhand der Kirchenbücher ist nicht zu ermitteln, inwieweit die Familien ihren Unterhalt, neben dem angegebenen Handwerk oder Gewerbe, auch auf der Grundlage betriebener Landwirtschaft bestritten. Auf die Wohnverhältnisse wird in den Kirchenbüchern häufiger durch den vermerkten Inwohnerstatus hingewiesen. Ersichtlich ist aber, daß diese Angaben unvollständig sind. 357 Jahr Zahl der Eheschliessungen insgesamt davon Weber insges. (a) davon Barchentweber 1756 6 2 2 1757 1 0 0 1758 8 1 1 1759 4 2 2 1760 4 1 1761 6 1762 (a) Beruf des Vaters (a) Beruf des Schwiegervaters a) Rothgerber b) Barchentweber (b) davon Leineweber (b) Beruf des Vaters (b) Beruf des Schwiegervaters 0 0 Ölmüller 0 a) Leineweber b) Barchentweber a) Leineweber 0 1 Mühlmeister Mühlmeister und Zimmermann 0 3 2 a) Barchentweber b) Leine- und Barchentweber a) Barchentweber b) Weißgerber 1 9 5 4 a) Leineweber b) Leineweber c) Fuhrmann d) Barchentweber a) Leineweber b) Weißgerber c) d) Schneider 1 Leineweber Weißgerber 1763 4 2 0 2 a) Leineweber b) Bleicher a) b) Papiermacher 1764 5 1 1 1765 2 2 2 a) b) Weißgerber 0 a) b) Leine- und Barchentweber 0 Schwarz- und Schönfärber 358 Jahr Zahl der Eheschliessungen insgesamt davon Weber insges. (a) davon Barchentweber (a) Beruf des Vaters (a) Beruf des Schwiegervaters (b) davon Leineweber 1766 4 1 1 Ackermann Wachtmeister 0 1767 5 1 1 Zeug- und Barchentweber Barchentweber 0 1768 2 1 1 Barchentweber 0 1769 3 1 1 Messerschmied Barchentweber 0 1770 2 1 1 Schultheiß Leineweber 0 1771 5 2 1 Leineweber Fuhrmann 1 1772 4 3 3 a) Leineweber b) c) Barchentweber a) Rothgerber b) Schmied c) Schneider 0 1773 3 1 1 Leineweber Barchentweber 0 1774 4 0 0 0 1775 2 0 0 0 1776 6 2 2 a) Leineweber b) Papiermacher a) Riemensteckenm. b) 0 1777 3 2 2 a) Papiermacher b) a) Barchentweber b) Schneider 0 1778 4 2 2 a) Leine-/ Barchentw. b) Barchentweber a) Schneider b) Barchentweber 0 1779 5 1 1 (b) Beruf des Vaters Leineweber (b) Beruf des Schwiegervaters Schmied 0 359 Jahr Zahl der Eheschliessungen insgesamt davon Weber insges. (a) davon Barchentweber (a) Beruf des Vaters 1780 8 2 2 1781 4 1 1 1782 9 5 5 1783 5 0 0 1784 9 1 1 Leineweber 1785 5 3 2 a) b) Barchentweber a) Bäcker b) Riemensteckenm. 0 1786 5 1 1 Schneider Fuhrmann 0 1787 4 2 2 a) b) Weißgerber a) Gemeindebäcker b) Barchentweber 0 1788 5 3 3 a) Barchentweber b) Schneider c) a) b) c) Barchentweber 0 1789 9 4 4 a) Schneider b) Barchentweber c) d) Barchentweber a) Weißgerber b) Weißgerber c) Weißgerber d) Barchentweber 0 a) b) Barchentweber a) Schneider b) Barchentweber c) Gemeindebäcker d) Müller / Schmied e) Leineweber (a) Beruf des Schwiegervaters (b) davon Leineweber a) b) Barchentweber 0 Rothgerber und Hütemacher 0 a) Büttner b) c) Leineweber d) Schneider e) Weißgerber 0 (b) Beruf des Vaters (b) Beruf des Schwiegervaters 0 0 360 Jahr Zahl der Eheschliessungen insgesamt davon Weber insges. (a) davon Barchentweber 1790 10 6 5 a) Barchentweber b) Zeugmacher c) Barchentweber d) Barchentweber e) Barchentweber a) Barchentweber b) Schneider c) Zimmermann d) e) Barchentweber 0 1791 2 1 1 Leineweber Bäcker 0 1792 6 2 2 a) Barchentweber b) Leineweber a) b) Barchentweber 0 1793 11 6 5 a) Leineweber b) Leineweber c) Barchentweber 1 d) Maurer e) a) Rothgerber b) Wagner c) Barchentweber/ Bleicher d) Barchentweber e) a) b) a) Schneider b) Barchentweber 0 1794 6 2 2 1795 4 0 0 1796 7 4 4 1797 8 2 2 (a) Beruf des Vaters (a) Beruf des Schwiegervaters (b) davon Leineweber (b) Beruf des Vaters (b) Beruf des Schwiegervaters Schreiner 0 a) Barchentweber b) Barchentweber c) Barchentweber/ Bleicher d) Barchentweber a) Barchentweber b) Weißgerber c) a) Lohgerber b) Barchentweber a) Barchentweber b) Barchentweber 0 d) Barchentweber 0 361 Jahr Zahl der Eheschliessungen insgesamt davon Weber insges. (a) davon Barchentweber (a) Beruf des Vaters (a) Beruf des Schwiegervaters (b) davon Leineweber 1798 2 1 1 Barchentweber 1799 3 2 2 a) Barchentweber b) Barchentweber a) Schuhmacher b) Schneider 0 1800 5 2 2 a) Schneider b) Barchentweber a) Weißgerber b) Riemensteckenm. 0 1801 8 3 3 a) Schneider b) Barchentweber c) Barchentweber a) Barchentweber b) Barchentweber c) Schneider 0 1802 9 4 4 a) Metzger b) Forstbediensteter c) Rothgerber d) Rothgerber a) Weißgerber b) Schäfer c) Büchsenschäfter d) Wagner 0 1803 5 4 4 a) b) Barchentweber c) Barchentweber d) Metzger a) Barchentweber b) Barchentweber c) Barchentweber d) Schuhmacher 0 1804 6 2 2 a) Barchentweber b) Rothgerber a) Rothgerber b) Weißgerber 0 1805 4 3 3 a) b) Barchentweber c) Barchentweber a) Weißgerber b) Barchentweber c) Maurer 0 1806 1 0 0 1807 8 2 2 (b) Beruf des Vaters (b) Beruf des Schwiegervaters 0 0 a) Barchentweber b) a) Schneider b) Tüncher 0 362 Jahr Zahl der Eheschliessungen insgesamt davon Weber insges. (a) davon Barchentweber (a) Beruf des Vaters (a) Beruf des Schwiegervaters (b) davon Leineweber 1808 9 2 2 a) Barchentweber b) Barchentweber a) Barchentweber b) Barchentweber 0 1809 7 3 3 a) Barchentweber b) Barchentweber c) Barchentweber a) Barchentweber b) Wagner c) 0 1810 3 0 0 1811 7 4 3 a) Zeug-/Leine- und Barchentw. b) Ackermann c) Leineweber a) Glaser b) Weißgerber c) Barchentweber 1 1812 5 1 1 Zimmermann Schreiner 0 1813 3 3 2 a) Barchentweber b) a) Barchentweber b) 1 1814 2 2 1 Schuhmacher 1 1815 6 2 2 a) Barchentweber b) Barchentweber a) Barchentweber b) Barchentweber 0 1816 9 2 2 a) b) Tagelöhner a) Schreiner b) Gerichtsdiener 0 1817 6 4 3 a) Weber b) Ackermann c) a) Barchentweber b) Schultheiß c) Barchentweber 1 1818 3 1 1 (b) Beruf des Vaters (b) Beruf des Schwiegervaters 0 Büttner und Brauer Leineweber Leineweber Leineweber Schneider 363 Jahr Zahl der Eheschliessungen insgesamt davon Weber insges. (a) davon Barchentweber (a) Beruf des Vaters (a) Beruf des Schwiegervaters (b) davon Leineweber 1819 8 4 4 a) Barchentweber b) Barchentweber c) Barchentweber d) Barchentweber a) b) c) Wagner d) Barchentweber 1820 5 4 4 a) Barchentweber b) Barchentweber c) Barchentweber d) Barchentweber a) Barchentweber b) Schuhmacher c) Riemensteckenm. d) Schmied 0 1821 3 2 2 a) Barchentweber b) Barchentweber a) Weißgerber b) Barchentweber 0 1822 3 0 0 1823 10 5 5 a) Barchentweber b) Barchentweber c) Barchentweber d) e) Barchentweber a) Barchentweber b) Barchentweber c) Weber d) Ackermann e) Barchentweber 0 1824 4 1 1 Leineweber Barchentweber 0 1825 9 4 3 a) Barchentweber b) Barchentweber c) a) Weißgerber b) Schreiner c) Schmied 1 1826 4 3 3 a) Barchentweber b) Weißgerber c) Weißgerber a) b) Barchentweber c) Weißgerber 0 (b) Beruf des Vaters (b) Beruf des Schwiegervaters 0 Leineweber Barchentweber 364 1 Jahr Zahl der Eheschliessungen insgesamt davon Weber insges. (a) davon Barchentweber (a) Beruf des Vaters 1827 7 3 3 1828 2 0 0 0 1829 6 0 0 0 1830 5 2 2 1831 7 1 1 1832 6 3 3 1833 9 5 1834 6 insges. von 1748 bis 1834: 481 a) Barchentweber b) Ackermann c) a) Weißgerber b) Barchentweber (a) Beruf des Schwiegervaters a) Sattler b) c) Metzger (b) davon Leineweber (b) Beruf des Vaters (b) Beruf des Schwiegervaters 0 a) Barchentweber b) Barchentweber 0 Schuhmacher 0 a) Barchentweber b) Weber c) Barchentweber a) Fuhrmann b) Barchentweber c) Barchentweber 0 4 a) Barchentweber b) c) Barchentweber d) Barchentweber a) Weißgerber b) c) Chirurg d) Barchentweber 0 1 1 Barchentweber Schneider 0 1781 163 13 Zwei Weber wurden ohne eine Angabe über ihre Spezialisierung notiert. 365 Anhang 3 In den Herkunftsfamilien der Barchentweber ausgeübte Berufe, auf der Grundlage der 1748-1834 in Kaltensundheim geschlossenen Ehen1 Barchentweber Beruf des Vaters 68 Barchentweber 18 Leineweber 3 Leine- u. Barchentweber 2 unspezifisch als “Weber” verzeichnet 6 Schneider 4 Ackermann 4 Weißgerber 4 Rothgerber (Lohgerber) 2 Metzger 2 Papiermacher 1 Mühlmeister 1 Fuhrmann 1 Messerschmied 1 Müller/Schmied 1 Schultheiß 1 Zimmermann 1 Bäcker 1 Zeugmacher 1 Maurer 1 Forstbediensteter 1 Tagelöhner 1 Bei 124 der insgesamt 163 Ehen, die im genannten Zeitraum von Barchentwebern geschlossen wurden, ist der Beruf des Vaters im Kirchenbuch angegeben. (Vgl. Anhang 2, zur Begründung des Zeitraums vgl. jeweils Anmerkung 1 in Anhang 1 und Anhang 2; dazu, daß die Angaben nur begrenzt auf die soziale Herkunft der Barchentweber deuten, vgl. Anm. 1 in Anhang 2)) 366 Anhang 4 Von den Schwiegervätern der Barchentweber ausgeübte Berufe, auf der Grundlage der 1748-1834 in Kaltensundheim geschlossenen Ehen1 Barchentweber Beruf des Schwiegervaters 50 Barchentweber 4 Leineweber 1 Leine- und Barchentweber 1 unspezifisch als “Weber” verzeichnet 17 Weißgerber 12 Schneider 7 Schuhmacher 5 Rothgerber 4 Wagner 4 Riemensteckenmacher 3 Schreiner 3 Schmied 3 Fuhrmann 3 Bäcker 1 Zimmermann 1 Mühlmeister und Zimmermann 1 Metzger 1 Ackermann 1 Schultheiß 1 Glaser 1 Sattler 1 Büchsenschäfter 1 Büttner 1 Ölmüller 1 Maurer 1 Tüncher 1 Schäfer 1 Gerichtsdiener 1 Wachtmeister 1 Chirurg 1 Bei 133 der insgesamt 163 Ehen, die im genannten Zeitraum von Barchentwebern geschlossen wurden, ist der Beruf ihres Schwiegervaters im Kirchenbuch angegeben. (Vgl. Anhang 2, zur Begründung des Zeitraums vgl. die Anmerkungen zu Anhang 1 und Anhang 2; dazu, daß die Angaben nur begrenzt auf die soziale Herkunft der Ehefrauen der Barchentweber deuten, vgl. Anm. 1 in Anhang 2) 367 Anhang 5 Lokale Herkunft und Berufe der Väter der von außerhalb Kaltensundheims stammenden Weber, auf der Grundlage der 1748-1834 in Kaltensundheim geschlossenen Ehen1 Jahr der Eheschliessung berufliche Spezialisierung des Ehemannes Herkunftsort des Ehemannes bzw. Wohnort des Vaters Beruf des Vaters 1753 a) Barchentweber b) Barchentweber a) bei Tann b) Wohlmuthausen 1754 Barchentweber Wohlmuthausen 1759 Barchentweber Malmerz (?), Vater in Albrechts Barchentweber 1762 Barchentweber Heiners bei Suhl Fuhrmann 1763 Leineweber Heidersbach Bleicher 1764 Barchentweber Zella 1765 Barchentweber Oberkatz 1766 Barchentweber Kaltenlengsfeld Ackermann 1767 Barchentweber Suhla Barchentweber 1768 Barchentweber Zella 1769 Barchentweber Friedelshausen Messerschmied 1776 Barchentweber Stepfershausen Leineweber 1777 a) Barchentweber b) Leine-/Barchentweber a) Eisfeld b) Stepfershausen a) Papiermacher b) 1779 Barchentweber Klingsfeld 1780 Barchentweber Stepfershausen 1782 a) Barchentweber b) Barchentweber c) Barchentweber a) Mitterbach (?) b) Friedelshausen c) Wohlmuthausen a) Schneider b) Müller/Schmied c) Leineweber 1785 Barchentweber Mittelsdorf Barchentweber 1787 Barchentweber Aschenhausen 1788 Barchentweber Frankenheim 1790 Barchentweber Neuswarts Zeugwart 1792 Barchentweber Sülzfeld Leineweber 1 Für 35 der 178 Weber, die im genannten Zeitraum in Kaltensundheim heirateten, wurde angegeben, daß sie aus einem anderen Ort kamen. Dabei wurde in 24 Fällen auch der Beruf des Vaters im Kirchenbuch notiert. 368 Jahr der Eheschliessung berufliche Spezialisierung des Ehemannes Herkunftsort des Ehemannes bzw. Wohnort des Vaters Beruf des Vaters 1793 Leineweber Ostheim 1801 Barchentweber Mittelsdorf Schneider 1802 a) Barchentweber b) Barchentweber a) Albrechts b) Suhl a) Forstbediensteter b) Rothgerber 1803 Barchentweber Mittelsdorf Barchentweber 1811 a)/Barchentweber b) Barchentweber c) Barchentweber a) Kaltennordheim b) Mittelsdorf c) Friedelshausen a) Leine-/Barchentw. b) Ackermann c) Leineweber 1816 Barchentweber Einhausen (meiningisch) Tagelöhner 1817 Barchentweber Weilar, Vater in Frauenbreitungen Ackermann 1825 Leineweber Oberkatz Leineweber 369 Anhang 6 Von kaltensundheimer Webertöchtern zwischen 1801 und 1850 geschlossene Ehen1 Jahr insgesamt geschlossene Ehen davon Webertöchter2 Beruf des Ehemannes Heiratsalter der Frau Heiratsalter des Mannes Bemerkungen 1801 8 3 a) Schneider b) Schreiner c) Barchentweber a) 30 Jahre b) 27 Jahre c) 24 Jahre a) 46 Jahre b) c) a) vorehel. Schwangerschaft b) Ehemann Witwer 1802 9 0 1803 5 3 a) b) Barchentweber c) Barchentweber a) 31 Jahre b) 17 Jahre c) 22 Jahre a) b) 21 Jahre c) 28 Jahre a) Ehemann Witwer 1804 6 2 a) Cantor b) “Ober-Müller” a) 34 Jahre b) 17 Jahre a) b) 27 Jahre a) Ehemann geschieden 1805 4 1 Barchentweber 18 Jahre 23 Jahre 1806 1 0 1807 8 0 1 Die Zahl der Eheschließungen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und die Zahl der Webertöchter, die in diesem Zeitraum geheiratet haben, dienen vor allem dazu, Aufschluß über das Verhältnis von verheirateten und von lediggebliebenen Frauen und Webertöchtern im Dorf zu bekommen. 2 Der Beruf des Vaters der heiratenden Frauen war überwiegend angegeben, aber nicht in jedem Fall. Von daher kann die Zahl der Webertöchter, die zwischen 1801 und 1850 heirateten, etwas höher gelegen haben. 370 Jahr insgesamt geschlossene Ehen davon Webertöchter Beruf des Ehemannes Heiratsalter der Frau Heiratsalter des Mannes 1808 9 3 a) Riemensteckenm. b) Barchentweber c) Barchentweber a) b) 34 Jahre c) a) b) 34 Jahre c) 1809 7 1 Barchentweber 23 Jahre 33 Jahre 1810 3 0 1811 7 1 Barchentweber 1812 5 1 Schuhmacher 1813 3 2 a) Barchentweber b) Leineweber a) 28 Jahre b) a) 24 Jahre b) 1814 2 0 1815 6 2 a) Barchentweber b) Barchentweber a) 23 Jahre b) 23 Jahre a) 25 Jahre b) 27 Jahre 1816 9 1 Glaser 30 Jahre 24 Jahre 1817 6 3 a) Weber b) Barchentweber c) Weber a) 24 Jahre b) 20 Jahre c) 24 Jahre a) 28 Jahre b) 24 Jahre c) 24 Jahre 1818 3 0 1819 8 4 a) Sattler b) Schreiner c) Barchentweber d) Schuhmacher a) 26 Jahre b) 25 Jahre c) 26 Jahre d) a) 27 Jahre b) 28 Jahre c) 28 Jahre d) 27 Jahre 1820 5 1 Barchentweber 24 Jahre 26 Jahre Bemerkungen b) voreheliche Schwangerschaft voreheliche Schwangerschaft 371 Jahr insgesamt geschlossene Ehen davon Webertöchter Beruf des Ehemannes Heiratsalter der Frau Heiratsalter des Mannes 1821 3 1 Schuhmacher 20 Jahre 24 Jahre 1822 3 1 1823 10 7 a) Schuhmacher b) Maurer c) Schuhmacher d) Schmied e) f) g) Weber a) 34 Jahre b) 35 Jahre c) d) e) f) g) 33 Jahre a) 29 Jahre b) 25 Jahre c) d) e) f) g) 29 Jahre 1824 4 1 Barchentweber 1825 9 4 a) Schmied b) Schuhmacher c) Schuhmacher d) Leineweber 1826 4 1 Weber 22 Jahre 23 Jahre 1827 7 0 1828 2 0 1829 6 2 a) Dienstknecht a) 30 Jahre a) 33 Jahre 1830 5 4 a) Sattler b) Weber c) Weber 1831 7 1 Gutsaufseher Bemerkungen c) Ehemann Witwer a) 26 Jahre 36 Jahre 372 Jahr insgesamt geschlossene Ehen davon Webertöchter 1832 6 4 1833 9 3 a) Schneider b) Barchentweber 1834 6 2 a) Seifensieder a) 20 Jahre 1835 13 5 a) Weber b) Weber c) Weber a) 25 Jahre 1836 7 3 a) Weber b) Weber c) Schmied 1837 5 1 Weber 24 Jahre 28 Jahre 1838 7 3 a) Uhrmacher b) Weber c) Weber a) 23 Jahre b) 21 Jahre c) 27 Jahre a) 27 Jahre b) 47 Jahre c) 25 Jahre a) Maurer b) Weber a) 25 Jahre b) 21 Jahre a) 25 Jahre 1839 2 2 Beruf des Ehemannes Heiratsalter der Frau Heiratsalter des Mannes Bemerkungen a) 30 Jahre b) 24 Jahre a) Ehemann aus Ostheim b) Ehemann Witwer b) Ehemann Witwer 1840 5 2 a) Weber b) Maurer a) 30 Jahre b) 34 Jahre a) 38 Jahre b) 27 Jahre 1841 3 2 a) Weber b) Schneider a) 29 Jahre b) 32 Jahre a) 31 Jahre b) 32 Jahre 1842 4 1 Maurer 24 Jahre 27 Jahre 1843 2 0 a) Ehemann Witwer 373 Jahr insgesamt geschlossene Ehen davon Webertöchter Beruf des Ehemannes Heiratsalter der Frau Heiratsalter des Mannes Bemerkungen 1844 6 4 a) Weber b) c) Fabrikarbeiter d) Maurer/Peitschensteckenmacher a) 32 Jahre b) 23 Jahre c) 22 Jahre d) 25 Jahre a) 63 Jahre b) 33 Jahre c) 23 Jahre d) 24 Jahre a) Ehemann Witwer a) Weber b) Wagner c) Schneider d) Weber e) Weber/Ackerbauer f) Schuhmacher g) Weber h) Schreiner a) 28 Jahre b) 31 Jahre c) 28 Jahre d) 21 Jahre e) 23 Jahre f) 29 Jahre g) 18 Jahre h) 28 Jahre a) 40 Jahre b) 46 Jahre c) 23 Jahre d) 29 Jahre e) 41 Jahre f) 27 Jahre g) 29 Jahre h) 29 Jahre a) Weber b) Maurer c) Schreiner a) 23 Jahre b) 28 Jahre c) 22 Jahre a) 25 Jahre b) 26 Jahre c) 24 Jahre 1845 14 8 1846 6 0 1847 7 3 1848 3 2 a) Weber b) Weber a) 20 Jahre b) 32 Jahre a) 26 Jahre b) 44 Jahre 1849 5 1 Maurer 20 Jahre 26 Jahre 1850 10 3 a) Schreiner b) Sattler c) Schuhmacher a) 30 Jahre b) 23 Jahre c) 30 Jahre a) 29 Jahre b) 26 Jahre c) 44 Jahre insges. von 1801 bis 1850 294 c) Ehemann aus Eisenach b) Ehemann Witwer e) Ehemann Witwer b) Ehemann aus Weimar c) Ehemann Witwer 99 374 Anhang 7 Von den Ehemännern der Webertöchter ausgeübte Berufe, auf der Grundlage der 1801-1850 in Kaltensundheim geschlossenen Ehen1 Webertöchter Berufe der Ehemänner 42 Weber 1 Weber/Ackerbauer 9 Schuhmacher 6 Maurer 5 Schreiner 4 Schneider 3 Schmied 3 Sattler 1 Maurer/Peitschensteckenm. 1 Glaser 1 Müller 1 Wagner 1 Uhrmacher 1 Cantor 1 Riemensteckenmacher 1 Gutsaufseher 1 Dienstknecht 1 Seifensieder 1 Fabrikarbeiter 1 Bei 84 der insgesamt 99 Ehen, die im genannten Zeitraum von Webertöchtern geschlossen wurden, ist der Beruf ihres Ehemannes im Kirchenbuch angegeben. Im Blick auf die soziale Zugehörigkeit der Eheleute sind die Angaben nur begrenzt aussagefähig. Konkretisierungen liessen sich erst auf der Grundlage von Vermögenskriterien wie Land- oder Hausbesitz vornehmen. (Vgl. auch Anm. 1 in Anhang 2) Die Eheschließungen der Webertöchter sind vor allem von Interesse, um über die Beziehung zu den Lediggebliebenen zu Aussagen über die unverheirateten Webertöchter in der Fallstudie zu gelangen. Der nachfolgende Überblick über die Heiratsstrategien der Webertöchter ist in diesem Zusammenhang eher ein ´Nebenprodukt´, das die Übersicht über Heiratsstrategien der Barchentweber (vgl. Anhang 4) ergänzt. 375 Anhang 8 In Kaltensundheim während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts insgesamt und von Webertöchtern geschlossene Ehen Zeitraum Zahl der Eheschließungen davon Webertöchter 1801-1810 58 13 (ca. 20%) 1811-1820 54 15 (ca. 30%) 1821-1830 53 21 (ca. 40%) 1831-1840 67 26 (ca. 40%) 1841-1850 60 24 (40%) ges. 294 99 (ca. 33%) Anhang 9 Heiratsalter der kaltensundheimer Webertöchter, die zwischen 1801 und 1850 eine Ehe schlossen1 1 Alter 1801-1810 1811-1820 unter 20 Jahre 3 20-24 Jahre 3 6 25-29 Jahre 1 4 30 Jahre und älter 4 1 ges. 11 (von 14) 11 (von 15) 1821-1830 1841-1850 ges. 1 4 6 10 27 3 7 15 4 4 6 19 6 (von 21) 13 (von 26) 24 (von 24) 65 2 1831-1840 In 65 von 99 Fällen war das Heiratsalter der Braut angegeben 376 Anhang 10 Uneheliche Geburten in Kaltensundheim im Zeitraum von 1781 bis 18601 Jahr Geburten insgesamt davon unehel. Angaben zu den Vätern der Kinder Angaben zu den Müttern der Kinder 1780 16 0 1781 20 1782 2 1 Barchentweber 1 Vater Hutmacher 21 1 Barchentweber 1783 24 3 1 Schmied, 1 Weber, 1 Sohn d. Schultheiß 1784 21 0 davon 1785 23 1 13 unehelich 1786 24 1 1787 25 1 1788 19 3 1789 21 0 1790 26 1 1791 29 0 1792 30 0 Schmied spätere Heirat der Eltern x 2 Töchter des Gastwirts 1781-1790 insgesamt 224 Geburten, Witwe geb. Kinder (über 5%) 1 Schneider 1x Vater Flurknecht 1 Anhang 10 zielt primär darauf, über die Entwicklung der unehelichen Geburten Aufschluß zu erhalten. Die Angaben über Berufe der Väter der unehelichen Kinder und Herkunftsfamilien der Mütter der unehelichen Kinder sind eher ein ´Nebenprodukt´. Sie sind dem Kirchenbuch auch ohne weitere Recherchen entnommen, und von daher sehr lückenhaft. Zu den Vätern wären nähere Hinweise sehr häufig auch nicht zu erlangen, da sie oft nicht bekannt waren oder von außerhalb kamen und nur mit Namen erwähnt wurden. Bei den Müttern liessen sich die Herkunftsfamilien bzw. Berufe ihrer Väter zwar überwiegend recherchieren. Ihre Familiennamen deuten sehr häufig auf die Zugehörigkeit zu Weberfamilien. Daß ein großer Teil von Müttern unehelicher Kinder aus diesen proto-industriellen Familien kam, dokumentiert die Übersicht bereits ohne weitere Rekonstruktionen. Bei 108 Müttern unehelicher Kinder war der Beruf des Vaters angegeben; 61Frauen stammten aus Weberfamilien, elf aus Schneiderfamilien. Bei den Vätern der unehelichen Kinder gab es 111 Hinweise auf ihre Berufe bzw. Herkunftsfamilien. Davon waren 36 Väter Weber bzw. Söhne von Webern, 8 waren Schneider, 9 Schuhmacher und 14 Knechte. - Die meisten Frauen hatten nur ein uneheliches Kind, es gab aber auch einige Fälle mit drei und mehr unehelichen Geburten. Ebenfalls gab es einige unverheiratete Paare, die gemeinsam mehrere Kinder hatten. Beispielsweise hatten die 14 unehelichen Kinder von Knechten nicht alle verschiedene Väter. Ein Knecht hatte mit seiner Partnerin gemeinsam fünf Kinder. Entsprechende Fälle allerdings waren selten. 377 Jahr Geburten insgesamt davon unehel. Angaben zu den Vätern der Kinder Angaben zu den Müttern der Kinder 1793 31 3 1 Barchentweber, 1 Leineweber, 1 Zwölfersohn 1794 28 1 Vater Glaser u. Zwölfer Vater Wagner 1795 20 2 1 Gemeindebäcker 1 Vater Barchentw. 1796 26 0 1797 33 1 1798 22 0 1799 29 2 1 Knecht 1 Bettlerin 1800 31 3 2 “Curaßiere”, 1 Webersohn 2 Töchter von Barchentwebern, 1 Vater Pächter 1801 17 2 1 Schneider, 1 Landstreicher 1 Bettlerin 1802 30 1 1803 18 2 1804 18 0 1805 22 1 “Schuhknecht” 1806 13 1 “Schuhknecht” 1807 12 1 1808 21 3 1809 20 1 1810 22 3 1 Töpfergesell, 1 starb später im Zuchthaus 1 war Magd 1811 21 7 1 Schuhmacher, 1 Bäcker, 1 Weber, 1 Knecht 2 Töchter von Barchentwebern 1812 22 4 1 Leineweber 1813 15 4 1 Schuhmacher 1814 18 2 1 Schuhmacher 1815 32 10 1 Knecht, 1 “Füßelier” spätere Heirat der Eltern 1791-1800 insgesamt 279 Geburten, davon Vater Weißgerber 12 unehelich geb. Kinder (unter 5%) Vater Barchentw. 1 Weißgerbersohn, 1 Schneider 1 Vater Rothgerber, 1 Vater Barchentw. 1801-1810 insgesamt 193 Geburten, Vater Weißgerber Vater Büttner 2 Barchentweber, 1 Weißgerber 2 Töchter von Barchentwebern davon 2x 15 unehelich geb. Kinder Vater Barchentw. (unter 10%) 378 Jahr Geburten insgesamt davon unehel. Angaben zu den Vätern der Kinder Angaben zu den Müttern der Kinder 1816 24 3 1 Schreiber, 1811-1820 1817 20 8 2 Schneider, 1 Tuchscherer, 1 Bedienter, 1 Weißgerber, 1 Knecht insgesamt 224 Geburten, 1818 26 5 1 Schuhmacher, 1 Barchentweber 1 Metzger 1819 20 3 1 Leineweber 1820 26 2 1 Maurer 1821 27 4 1 Schuhmacher, 1 Bedienter, 1 Knecht, 1 Landstreicher 1822 20 4 2 Knechte 1823 16 3 1 Schneider 1824 35 3 2 Barchentweber 1825 24 3 1 Barchentweber 1 Knecht 242 Geburten, 1826 22 7 3 Knechte, 1 Metzger, 1 Maurer u. Weber davon 38 unehelich 2 Töchter von Barchentwebern spätere Heirat der Eltern davon 48 unehelich geb. Kinder (über 20%) 1821-1830 1 Vater Barchentw. 1827 35 8 2 Weber, 1 Mahlmüller 1828 19 0 1829 26 4 2 Knechte , 1 Branntweinbrenner 1830 18 2 1 Kutscher 1831 27 8 2 Weber, 1 Schmied, 1 Knecht, 1 Landstreicher 1832 22 3 1 Kutscher 1 Vater Barchentw. 1833 32 5 1 Knecht 1 Vater Barchentw. 1834 21 4 1 “Tabaksfabrikant”, 1 Weber 1 Vater Barchentw. insgesamt geb. Kinder (über 15%) 379 Jahr Geburten insgesamt davon unehel. Angaben zu den Vätern der Kinder Angaben zu den Müttern der Kinder spätere Heirat der Eltern 1835 36 4 1 Schuhmacher, 1 Webersohn, 1 Gastwirt 1 Vater Schuhmacher, 1 Vater Barchentw. 1x 1836 27 5 2 Weber 2 Webertöchter, 1 Vater Weißgerber 280 Geburten, 1837 36 4 1 Hirtensohn 1 Vater Bauer, 2 Webertöchter davon 1 Vater Schneider, 1 Vater Weber 39 unehelich geb. Kinder 1838 26 2 1839 20 2 1 Zimmermann 2 Webertöchter 1840 33 2 1 Weber/Knecht, 1 Vater Weber / Tagelöhner, 1 Vater Weber, 1 Vater Weber/Bauer 1841 30 6 1 Schneider 1 Vater Peitschenstockmacher, 1 Vater Schneider, 1 Vater Barchentw., 1 Vater Gemeindeschäfer 1842 34 5 1843 30 8 1844 23 1845 1831-1840 insgesamt (unter 15%) 1x 1 Vater Sattler, 1 Vater Schneider, 1 Vater Weber 1841-1850 insgesamt 1 Webersohn 2 Webertöchter, 2 Schneidertöchter, 2 Ackerbauertöchter 283 Geburten, 4 1 Raschmacher, 1 Weber 2 Ackerbauertöchter, 1 Vater Tagelöhner/ Weber, 1 Vater Weber 21 3 1 Tagelöhner 1846 32 3 1 Weber 1847 26 5 1848 20 4 2x davon 55 unehelich geb. Kinder (unter 20%) 1 Vater Schneider, 2 Webertöchter 1 Vater Peitschensteckenmacher, 1 Vater Weber 1 “Mühlbursche”, 1 Hirte 1 Vater Gemeindeschäfer, 2 Webertöchter 380 Jahr Geburten insgesamt davon unehel. Angaben zu den Vätern der Kinder Angaben zu den Müttern der Kinder spätere Heirat der Eltern 1849 33 5 1 Bauer, 1 Weber 1 Vater Gemeindeschäfer, 1 Vater Weber , 1 Vater Schullehrer, 1 Vater Bauer 2 1850 34 12 1851 25 3 1852 32 6 2 Webertöchter 1853 26 3 2 Webertöchter, 1 Vater Schneider 1854 20 0 1855 31 8 1 Vater Müller, 7 Webertöchter, 1 Vater Schneider 1 Schneider 2 Weber 1 Vater Bauer 3 Webertöchter, 1 Vater Bauer, 1 Vater Tagelöhner, 1 Vater Schneider 1 1851-1860 insgesamt 1856 25 5 1 Weber 2 Webertöchter, 1 Vater Schneider, 1 Vater Tagelöhner 1 291 Geburten, 1857 25 5 1 Handelsmann, 1 Weber 1 Händlerin, 1 Vater Schuhmacher, 1 Vater Weber 1 davon 54 unehelich geb. Kinder 1858 33 10 1 Schmied, 2 Weber, 1 Schuhmacher 3 Webertöchter, 1 Vater Schuhmacher, 1 Vater Weißgerber 3 (unter 20%) 1859 36 6 1 Glaser, 1 Weber 1 Vater Wagner, 1 Vater Schneider 2 1860 38 8 1 Schmied, 1 Knecht 1 Vater Schuhmacher, 1 Vater Wagner, 2 Webertöchter 1 381 Anhang 11 Kaltensundheimer Sterbefälle zwischen 1780 und 1920: Ledige Frauen, 30 Jahre und älter1 Todesjahr Geburtsjahr erreichtes Alter 3. Lebensjahrzehnt lag in der Zeit von:2 1781 1726 55 1756-1765 1786 1748 38 1768-1777 1788 1735 52 1755-1764 1788 1754 34 1774-1783 1790 1720 70 1740-1749 1793 1753 40 1773-1782 1794 1724 70 1744-1753 Erwerb Kinder3 Beruf des Vaters Bemerkungen im Kirchenbuch lediggebliebene Geschwister 1 lfd. Nr. 1 2 Begräbnis “gratis” Schmied Magd Schwester von Nr. 8 war unehelich geboren Leineweber 3 4 5 6 7 1 Mit dem Beginn des Untersuchungszeitraums werden alle in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts geborenen Frauen erfaßt, die 30jährig oder älter ledig starben. Mit dem Ende des Untersuchungszeitraums ist gewährleistet, daß alle ledigen Frauen, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hätten heiraten können, berücksichtigt werden. 2 Die Spalte dient dazu, einen Überblick über die Zeiträume zu erhalten, in denen eine Heirat der Frauen am wahrscheinlichsten gewesen wäre. Dabei wird das Alter von 20 bis 29 Jahren als wahrscheinlichstes Heiratsalter angenommen, was sich im Blick auf das Heiratsalter der Webertöchter bestätigt, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts heirateten (vgl. Anhang 9). Bei 65 von 99 dieser Frauen war das Heiratsalter angegeben. Danach heirateten etwa zwei Drittel von ihnen zwischen dem 20. und dem 29. Lebensjahr. Immerhin 19 der 65 Frauen waren zum Zeitpunkt ihrer Eheschließung allerdings auch dreißigjährig oder älter. Unter den insgesamt 93 lediggebliebenen Frauen waren 23, die im Alter zwischen 30 und 40 Jahren starben. 3 Angegeben wurden in den meisten Fällen nur die noch lebenden Kinder. Die Zahl der Mütter unter den lediggebliebenen Frauen kann entsprechend auch sehr viel höher gewesen sein. 382 Todesjahr Geburtsjahr erreichtes Alter 3. Lebensjahrzehnt lag in der Zeit von: Erwerb Kinder Beruf des Vaters Bemerkungen im Kirchenbuch 1795 1758 37 1778-1787 1799 1761 38 1781-1790 1800 1768 31 1788-1797 Leineweber 1803 1768 35 1788-1797 Rothgerber 1804 1773 31 1793-1802 Tagewächter 12 1807 1768 39 1788-1797 Barchentweber 13 1808 1752 56 1772-1781 Trompeter 14 1809 1756 52 1776-1785 1813 1766 47 1786-1795 1814 1784 30 1804-1813 1815 1751 64 1761-1770 1816 1742 74 1762-1771 Lohgerber 19 1816 1775 40 1795-1804 Barchentweber 20 Schmied lediggebliebene Geschwister Schwester von Nr. 4 stammte aus Meiningen, lebte in Kaltensundheim bei ihrem Bruder 8 9 10 “verschiedene Jahre ihres Verstandes nicht ganz mächtig gewesen” Schwester von Nr. 47 hier u. von Nr. 23 in Anhang 12 Schwester von Nr. 18 1 lfd. Nr. 11 15 Barchentweber 16 Barchentweber 17 Schwester von Nr. 15 18 383 Todesjahr Geburtsjahr erreichtes Alter 3. Lebensjahrzehnt lag in der Zeit von: Erwerb Kinder Beruf des Vaters Bemerkungen im Kirchenbuch lediggebliebene Geschwister lfd. Nr. 1818 1765 52 1785-1794 1820 1765 55 1785-1794 1822 1758 64 1778-1787 Weißgerber 1827 1792 34 1812-1821 Glaser 1827 1748 78 1768-1777 1828 1786 42 1806-1815 1832 1801 31 1821-1830 1832 1789 43 1809-1818 1 Leineweber 28 1834 1795 39 1815-1824 1 Schmied 29 1835 1787 48 1807-1816 4 Leineweber 30 1836 1792 44 1812-1821 Mahlmüller 31 1836 1800 36 1820-1829 Schreiner 32 1837 1775 62 1795-1804 Weber 33 1838 1789 49 1809-1818 Barchentweber 34 21 1 siehe unter Bemerkungen Barchentweber Schwester von Nr. 44 23 Schwester von Nr.21 in Anhang 12 2 Hüter “war arm und mußte ihr Brodt kümmerlich verdienen” 1 Schuhmacher Vater wegen Diebstahls im Zuchthaus gewesen war unehelich geboren 1 22 24 25 Schwester von Nr. 75 26 27 384 Todesjahr Geburtsjahr erreichtes Alter 3. Lebensjahrzehnt lag in der Zeit von: Erwerb Kinder Beruf des Vaters 1839 1787 52 1807-1816 Barchentweber 1842 1780 62 1800-1809 Weißgerber 1843 1765 78 1785-1794 1845 1812 33 1832-1841 1846 1791 55 1811-1820 1846 1802 44 1847 1775 1847 Bemerkungen im Kirchenbuch lediggebliebene Geschwister lfd. Nr. Schwester von Nr. 43, 50, 58 35 “25 Jahre lang von der Gemeinde ernährt” 36 “War eine arme Person, die von der Gemeinde hier beerdigt wurde”, war in Sachsen geboren 37 Weber 38 Weber 39 1822-1831 Weber 40 72 1795-1804 Weißgerber 41 1783 64 1803-1812 Weber 42 1848 1795 53 1815-1824 1848 1768 80 1788-1797 2 2 Barchentweber starb im Hirtenhaus Schwester von Nr. 35, 50, 58 43 Weber “die Witwe (...), bei der sie wohnte und starb, erbt ihr weniges Vermögen” Schwester von Nr. 22 44 385 Todesjahr Geburtsjahr erreichtes Alter 3. Lebensjahrzehnt lag in der Zeit von: Erwerb Kinder Beruf des Vaters Bemerkungen im Kirchenbuch Weber geb. in Bingen/Rhein; “die Verstorbene hatte als Magd im Auslande gedient, kam krank hierher und wurde Armuth halber in das Hirtenhaus gelegt, wo sie auch starb” 1849 1809 41 1829-1838 Magd 1850 1793 57 1813-1822 “mehrere” Weber 1851 1783 68 1803-1812 1 Rothgerber 1851 1773 78 1793-1802 1 Weber 48 1854 1785 68 1805-1814 1 Schuhmacher 49 1854 1781 72 1801-1810 1855 1794 60 1814-1823 1855 1792 63 1812-1821 1857 1795 61 1815-1824 1857 1792 65 1812-1821 Weber Tagelöhnerin lediggebliebene Geschwister lfd. Nr. 45 46 Schwester von Nr. 11 hier u. von Nr. 23 in Anhang 12 Schwester von Nr. 35, 43, 58 47 50 1 Barchentweber 51 3 Weber 52 1 Leineweber 53 Knopfmacher 54 386 Todesjahr Geburtsjahr erreichtes Alter 3. Lebensjahrzehnt lag in der Zeit von: 1860 1823 37 1861 1815 1861 Erwerb Beruf des Vaters Bemerkungen im Kirchenbuch lediggebliebene Geschwister lfd. Nr. 1843-1852 Weber “Sie war körperlich gebrechlich und geistig sehr schwach” Schwester von Nr. 88 55 45 1835-1844 Weißgerber “starb in dem Hause von (...) in Dürftigkeit und wurde auf Kosten der Gemeinde beerdigt” 1800 60 1820-1829 3 Schuhmacher 1861 1793 68 1813-1822 2 Barchentweber “starb in großer Armuth” Schwester von Nr. 35, 43, 50 58 1862 1793 69 1813-1822 Weißgerber “Sie lebte bei ihrer Pathe” Schwester von Nr. 68 hier u. von Nr. 36 in Anhang 12 59 1863 1825 38 1845-1854 Ackermann in Meiningen in Meiningen geboren 1864 1808 55 1828-1837 1864 1796 67 1816-1825 1865 1826 39 1866 1808 1866 1866 “war länger Haushälterin” Kinder 1 56 57 60 Maurer 61 1 Barchentweber 62 1846-1855 2 Barchentweber 63 65 1828-1837 1 Barchentweber 1834 31 1854-1863 3 Schneider 1819 47 1839-1848 Schwester von Nr. 82 64 “lebte in wilder Ehe” 65 war unehelich geboren 66 387 Todesjahr Geburtsjahr erreichtes Alter 3. Lebensjahrzehnt lag in der Zeit von: Erwerb Kinder 1866 1798 68 1818-1827 Tagelöhner 1871 1796 74 1816-1825 Weißgerber 1873 1791 81 1811-1820 Barchentweber 69 1875 1829 46 1849-1858 Barchentweber 70 1876 1815 61 1835-1844 1876 1811 65 1831-1840 1877 1813 63 1833-1842 1878 1811 66 1831-1840 1879 1793 86 1879 1815 1880 Tagelöhnerin Beruf des Vaters Bemerkungen im Kirchenbuch lediggebliebene Geschwister lfd. Nr. 67 Schwester von Nr. 59 hier u. von Nr. 36 in Anhang 12 68 war unehelich geboren 71 “Auszüglerin” war in Reichenhausen geboren 72 Barchentweber starb im Armenhaus 73 1 Webergeselle in Ostheim war unehelich geboren 74 1813-1822 siehe Bemerk. Schuhmacher “hinterläßt Enkel, Urenkel” 64 1835-1844 1 Schneider 1825 54 1845-1854 1880 1814 65 1834-1843 siehe Bemerk. Barchentweber 1881 1826 54 1846-1845 1 Weber 1 Schwester von Nr. 26 75 Schwester von Nr. 81 76 Schuhmacher 77 “hinterl. Kinder pp.” Schwester von Nr. 86 78 79 388 Todesjahr Geburtsjahr erreichtes Alter 3. Lebensjahrzehnt lag in der Zeit von: Erwerb Kinder Beruf des Vaters Bemerkungen im Kirchenbuch lediggebliebene Geschwister 1881 1831 49 1851-1860 1883 1817 66 1837-1846 1 Schneider Schwester von Nr. 76 81 1891 1811 80 1831-1840 3 Barchentweber Schwester von Nr. 64 82 1894 1823 70 1843-1852 Barchentweber 83 1897 1857 40 1877-1886 Sattler 84 1899 1838 61 1858-1867 Weber/Landwirt 1900 1819 80 1839-1848 Barchentweber 1905 1868 37 1888-1897 Weber/Landwirt 1908 1827 81 1847-1856 Barchentweber 1916 1824 91 1844-1853 Weber 89 1916 1835 80 1855-1864 Landwirt/Weber 90 1917 1854 62 1874-1883 Landwirt 91 1918 1883 35 1903-1912 Landwirt u. Riemer 1920 1864 56 1884-1893 Landwirt Barchentweber lfd. Nr. 80 “war fast immer leidend” 85 Schwester von Nr. 78 “jahrelange Epilepsie” 86 87 Schwester von Nr. 55 seit 15 Jahren gelähmt, stumm 88 92 Schwester von Nr. 62 in Anhang 12 93 389 Anhang 12 Von den Vätern der in Kaltensundheim lediggebliebenen Frauen und Mütter ausgeübte Berufe1 Ledige Frauen davon ledige Mütter2 Beruf des Vaters 42 20 Weber 3 Weber/Landwirt 9 1 Gerber 5 4 Schuhmacher 4 1 Landwirt3 3 3 Schneider 3 1 Schmied 1 Glaser 1 Sattler 1 Schreiner 1 Müller 1 Knopfmacher 1 Maurer 1 Trompeter 1 1 Hüter 1 Tagewächter 1 Tagelöhner 1 Die Aufstellung hat die in Anhang 11 angegebenen ledigen Frauen zur Grundlage, die zwischen 1780 und 1920 ledig, im Alter von 30 Jahren oder mehr, in Kaltensundheim starben. Die Berufe ihrer Väter waren in 79 von 93 Fällen angegeben. 2 Angegeben waren überwiegend die noch lebenden Kinder. Die Zahl der Mütter unter den ledigen Frauen kann von daher sehr viel höher gelegen haben. Notiert war bei 33 ledigen Frauen, daß sie Mütter waren. Bei 31 davon war der Beruf des Vaters angegeben. 3 Angegeben waren zwei Landwirte, ein Ackermann, ein Landwirt/Riemer 390 Anhang 13 Kaltensundheimer Sterbefälle zwischen 1780 und 1920: Ledige Männer, 30 Jahre und älter1 Todesjahr Geburtsjahr erreichtes Alter 3. Lebensjahrzehnt lag in der Zeit von:2 Erwerb Kinder Beruf des Vaters Bemerkungen im Kirchenbuch 1785 1720 65 1740-1749 1 1787 1738 49 1758-1767 2 1795 1749 46 1769-1778 3 1795 1732 63 1742-1751 4 1796 1764 32 1784-1793 Barchentweber 1797 1745 52 1765-1774 siehe Bemerkungen 1805 1750 55 1770-1779 1806 1760 46 1780-1789 Barchentweber kam von außerhalb, war “als Kost-Meier hier wohnhaft” Wagner lfd. Nr. 5 Leineweber Schuhmacher lediggebliebene Geschwister 6 7 war taubstumm 8 1 Die Feststellung der lediggebliebenen Männer dient dazu, das ´Heiratsfeld´ der lediggebliebenen Frauen näher zu erschließen. Vgl. zum Untersuchungszeitraum Anm. 1 in Anhang 11 2 Wie bei den lediggebliebenen Frauen (vgl. Anhang 11), wird angenommen, daß das ´wahrscheinlichste Heiratsalter´ der Männer zwischen 20 und 29 Jahren lag, wenngleich auch bei ihnen spätere Eheschließungen häufig waren. Zwischen dem 30. und 40. Lebensjahr starben 15 der insgesamt 66 lediggebliebenen Männer. 391 Todesjahr Geburtsjahr erreichtes Alter 3. Lebensjahrzehnt lag in der Zeit von: Erwerb Kinder Beruf des Vaters Bemerkungen im Kirchenbuch Barchentweber gestorben “an einer langwierigen KopfKranckheit, die ihm sogar des Gesichtes beraubte” lediggebliebene Geschwister lfd. Nr. 1806 1766 39 1786-1796 Barchentweber 1810 1778 31 1798-1808 Mühlmeister 10 1811 1773 38 1793-1803 “Besitzer der rot“ein Blödsinniger” hen Mühle zu Wohlmuths.” 11 1818 1787 31 1807-1817 Leineweber 12 1820 1742 78 1762-1772 Weißgerber 13 1821 1758 63 1778-1788 1828 1760 68 1780-1790 Weißgerber 15 1828 1772 56 1792-1802 Barchentweber 16 1828 1764 64 1784-1794 Barchentweber 17 1831 1785 46 1805-1815 Weber 18 1834 1771 63 1791-1800 Zimmerer “Lebte (...) von Unterstützung andrer” 19 1836 1773 63 1793-1802 Schreiner “wurde von der Gemeinde unterhalten und begraben” 20 9 14 392 Todesjahr Geburtsjahr erreichtes Alter 3. Lebensjahrzehnt lag in der Zeit von: Erwerb 1837 1800 37 1820-1829 1839 1796 43 1816-1827 Dienstknecht (in Helmershausen) 1840 1769 71 1789-1798 Rothgerber u. Tagewächter 1840 1797 43 1817-1826 1841 1811 30 1831-1840 1841 1781 60 1801-1810 1842 1766 76 1786-1795 1844 1813 30 1833-1842 1845 1787 58 1807-1816 Tagewächter 1845 1812 33 1832-1841 Schäfergehilfe 1853 1784 69 1804-1813 Kinder Beruf des Vaters Bemerkungen im Kirchenbuch lediggebliebene Geschwister lfd. Nr. Glaser “wurde auf Kosten der Gemeinde begraben, so wie er auf Kosten derselben gelebt hatte” Bruder von Nr. 24 in Anhang 11 21 “gebürtig aus Sandberg bei Gersfeld” Rothgerber Bruder von Nr. 11, 47 in Anhang 11 Metzger Bedienter bei Weimar Weißgerber 22 23 24 war unehelich geboren, gestorben “im Zuchthause zu Weimar” 25 “starb im Zuchthause zu Weimar” 26 war unehelich geboren 27 Weber 28 29 Gem.-schäfer 1 Fuhrmann 30 “lebte und starb im Gemeindehaus und wurde im Orte der Reihe nach ernährt” 31 393 Todesjahr Geburtsjahr erreichtes Alter 3. Lebensjahrzehnt lag in der Zeit von: Erwerb 1853 1793 59 1813-1822 Weber Weber 1856 1794 61 1814-1823 Zimmermann Untermüller 1856 1778 77 1798-1807 1858 1796 62 1816-1825 1860 1792 68 1812-1821 1864 1830 34 1850-1859 1864 1799 65 1819-1828 1866 1820 46 1840-1849 Dienstknecht in Kaltennordheim 1868 1793 75 1813-1822 Weißgerber Gemeindeknecht 1871 1840 30 1860-1869 Weber Schreiner 1871 1808 62 1818-1827 Weber Schmiedeges. Kinder Beruf des Vaters Bemerkungen im Kirchenbuch lediggebliebene Geschwister lfd. Nr. 32 starb im Hirtenhaus 33 starb im Gemeindehaus 34 Sattler “war körperlich und geistig schwach, lebte meist von Almosen” 35 Weißgerber “hinterläßt zwei ledige Schwestern” “mehrere” kam von außerhalb, lebte mit Partnerin und gemeinsamen Kindern Schlosser Bruder von Nr. 59, 68 in Anhang 11 36 37 38 39 starb im Gemeindehaus 40 41 42 394 Todesjahr Geburtsjahr erreichtes Alter 3. Lebensjahrzehnt lag in der Zeit von: 1872 1819 63 1839-1848 1874 1812 62 1832-1841 1875 1817 58 1837-1846 1878 1817 60 1879 1834 1881 Erwerb Kinder Beruf des Vaters Bemerkungen im Kirchenbuch lediggebliebene Geschwister lfd. Nr. Sattler in Kaltennordheim geboren, gestorben im Armenhaus in Kaltensundheim 43 Handarbeiter Leineweber stammte aus Kaltensundheim, war dort auch Handarbeiter, gestorben in Stepfershs. 44 Tagelöhner Weißgerber starb im Gemeindehaus 45 1837-1846 “Almosen-Empfänger”, starb im Armenhaus 46 45 1854-1863 war außerhalb geboren 47 1820 61 1840-1849 1882 1815 66 1835-1844 Weber 1883 1846 37 1866-1875 Weber 1883 1793 89 1813-1822 Weber 51 1884 1796 88 1816-1825 Landwirt/ Weber 52 1884 1816 68 1836-1845 Landwirt 53 1887 1848 39 1868-1877 Landwirt/ Faktor 54 48 49 1 50 395 Todesjahr Geburtsjahr erreichtes Alter 3. Lebensjahrzehnt lag in der Zeit von: Erwerb Kinder Beruf des Vaters Bemerkungen im Kirchenbuch lediggebliebene Geschwister lfd. Nr. 1891 1837 54 1857-1866 1892 1827 65 1847-1856 Weber in Kaltennordheim geboren 56 1892 1825 67 1845-1854 Tüncher in Tann geboren, gestorben im Gemeindehaus in Kaltensundheim 57 1896 1862 33 1882-1891 Weber “erhängt aufgefunden” 58 1897 1833 64 1853-1862 1905 1836 69 1856-1865 1906 1858 47 1878-1887 1908 1870 37 1890-1899 1912 1873 38 1893-1902 Weber 1914 1853 60 1873-1882 Landwirt 1917 1857 60 1877-1886 Landwirt Landwirt 1918 1863 54 1883-1892 Weber Weber 55 Landwirt/Weber Wagner 59 Weber 60 Landwirt “war die letzten 18 Jahre seines Lebens gelähmt und siech” “Militärinvalide” Weber 61 Bruder von Nr. 93 in Anhang 11 62 63 “war die Hälfte seines Lebens siech und gebrechlich” 64 65 in Mittelsdorf geboren 66 396 Anhang 14 Berufe der in Kaltensundheim lediggebliebenen Männer und ihrer Väter1 ledige Männer Väter Weber 15 9 Landwirt 52 33 Gerber 3 5 Knecht 3 1 Zimmermann 2 Schuhmacher 1 Schreiner 1 Schmied 1 Bedienter 1 Tagewächter 1 Schäfergehilfe 1 Handarbeiter 1 Tüncher 1 Tagelöhner 1 “Kostmeier” 1 Sattler 2 Wagner 1 Glaser 1 Metzger 1 Schlosser 1 Mühlenbesitzer 1 Mühlmeister 1 Untermüller 1 Fuhrmann 1 Gemeindeschäfer 1 1 Die Aufstellung hat die in Anhang 13 angegebenen ledigen Männer zur Grundlage, die zwischen 1780 und 1920 ledig, im Alter von 30 Jahren oder mehr, in Kaltensundheim starben. Die Berufe der ledigen Männer waren in 38 von 66 Fällen angegeben, die Berufe ihrer Väter in 31 Fällen. 2 Angegeben waren drei Landwirte, ein Landwirt/Weber, ein Landwirt/Faktor 3 Angegeben waren zwei Landwirte, ein Landwirt/Weber 397 Anhang 15 “Wahrscheinlichstes Heiratsalter” der in Kaltensundheim lediggebliebenen Frauen und Männer1 Zeitraum lediggebliebene Frauen im ´wahrscheinlichsten Heiratsalter´ lediggebliebene Männer im ´wahrscheinlichsten Heiratsalter´ 1740-1750 1 2 1751-1760 1 1 1761-1770 3 2 1771-1780 5 2 1781-1790 7 6 1791-1800 10 6 1801-1810 6 5 1811-1820 19 8 1821-1830 7 6 1831-1840 12 5 1841-1850 9 7 1851-1860 7 4 1861-1870 1 3 1871-1880 1 3 1881-1890 2 4 1891-1900 1 2 1901-1910 1 0 insgesamt 93 66 1 Grundlage dieser Zusammenstellung sind die zwischen 1780 und 1920 in Kaltensundheim ledig Verstorbenen, die 30 Jahre und älter wurden (vgl. Anhang 11 und 12). Als ´wahrscheinlichstes Heiratsalter´ der Frauen und Männer wurde jeweils das dritte Lebensjahrzehnt angenommen. Die nachfolgende Aufstellung ist der Versuch, Aufschluß darüber zu bekommen, in welchem Zeitraum dem Alter nach eine Heirat der Lediggebliebenen am ehesten zu vermuten gewesen wäre. Dieser Versuch bleibt eine nur ungenaue Annäherung an die realen Verhältnisse. Die Ledigen wurden jeweils einem Jahrzehnt zugeordnet, obwohl ihr drittes Lebensjahrzehnt zumeist in zwei Jahrzehnte fiel. Die Zuordnung wurde wie folgt entschieden: Lag das dritte Lebensjahrzehnt beispielsweise zwischen 1805 und 1814, wurde die Person noch dem Zeitraum von 1801-1810 zugerechnet. Begann das dritte Lebensjahrzehnt im Jahr 1806, dann wurde die Person dem Zeitraum von 1811-1820 zugeordnet. 398 Anhang 16: Wahlverwandte der Familie Porz: Eva Rosina Schmidt, Patin zu Eva Margaretha Porz, * 1760 Valentin Schreiner Kutscher Valentin Bauß * 1600 Kaltens. A .... Kaltens.  Georg Rommel A 1684 Kaltens. Ackerbauer, "Fahrer auf der Straß" Martha Grob * 1600 Kaltens. A 1664 Kaltens. Bruder: Barthel Rommel Tagelöhner in Kaltens. "ein gottloser u. versoffener Mann, lebte alle tag im Luder" 1665 Anna Schreiner * 1640 Kaltens. o–o Heinrich Bauß fritsch * 1634 Kaltens. Ackerbauer, Kühehirte, gemeiner Dorfknecht  Hanß Bauß fritsch * 1640 Kaltens. Ackerer, Kühehirte 1702 außereheliche Zwillinge Valentin Bauß * 1669 Kaltens. A 1723 Kaltens. Kühe-, Schweinehirt  Barbara Burghard aus Wüstensachsen Elisabeth Hilpert aus Mittelsdorf Pate zu einem Kind 1667: Rauch-Schmiede Heinrich Rommel A 1710 Aschenhausen Tagelöhner Anna Margaretha Bauß * .... Kaltens. A 1797 Kaltens.  Joh. Erhardt Juchheim aus Heiners/Suhl Barchentweber   Hanna Witzel * 1638 Kaltens. A 1693 Kaltens. 1687 Hanß Rommel * 1661 Kaltens. Schneider  Suanna Walter * 1660 Kaltens. A 1735 Kaltens. Heinrich Rauch * 1684 Kaltens. A 1743 Kaltens. Hufschmied 1733 Joh. Georg Schmidt * ca. 1714 Hachenburg A 1772 Kaltens. ohne Berufsangabe, Inwohner Anna Marg. Rommel * 1696 Kaltens. A 1765 Kaltens. 1762 Johann Georg Herbart Leineweber, Inwohner in Sülzfeld Bastian Walter * 1629 Kaltens. A 1708 Kaltens. Ackerbauer, Pflügemacher siehe auch Überblick III 1736 Johann Jakob Juchheim Fuhrmann in Heiners/Suhl Sohn heiratet Tochter des Schmieds Conrad (Cuntz) Rauch  Joh. Jakob Gattung kam von außerhalb A 1749 Kaltens. Gemeindebäcker Joh. Caspar Rauch * 1709 Kaltens. A 1758 Kaltens. Weißgerber 1764 Eva Rosina Schmidt * 1742 Kaltens. A 1806 Kaltens. Anna Sybilla Schmidt * 1745 Kaltens. A 1790 Kaltens.  Joh. Caspar Gattung * 1734 Kaltens. A 1788 Kaltens. Bäcker, Gemeindeknecht → 1. Ehe: A. Marg. Rauch Hanß Bauß Flurknecht 399 siehe auch Anhang 19 1792 A. Sybilla Juchh. Joh. Wolff Herbart * 1764 Kaltens. aus Sülzfeld A 1832 Kaltens. Barchentweber  Joh. Casp. Juchh. * 1766 Kaltens. A 1806 Kaltens. Barchentweber, ledig geblieben Elias Kreiß * 1748 Kaltens. A .... Barchentweber 1820 Eva Elis. Greifzu (Vater: Joh. Greifzu, Barchentweber)  1778 1783 Anna Marg. Braungart Peter Markert Anna Ottilia Porz * 1758 Kaltens. * 1763 Kaltens. * 1759 Kaltens. A 1832 Kaltens. A .... A 1808 Kaltens. Schuhmacher   1823 Joh. Martin Herbart * 1793 Kaltens. A 1879 Kaltens. im Armenhaus Barchentweber Joh. Adam Herbart * 1797 Kaltens. A 1887 Kaltens. Weber  Joh. Georg Gattung * 1766 Kaltens. Doroth. Bauß o–o 1827 Anna Elis. Kreiß * 1790 Kaltens. A 1869 Kaltens. Elis. Marg. Herbart  Christoph Markert * 1799 Kaltens. Schneider Anna Maria Gattung 1790-1795 (gest. an der Ruhr) siehe auch Anhang 19 Joh. Veit Denner Schneider in Klings Sebastian Bach Weißgerber siehe auch Überblick II 1755 Georg Wilhelm Rauch * 1732 Kaltens. A 1809 Kaltens. Rothgerber Ursula Elisabetha Rauch * 1774 Kaltens. o–o Veit Denner Weißgerber aus Klings  Anna Marg. Bach siehe auch Anhang 19 Sebastian Denner * 1758 Kaltens. Weißgerber Johannes Weigand Weißgerber 1826 Georg Wilh. Denner * 1803 Kaltens. Barchentweber  Eva Elis. Weigand "in wilder Ehe" Andreas Denner * 1832 Kaltens. A 1885 Kaltens. Handarbeiter Matthäus Denner * 1828 Kaltens. o–o sechs Kinder Ottilie Markert * 1834 Kaltens. A 1866 Kaltens. 400 Anhang 17: Wahlverwandte der Familie Porz: Johann Martin Günter, Pate zu Johann Martin Porz, * 1768 1597 Peter Marckert * .... A 1635 Kaltens. Schneider Hans Zeiß * ca. 1611 A 1685 Kaltens. "[...] dem Saufen sehr ergeben[...] etliche mahl im Turm gelegen"  Martha * 1608 A ....  Dorothea Bauß * .... A .... Hanß Bauß * .... A .... Caspar Marckert stehl * .... A 1654 Kaltens. Peter Bauß fritsch * ca. 1630 Kaltens. A .... Schuster und "wenige Äckerlein" "Papier Mühl" 2 Töchter verheiratet mit Papiermachern von außerhalb, 1 Tochter verheiratet mit einem Zeugmacher von außerhalb Christoph Zeiß Papiermacher, heiratet 1676 Tochter eines A Ackerbauern Antonius Zeiß * ca. 1643 A 1704 Kaltens. Papiermacher 1669 Anna Cath. Marckert stehl * 1649 Kaltens. A ....  Valentin Zimmermann Hufschmied in Kaltennordheim Hanß Bauß * ca. 1652 Kaltens. A .... Schuster  Catharina Eichhorn * 1659 Kaltens. A 1694 Kaltens. 1700 Ottilia Zimmermann * Kaltennordheim A 1742 Kaltens. Heinrich Mihm * ca. 1672 außerh. A 1753 Kaltens. Schmiedemstr.  Johannes Zeiß * 1708 Kaltens. A 1770 Kaltens. Papiermacher (Pate: Rauch-Schmied)  Christoph Firnhaber * ca. 1611 A ... Gemeindebäcker "wenige Äckerlein" Catharina Bauß * .... A .... 1732 Johann Sebastian Günter Bleicher in Heidersbach/Suhl Valentin Eichhorn * ca. 1632 Kaltens. A .... Ackerbauer, Fuhrmann 1679  1699 Johann Melchior Zeiß * 1673 Kaltens. A 1743 Kaltens. Papiermacher Heintz Eichhorn * .... A .... Hanß Peter Bauß * .... A .... hennebergischer Schultheiß 1711 Ottilia Mihm * 1711 Kaltens. A 1777 Kaltens. Görg Firnhaber * .... A .... Leinweber  Annaließ Bauß * .... A .... Georg Opfermann Messerschmied in Friedelshausen 401 1763 Johann Peter Sachs von außerhalb Cantor in Kaltens. Johann Martin Günter * 1738 außerhalb A 1802 Kaltens. Leine-, Barchentweber und Bleicher  1783 Christian Wilh. Sachs * 1755 Kaltens. außerhalb Cantor  Catharina Elisabetha Zeiß * 1734 Kaltens. A 1801 Kaltens. 1793 Anna Elis. Günter * 1764 Kaltens. Valentin Gottbehüt * 1767 Kaltens. A 1820 Kaltens. Fuhrmann, Inwohner  Anna Cath. Braungart * 1766 Kaltens. A 1850 Kaltens. Enkel heiratet 1780 Schmiedetochter der Familie Rauch Joh. Georg Firnhaber jun. * 1718 Kaltens. A 1797 Kaltens. Barchentweber, Zwölfer, lichtenbergischer Schultheiß 1793 Susanna Marg. Günter Nicolaus Firnhaber * 1772 Kaltens. * 1773 Kaltens. A 1812 Kaltens. A 1841 Kaltens. Barchentweber  Joh. Georg Opfermann * 1747 Friedelshausen A 1815 Kaltens. Barchentweber Valentin Firnhaber Joh. Valentin Opfermann 1783 uneheliches * 1780 Kaltens. A 1846 Kaltens. Kind mit Tochter von Möllerhenn Barchentweber siehe auch Anhang 19 1832 Joh. Georg Gottbehüt * .... A .... Weber  1823 Dorothea Firnhaber * 1810 Kaltens. A .... Georg Müller Schuhmacher Witwer  1830 Anna Elis. Firnhaber * 1797 Kaltens. A 1872 Kaltens. Eva Marg. Firnhaber * 1800 Kaltens. A ....  Joh. Tobias Opfermann * 1805 Kaltens. A .... Barchentweber Schwager von Johann Adam Rauch, Schmied und Ölhändler siehe auch Überblick I 402 Anhang 18: Wahlverwandte der Familie Porz: Johann Christoph Hauck, Pate zu Christoph Porz, * 1772 Claus Immel * .... A 1635 Kaltens. Müller  Michael Eyrich * .... A .... Susanna * .... A 1640 Kaltens. 1627 Hanß Franck * .... A 1671 Kaltens. Gerichtsknecht, gemeiner Landknecht  Katharina * .... A 1675 Kaltens. Hanß Möller Immel * 1607 A .... "gemeiner Schäfer" Caspar Möller Immel * 1600 Kaltens. A 1662 Kaltens. Blaufärber 1666 Valentin Franck * 1649 Kaltens. "säuft gern, hat doch nichts"  Peter Hausherr * 1601 außerh. A .... Zimmermann 1692  Catharina Vogt * ca. 1610 A .... Witwe "waschen, nähen, flicken" Christian Vogt * ca. 1640 A .... Metzger  Valentin Hausherr * .... A 1722 Kaltens. Landknecht in Tann  Caspar Seyfart Witwer aus Meiningen A 1715 Kaltens. Sattler  Catharina Möllerhenn * 1643 Kaltens. (vorehel.) A 1697 Kaltens. 1701 Catharina Vogt * 1668 Kaltens. A .... Dorothea Keller * 1622 Kaltens. A .... 1674 Ottilia Rauch siehe Tochter des Schmieds Überblick II Conrad (Cuntz) Rauch 1698 Catharina Gaßmann aus Sinswinden/Tann A 1741 Kaltens.  Peter Möllerhenn * 1621 Kaltens. A .... "leben (...) leidlich" vom Ackerbau 1665 Ottilia Möller Immel * ca 1640 Kaltens. Handarbeiter Peter Franck * 1671 Kaltens. A .... Landknecht in Tann  Walpurg Eyrich * .... A 1658 Kaltens. Hanß Rauch I * 1672 Kaltens. A 1757 Kaltens. Hufschmied  1697 Sus. Maria Seyfart * 1679 Kaltens. A 1756 Kaltens. Sebastian Berckeß * 1672 Kaltens. A ....  Apolonia Bauß * 1678 Kaltens. A 1721 Kaltens. 1722 Joh. Caspar Hauck Schuhmacher in Kaltennordheim Hanß Franck * ca. 1696 Sinswinden A 1742 Kaltens. Knopfmacher  Anna Catharina Hausherr * 1699 Kaltens. Heinrich Möller * .... A .... Glaser Joh. Hanß Rauch * 1703 Kaltens. A 1753 Kaltens. Hufschmied  Anna Marg. Berckeß * 1707 Kaltens. A 1757 Kaltens. 403 1752 siehe auch Überblick II siehe auch Anhang 19 Adam Hauck * ca. 1730 Kaltennordheim A 1800 Kaltens. Schuhmacher, Kramhändler (1780)  1751 Eva Margaretha Franck * 1734 Kaltens. A 1809 Kaltens. 1774 Joh. Georg Rauch I Hufschmied in Kaltennordheim A ca. 1795 Dorothea Elis. Braungart * 1751 Kaltens. A 1829 Kaltens.  Joh. Peter Möller * 1726 Kaltens. A 1781 Kaltens. Glaser, Zwölfer  Anna Barbara Rauch * 1731 Kaltens. A 1759 Kaltens. 1775 Johann Christoph Hauck * außerh. Kaltens. A .... Schuhmacher Anna Cath. Hauck * außerhalb Kaltens. A ....  1780 Joh. Cyrus Vater: Schneider und Gastwirt in Reichenhausen Anna Elisabetha Hauck * 1761 Kaltens. A 1828 Kaltens.  Joh. Peter Möller * 1753 Kaltens. A 1799 Kaltens. Glaser 1795 Johann Rauch * Kaltennordheim A ca. 1798 Kaltenn. Hufschmied  Anna Margaretha Hauck * 1775 Kaltens. Catharina Dorothea Hauck * 1780 Kaltens. Pate: aus der Familie des Bruders von Adam Hauck in Kaltennordheim zweite Ehe mit Caspar Kümpel, Metzger in Kaltennordheim 1799 Patenschaft in der Familie von Elias Kreiß und Anna Margaretha Braungart (vgl. Anhang 19) übernommen 404 Anhang 19: Wahlverwandte der Familie Porz: Anna Margaretha Braungart, Patin zu Anna Margaretha Porz, * 1772 Caspar Bach * .... A .... Valentin Greifzu * .... A .... Valten Grob * .... A .... Ackerbauer 1650 Hanß Bach * ca. 1625 Kaltens. A .... Ackerbauer  1667 Catharina Greifzu * .... A .... Sebastian Greifzu * .... A .... Rothgerber  Ottilia Grob * 1646 Kaltens. A .... Valentin Spiegel * ca. 1632 Kaltens. A .... Ackerbau 1688 Hans Braungart 1673 in Urspringen geheiratet Caspar Herbart * .... A 1709 Urspringen Hanß Eckhard Kreiß vermutlich aus Kaltennordheim A 1721 Kaltens. Caspar Braungart aegidi * 1674 Urspringen A 1739 Urspringen Hans Bach * 1660 Kaltens. A 1747 Kaltens. Weißgerber, Handschuhmacher  1691 Elisabeth Greif * .... A .... 1708  Valten Marckardt * ca. 1631 Kaltens. A .... Wagner "und wenige Gütlein" Veit Spiegel * 1665 Kaltens. A 1741 Kaltens. Wagnermstr.  Elisabeth Markert * 1666 Kaltens. A 1736 Kaltens. 1730 Martha Herbart * .... A 1745 Urspringen Johann Melchior Bach * 1705 Kaltens. A .... Weißgerber  Anna Catharina Spiegel * 1705 Kaltens. A 1778 Kaltens. 1750 Joh. Caspar Kreiß * .... A .... Leine-, Barchentw., Gemeindevorsteher Johann Georg Braungart aegidi * 1726 Urspringen A 1796 Kaltens. Barchentweber  Anna Margaretha Bach * 1731 Kaltens. A 1810 Kaltens. 405 Dorothea Elis. Braung. 1751-1829 1774  Joh. Christoph Hauck Schuhmacher Anna El. Braung. * 1772 Kaltens. A ... siehe Anhang 18 1786 Joh. Andreas Kreiß * .... A .... Barchentweber  1778 Eva Marg. Braung. Elias Kreiß Anna Marg. Braungart * 1748 Kaltens. * 1761 Kaltens. * 1758 Kaltens. Bruder des nebenstehenden Joh. Andreas Kreiß 1 Tochter blieb ledig 1 Tochter heiratete den Barchentweber Nicolaus Abe, seine Schwester blieb ledig, hatte 4 uneheliche Kinder. Ihre Patin: Ottilia Porz  1 Tochter, 1819 vorehel. schwanger, Heirat mit Sattler Joh. Kreiß 1797-1872 Barchentweber Heirat mit Tochter eines Riemensteckenmachers, vorehel. schwanger 1786 Joh. Adam Spiegel Eva Marg. Braung. * .... * 1755 Kaltens. A .... A 1832 Kaltens. Cyriac Kreiß * 1782 Kaltens. Heirat mit Tochter von Joh. Georg Rauch, Barchentweber, Vorfahren Schmiede Anna Elis. Kreiß * 1790 Kaltens. 1832 Heirat mit Joh. A. Herbart, Enkel von Eva Rosina Schmidt, 1760 Patin bei Porz, siehe Anhang 16  1797 kam Pate aus der Schäferfamilie Börner, die Mitte 19. Jhdt. verbunden war mit Familie Porz 1793 Valentin Gottbehüt * 1767 Kaltens. A 1820 Kaltens. Fuhrmann, Inwohner Johann Georg Gottbehüt Weber, 1832 Heirat mit Dorothea Firnhaber 1 Tochter heiratete in Kreiß-Familie, in der 4 Töchter ledig blieben  Anna Cath. Braungart * 1766 Kaltens. A 1850 Kaltens. außereheliches Kind mit Weißgerber Joh. Weigand (siehe auch Anhang 16), der wenige Tage darauf Vater eines weiteren unehelichen Kindes wurde siehe auch Anhang 17 406